Sonntag, 15. Januar 2017

Idiotische Ideologisierung

Wolfgang Schütz hat in der Augsburger Allgemeinen vom 14.1. einen Artikel veröffentlicht, in dem er Gefahren für die Demokratie als mögliche Konsequenzen der Globalisierung aufzeigt:


Wolfgang Schütz leitet ein mit einem Hinweis auf George Soros:
"Vor 1989 sei der Kommunismus der größte Feind der offenen Gesellschaft gewesen; jetzt aber sei es der Kapitalismus. Die entfesselten Kräfte des Marktes sorgen für immer mehr Ungleichheit und unterwanderten so die Grundpfeiler der Gerechtigkeit und des sozialen Friedens - also der Demokratie."
Dem stellt Wolfgang Schütz ein Zitat entgegen:
"'Was für ein erstaunlicher Irrtum!', hat denn 1997 auch schon der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf auf George Soros erwidert: 'Der Witz der offenen Gesellschaft liegt ja gerade darin, dass sie viele Wege erlaubt, auf viele Kapitalismen.' Eben auf diese Vielfalt und deren sinnvolle Gestaltung käme es in Zukunft an statt auf entsprechende Feindbilder - die nämlich begründeten nur Angstszenarien und geschlossene Gesellschaften."
Als Beleg für die Gefahr, in der die Demokratie sei, verweist Wolfgang Schütz auf eine Umfrage:
"Eine aktuelle,  kürzlich in der New York Times veröffentlichte weltweite Umfrage zeigt zudem, wie die Wertschätzung der Demokratie auf breiter Front abstürzt. Und zwar nach Alter, also in die Zukunft gerichtet. Etwa in den USA, Australien oder England erachten es noch rund zwei Drittel der in den 1930er Jahren geborenen Menschen als entscheidend, in einer Demokratie zu leben . bis zu den in den 80ern Geborenen fällt der Wert in die Nähe von 25 Prozent! In Europa stürzen die Kurven (noch?) flacher. Aber die Tendenz scheint die gleiche: Die kapitalistischen Staatsmodelle fußen auf den Werten Wirtschaftswachstum, sozialer Zusammenhalt und Demokratie - wenn die Stabilität nur auf Kosten von einem der dreien erhalten werden kann, dann am liebsten dem der Demokratie. Ein Alarmsignal vielleicht. Aber was tun?"
Als Antwort bringt Wolfgang Schütz den Vorschlag:
"George Soros ist an der Seite von Prominenten wie dem Politiker Al Gore und dem Theologen Hans Kling Initiator eines neuen, globalen 'Marshall Plans', der für die Rahmenbedingungen einer 'Ökosozialen Marktwirtschaft' weltweit kämpft - für Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit."
Wolfgang Schütz schließt seinen Artikel mit dem Hinweis auf ideologische Überformung von Begriffen:
"Denn ausgerechnet das freiheitliche Denken ist in den Nullerjahren als Neoliberalismus zum verpönten Inbegriff des Casino-Kapitalismus geworden und in den heutigen Debatten als Linksliberalismus zum Inbegriff antinationalen Gutmenschentums geworden. Diese Ideologisierung spricht wohl Bände über das prekäre deutsche Verhältnis zur Freiheit und zur Vielfalt des Kapitalismus."
Wolfgang Schütz greift Aspekte auf, die ich für sehr bedenkenswert halte und denen ich ein paar weitere Gedanken zur Seite stelle.
Der Kapitalismus als Wirtschaftsform beschreibt in seiner Grundidee lediglich, dass Produktionsmittel in privater Hand liegen und der Markt Angebot und Nachfrage regelt. Es gibt demnach keine staatlichen Direktiven, wer was zu produzieren oder zu konsumieren hat. Man kann den Erfolg kapitalistischer Modelle gegenüber sozialistischen als Beweis für die gesellschaftliche Leistungsfähigkeit des Kapitalismus sehen. Durch das Privateigentum an Produktionsmitteln war es beispielsweise für Henry Ford sinnvoll, sich um eine effizientere Fertigung zu kümmern, was zur Fließbandfertigung führte. Es war durch den Zusammenhang zwischen Nachfrage und Angebot sinnvoll, seinen Arbeitern solche Löhne zu zahlen, dass sie sich die Produkte von Ford selbst leisten konnten.
Der Kapitalismus ist jedoch anfällig für das, was ihn als Casino-Kapitalismus berechtigt in die Kritik brachte: Durch geschickten Agieren an Märkten ist es einzelnen Personen oder Gruppen möglich, Vorteile für sich zu generieren. Bleibt dabei die Rücksicht auf andere Personen und Gruppen auf der Strecke, ist das die Rücksichtslosigkeit, die mit dem Begriff Neoliberalismus zu einem plakativen Namen gefunden hat.
Der Liberalismus beschreibt eine Ordnung, in der das Individuum frei ist von staatlicher Gewalt und nicht dem Missbrauch von Macht und Herrschaft ausgesetzt ist. Zusammen mit dem Kapitalismus beschreibt er die heutige Grundstruktur vieler Gesellschaften und Staaten.
Kapitalismus und Liberalismus werden nur dauerhaft funktionieren, wenn die Vorteile und Nachteile einigermaßen gerecht verteilt werden. Gerecht muss nicht gleich heißen. Doch bereits hier tun sich erste Bruchlinien auf, wie an Beispielen gezeigt werden kann: Verkehrsminister Dobrindt argumentiert für seine Pkw-Maut, eine Gleichbehandlung ausländischer Autofahrer wäre gerecht. Höhere Steuern für Reiche werden als gerecht bezeichnet, weil sie leistungsfähiger seien als Normalverdiener und sie durch höhere Steuern eine Art gleichen Schmerz verspüren würden. Chancengleichheit in der Ausbildung wird ebenfalls als gerecht empfunden. Diese Beispiele zeigen, dass oft die Gerechtigkeit an einer Gleichheit festgemacht wird. Die Gleichheit als Gerechtigkeit kann konstruiert daher kommen, wenn beispielsweise Kosten für Flüchtlingsheime in Anzahl neuer Polizisten oder Lehrer dargestellt werden.
Eine Ungleichheit steht schnell im Verdacht, ungerecht zu sein. Liberalismus und Kapitalismus sind Ordnungsformen, bei dem Einzelne durch besondere Fähigkeiten besondere Resultate erzielen können. Die besonderen Resultate werden als gerecht empfunden, wenn die besonderen Talente als Entschuldigung, als Exkulpation dienen können: selbst erarbeiteter Reichtum ist gerechter als ererbter.
In der sozialen Marktwirtschaft europäischer Prägung wird dem Staat eine gerechtigkeitsstiftende Rolle zugeschrieben. Er soll durch Rahmen dafür sorgen, dass besondere Talente nicht auf Kosten der Allgemeinheit über Gebühr besondere Resultate erzielen können. Diese Rolle ist unscharf definiert, die zugehörige Gerechtigkeit nicht klar. Die Unschärfe eröffnet eine Bühne, auf der politische Angebote gemacht werden können: Die Partei Die Linke macht andere Parteiprogramme und Lösungsvorschläge als die AfD, die Grünen andere als die SPD und diese andere als die CDU. Diese politische Bühne ist eine Grundlage für Demokratie, weil sich nur so politische Meinungen bilden lassen und Wähler eine Auswahl haben. Bereits das Zwei-Parteien-System in den USA wird aus europäischer Perspektive fragwürdig, Ein-Parteien-Systeme als undemokratisch empfunden.
Die Rolle des Staates als Instanz der Gerechtigkeit kommt an Grenzen, wenn Vorgänge außerhalb seiner Reichweite an der Gerechtigkeit rütteln. Die Globalisierung ist charakterisiert durch vielfältige internationale Zusammenhänge, bei denen viele nicht direkt beeinflusst werden können von einem Staat: Kein Staat kann Fortschritte in der Computertechnologie verbieten, ein Verbot von Im- und Exporten ist undenkbar in einem liberalen und kapitalistischen Land. Kein Staat kann einem anderen Staat verbieten, aus seinen besonderen Talenten wie billigen Arbeitskräften, Rohstoffen etc. besondere Resultate, einen wirtschaftlichen Aufstieg zu generieren. Im Gegenteil: der Aufstieg wird als Lösung vielfältiger Probleme gesehen, er bekämpft Armut, Hunger, zum Teil Kriege, Flucht.
Vorteile des Einen können jedoch Nachteile eines Anderen bedeuten. Wenn eine Pizzeria Pleite geht, weil in unmittelbarer Nähe eine bessere eröffnet hat, wird das kaum Anlass für eine Kapitalismuskritik sein. Wenn in einem Land Arbeitsplätze entstehen und in einem anderen wegfallen, ist das Globalisierung und Ziel heftiger Kritik. Länderübergreifend ist staatliches Handeln begrenzt. Dafür wird ein Schuldiger gesucht. Dann werden tatsächliche Defizite im Gerechtigkeitshandeln des Staates mit tatsächlichen Grenzen des Handelns vermengt. Als Schuldige sind Politiker und Eliten rasch ausgemacht, Fehlverhalten einzelner generalisiert auf die gesamte Gruppe. Die Kritik an der Gruppe generalisiert auf das System, für das die Gruppe als repräsentativ angesehen wird. So wird aus dem unsolidarischen und kriminellen Verhalten einzelner Wirtschaftsführer eine Kritik eine Kapitalismus. So wird aus dem Verhalten einzelner Politiker eine Kritik an Politik und eskaliert zu einer Kritik am demokratischen System. Der Starke Mann soll's richten und natürlich ist er gegen Fehlverhalten gefeit, der Starke Mann ist gerecht.
Begriffe saugen Bedeutungen auf, die ihnen ursprünglich nicht gehörten. Ideologien entstehen und stehen sich unversöhnlich gegenüber. Plakative Vokabeln werden zum Bollwerk. Wolfgang Schütz nennt als Lösung die Vokabel Ökosoziale Marktwirtschaft. Sie soll durch Nachhaltigkeit zu mehr Gerechtigkeit führen. Ja, mehr Rücksicht auf ökologische und soziale Belange ist notwendig. Ohne Zweifel muss unser Handeln mehr Rücksicht nehmen auf Nebenwirkungen. Es darf sich nicht nur nach den (beabsichtigten) Wirkungen richten.
Wir müssen ehrlich sein in unseren Analysen und Vorschlägen. Wir können nicht gegen die Globalisierung sein, weil Arbeitsplätze in der Textilindustrie wegfallen und gleichzeitig in Asien gefertigte Billig-T-Shirts kaufen. Wir können nicht den Rückzug ins Nationale fordern und uns gleichzeitig beschweren, dass internationale Konzerne konkurrierende Steuergesetze in verschiedenen Ländern zum eigenen Vorteil nutzen. Wir können nicht auf die Demokratie schimpfen, dabei Politiker meinen und dann Wahlen und anderen Mitwirkungsmöglichkeiten fernbleiben. Wir können uns nicht in einer Ideologie eingraben und die Augen verschließen vor der Wirklichkeit. Wir müssen uns ernsthaft fragen, was berechtigte Kritik an Realsystemen ist und wo die Kritik als Konzeptkritik überschießt. Oder wie Wolfgang Schütz es sagt:
"Diese Ideologisierung spricht wohl Bände über das prekäre deutsche Verhältnis zur Freiheit und zur Vielfalt des Kapitalismus."

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen