Montag, 2. Januar 2017

Deutscher Widerspruch

Martin Ferber hat am 2.1. in der Augsburger Allgemeinen einen Leitartikel veröffentlicht mit der Frage, wie stark Deutschland wirklich sei:



Der Same Stimmungsgebräu

Martin Ferber schreibt:
"Wobei die Situation widersprüchlicher kaum sein könnte: Einerseits halten 83 Prozent der Deutschen die Wirtschaftslage in Deutschland für gut und 82 Prozent sind mit ihrer eigenen Finanzsituation zufrieden. Andererseits glauben 46 Prozent, dass sich Deutschland auf dem falschen Weg befindet, und nur noch 25 Prozent sagen, das Land entwickele sich in die richtige Richtung."
Die Forschungsgruppe Wahlen hat in ihrem Politbarometer Dezember 2016 ähnliche Ergebnisse erhoben, was die persönliche Bilanz betrifft:
"Trotz Flüchtlingskrise und Terroranschlägen sagen ähnlich wie in den Vorjahren 77 Prozent aller Befragten, dass 2016 für sie persönlich eher ein gutes Jahr war, für 20 Prozent war es ein schlechtes. Die meisten (64 Prozent) gehen davon aus, dass sich für sie im nächsten Jahr nicht so viel ändern wird, 30 Prozent erwarten, dass 2017 besser laufen wird und nur 5 Prozent meinen, dass sich die Lage für sie verschlechtern wird."
Zu wirtschaftlichen Aspekten aus dem Themenfeld Flüchtlinge sagt die Forschungsgruppe:
"Beim Thema Flüchtlinge dominiert die wirtschaftliche Dimension: So fürchten 60 Prozent, dass es wegen der Ausgaben für die Flüchtlinge zu Einsparungen in anderen Bereichen kommt (39 Prozent glauben das nicht). Auf Platz zwei folgt das Thema Kriminalität: 52 Prozent erwarten, dass es aufgrund der vielen Flüchtlinge zu einer Zunahme der Kriminalität kommt, 45 Prozent haben diese Befürchtung nicht. Dass unsere kulturellen und gesellschaftlichen Werte durch die Flüchtlinge bedroht werden, meint nur ein knappes Drittel (30 Prozent), 66 Prozent sehen das nicht so."
Die Widersprüchlichkeit fasst Martin Ferber zusammen:
"Trotz hoher Beschäftigungsquote, sicheren Jobs, steigenden Reallöhnen und niedriger Inflation hat sich ein diffuses Gebräu von Unzufriedenheit und pauschaler Ablehnung aller etablierten Parteien entwickelt, das sich aus der Kritik an der Flüchtlingspolitik und der äußerst angespannten Sicherheitslage speist."
Und wenn's gerade passt, findet sich im Gebräu Ablehnung der EU, Ablehnung des Euro, Ablehnung der Globalisierung. Die Gründe wechseln und suchen sich Wege, auf denen Schuldige leicht auszumachen sind: abgehobene Politiker, Mario Draghi, Konzerne und überhaupt Geldberge. Dabei spielt es kaum eine Rolle, wie hoch der Wahrheitsgehalt im Gebräu ist. Beispielsweise wurde auf Yougov eine Untersuchung der Politikwissenschaftlerin Annette Elisabeth Töller von der Fernuni Hagen veröffentlicht, in der der Einfluss von EU-Vorgaben auf die deutsche Gesetzgebung untersucht wurde. Das Gesamtergebnis zeigt, dass der EU-Einfluss überschätzt wird:


Im Text heißt es:
"Das DIP (Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge des Bundestags, Anm. )veröffentlicht das parlamentarische Geschehen in Bundesrat und Bundestag. 7 Prozent der Gesetze im Bereich der sozialen Sicherung, 21 Prozent der Gesetzgebung zu Steuern und öffentlichen Finanzen und 57 Prozent der Wirtschaftsgesetzgebung sind demnach von der EU beeinflusst."
Tröller macht Einschränkungen hinsichtlich der Forschungsmethode, weil sie nicht alle Einflusskanäle berücksichtigt. Dennoch kann die Untersuchung als Hinweis verstanden werden, dass wahrgenommene Zustände nicht die tatsächlichen Zustände korrekt beschreiben müssen. Hier den Begriff des Postfaktischen zu verwenden, würde zu weit gehen, weil es sich wohl eher um eine Fehleinschätzung und nicht um ein bewusstes Ausblenden von Fakten handelt.
Beim Gebräu spielt zudem eine Rolle, dass auf bestimmte Fassetten fokussiert wird, die dann möglichst scharf in das Gebräu eingerührt werden. Bei der EZB geht es immer nur um die Nullzinsen und um deutsches Steuergeld, das den unfähigen und/oder unwilligen Südländern nachgeworfen wird. Ein Beispiel liefert die AfD mit dem Titel:
"Lucke: 'Die Bundesregierung geizt bei unseren Kindern und wirft Griechenland das Geld hinterher'"
Bei den Konzernen dreht es sich um Lobbyismus und Steuerhinterziehung. Natürlich gibt es Lobbyismus, aber nicht jede politische Instanz ist von Lobbyisten gesteuert. Die AfD sieht das vorsichtiger:
"Inzwischen hat die Bundesregierung sogar, nachdem sie sich vorher lange gesträubt hatte, der Kaufprämie für Elektroautos zugestimmt. Eine Hand wäscht die andere."
Natürlich gibt es fragwürdiges Steuerverhalten. Doch oft ist es legal, nur moralisch fragwürdig, wie das politische Mühen um den Austausch von Steuerinformationen, Mindeststeuersätze etc. zeigen.

Die Saat geht auf

Martin Ferber schreibt:
"Der machtbewusste Autokrat im Kreml nutzt die Schwäche des Westens, um seine Macht weiter auszubauen. Mehr noch, seine teilweise verdeckte, teilweise offene Unterstützung der rechtspopulistischen Bewegungen führt dazu, dass diese sein Spiel mitspielen und die Axt an die liberalen Grundwerte anlegen und die Länder Europas zurück in die eigentlich längst überwunden geglaubte Zeit der Kleinstaaterei und der politischen wie ökonomischen Jeder-gegen-jeden-Kirchturmpolitik führen, in der es nur Verlierer geben kann."
Wie lieb manche Putin haben, zeigt die AfD:
"Statt deutsche Soldaten nach Litauen zu senden, sollte die Bundesregierung den Dialog auf allen Ebenen mit Putin suchen. Wir brauchen Russland als Partner in der Wirtschaft und in der Sicherheit. Nicht als permanenten Gegner."
Richtig, ein partnerschaftliches Miteinander Europas und Russlands wäre gut. Nur ist Putin, der "machtbewusste Autokrat im Kreml", ein Träumer über die Größe der Sowjetunion, die er wieder herstellen möchte. Deshalb ist Vorsicht angebracht. Nicht nur die Rechtspopulisten finden ganz toll, was Putin macht. Am linken Skalenende meint Sahra Wagenknecht:
"Ich habe mehr Angst vor Trump als vor Putin"
Auch wenn Trump unberechenbar ist, glaube ich nicht, dass er schneller die Waffe zieht als Putin, der Teile der Ukraine militärisch besetzen lässt, weil zu seinen Sowjetträumen auch die Krim gehört. Sogar manche Proponenten etablierter Parteien zeigen große Nähe zu Putin, beispielsweise Seehofer.
In der Innenpolitik wird die klare Kante gefordert. Gegenüber Despoten offenbar nicht: lieber vom russischen Bären betanzen lassen als ihm ordentlich auf die Pfoten zu steigen. Aus Antiamerikanismus orientieren sich manche Orientierungslosen nach Osten und glauben, dort ginge die Sonne auf über ein besseres Leben, ein besseres Deutschland. Martin Ferber bezeichnet es als "Kleinstaaterei", als "Jeder-gegen-jeden-Kirchturmpolitik", was die Populisten als Rettung sehen aus ihrem selbstgerührten Gebräu. Es ist eine Überlegung wert, ob die Abwesenheit von Krieg in Mittel- und Westeuropa nicht erst möglich wurde, als die Kleinstaaterei überwunden wurde. Es ist eine Überlegung wert, ob nicht der wirtschaftliche Erfolg Deutschlands vor allem am Export hängt und deshalb ein Miteinander essentiell ist. Diejenigen, die sich auf ihre angeblich berechtigten Ängste und Sorgen berufen und behaupten, die Politik würde die Sorgen nicht ernst nehmen, sollten sich fragen, wofür sie ernst genommen werden wollen. Walter Roller malte die "Überfremdung" an die Wand, wahlweise auch unbegrenzte Zuwanderung. Nach Silvester 2015 war es die Angst vor massenhafter Vergewaltigung. Diese Angst wurde abgelöst durch die Terrorangst. Es gibt Terror, es gibt Vergewaltigungen. Deswegen steht dennoch nicht der Untergang des Abendlandes an. Wer sich davor fürchtet, sollte Hilfe aufsuchen, wie ich bereits im Juni 2016 empfahl.
Aus dem Gebräu entsteht ein Geblubber, bei dem AfD und teilweise CSU lautsprechen und den Eindruck erwecken, sie hätten die Weisheit mit Löffeln gefressen, sie hätten als einzige noch den Durchblick. Sie sollten sich das Gebräu aus den Augen wischen, damit sie klarer sehen. Damit sie sehen, wie weit Sorgen berechtigt und ab wann übertrieben sind. Damit sie sehen, auf welchen falschen Annahmen ihre "Lösungen" beruhen. Damit sie sehen, welche Werte sie verraten, wenn sie die "Lösungen" fordern, die sie fordern. Der Aufruf geht vor allem an die Wähler, die heuer einen Wahlkampf über sich ergehen lassen müssen, vor dem es einen nur grausen kann: Mitte Dezember 2016 wurde die Sau "Doppelpass" durch's Dorf getrieben, später dann Härte gegen den Terror. Das wird ein Wahlkampf, wo der "Wind of Fear" jeden Tag aus einer anderen Richtung kommen kann und das Wahlvolk geflissentlich mitflattert. Der Politikbetrieb ist derzeit so angstfixiert, dass er auch flattert und andere Themen es kaum auf die Bühne schaffen, obwohl es sie zahlreich gibt abseits der Flüchtlinge und des Terrors. Und - wie die Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen oben zeigt - zwei Drittel der Bevölkerung die Flüchtlinge nicht als Bedrohung für unsere Werte sehen. Es wäre gut, die zwei Drittel würden Gehör finden im Politgeschäft: Hört auf die leiseren Töne.
Deshalb nochmals der Appell an die Wähler, sich nicht von einem Haufen besorgter Wutbürger treiben zu lassen, sich nicht jeden Blödsinn aufschwatzen zu lassen, weder in der Problem- noch in der Lösungsdarstellung. Die Populisten sind die Sirenen, die in das Verderben führen. Populismus ist nicht der Untergang Deutschlands, Deutschland vielleicht stärker gegen Rechts gewappnet als manch anderes Land in Europa. Immun ist es nicht und Martin Ferber warnt richtig:
"Und so könnte es zu der fatalen Situation kommen, dass ausgerechnet jene, die behaupten, Deutschland wieder stärker zu machen, es so beschädigen, dass es am Ende des Jahres schwächer dasteht als zu Beginn."
Die Beschädigung wäre innen- wie außenpolitisch enorm. Gewesen sein will's dann niemand, wie die Tauchgänge der Brexit-Populisten nach dem Votum zeigen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen