Dienstag, 27. Dezember 2016

Rudi Wais' Lehrmeisterei

Rudi Wais hat in der Augsburger Allgemeinen vom 27.12. einen Leitartikel veröffentlicht zu dem, was die Kanzlerin von einem früheren Kanzler lernen könne:


Rudi Wais schreibt ein Lehrstück für Angela Merkel. Das Lehrstück bedarf genauerer Betrachtung.

Beschreibung des Lehrstücks

Rudi Wais beschreibt:
"Die Zahl der Toten ist zu groß, um einfach zur Tagesordnung zurückzukehren, das Versagen von Behörden und Diensten zu offensichtlich, um es gerade noch so zu tolerieren. Ein einschlägig bekannter Islamist, der bereits in Haft saß und wieder freigelassen wurde, ein Mann, über den es seitenlange Dossiers gibt, der aber kreuz und quer durchs Land reist und nach einem verheerenden Anschlag ungehindert fliehen kann, weil die Polizei das Tatfahrzeug erst mit einem Tag Verspätung durchsucht: Minister sind schon aus nichtigeren Gründen zurückgetreten."
Neben einem Überblick über die Tat und die Polizeiarbeit bietet Rudi Wais eine Einordnung der politischen Konsequenzen. Er hält sie für so schwerwiegend, dass ein Ministerrücktritt denkbar sei. Er stellt in seinen weiteren Ausführungen dar, was das für den Staat bedeuten kann:
"Neben dem Freiheitsversprechen ist der Schutz eben jener Freiheit eines der konstitutiven Elemente des demokratischen Staates, in dem Moment jedoch, in dem das Vertrauen seiner Bürger in die innere Sicherheit erodiert, in den Schutz von Grenzen, in die Arbeit der Polizei und der Geheimdienste oder in die Politik ganz allgemein, bekommt auch die populärste Kanzlerin ein Problem."
Dann hat nicht nur die "populärste Kanzlerin" ein Problem. Denn eine solch weitreichender Vertrauensverlust bedroht das Staatsgefüge insgesamt. Aber es ist nicht so, dass der deutsche Staat auf allen Gebieten wie innere Sicherheit, Grenzschutz, Polizei, Geheimdienste und Politik komplett versagen würde. Einzelne Vorkommnisse, die durchaus Beispiele für eklatantes Versagen abgeben, werden als Zeichen eines generellen Versagens etabliert. Diese Beispiele generalisieren derart, dass dem Staat insgesamt nichts mehr zugetraut wird, der Staat überhaupt als Versager darstellbar wird. Natürlich müssen die Beispiele jeweils untersucht werden auf Ursachen und Schlussfolgerungen, erkannte Mängel bearbeitet werden. Dennoch bleiben es Einzelfälle. Die Mehrheit der Arbeit von Polizei, Geheimdienst und Politik als Gegenbeispiele geraten aus dem Blick.

Cui bono?

Die Konsequenzen des vermeintlichen Staatsversagens für den Versagerstaat zeigt Rudi Wais:
"Die AfD versucht längst, aus dem Anschlag Kapital zu schlagen, und in der Koalition erhöht Horst Seehofer den Druck auf Angela Merkel, ihren Kurs zu korrigieren, die Zahl der Zuwanderer zu begrenzen und abgelehnte Asylbewerber schneller abzuschieben."
Die AfD wird - zurecht - als populistisch bezeichnet, Horst Seehofers CSU wird meist im gleichen Atemzug genannt - auch zurecht. Das Kapital, das die Populisten zu schlagen suchen, ist immer eines der Härte, der Verschärfung von Gesetzen, höheren Strafen, konsequenterer Anwendung und Ausschöpfung bestehender Regeln etc. Begründet wird mit Umfragen und Wahlaussichten, nach denen das Volk dem Versagen des Staates entsage und die Härte wolle. Bei Rudi Wais klingt das so:
"Wo das alles endet, in einem gemeinsamen Kraftakt oder einem historischen Zerwürfnis, ist noch nicht absehbar und hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft der Kanzlerin ab, ihre bisherige Politik zu Beginn eines Jahres mit drei Landtagswahlen und einer Bundestagswahl zu hinterfragen."
Zur Legitimierung der Forderungen und zur Verschleierung der Herkunft folgt oft eine Links-Rechts-Einordnung, hier am Beispiel des Leitartikels:
"Auch in der SPD liegen Welten zwischen der pragmatischen Linie ihres Vorsitzenden Sigmar Gabriel und den linken Reflexen seines Stellvertreters Ralf Stegner, der jeden Zusammenhang zwischen der Flüchtlingspolitik und der Sicherheitspolitik leugnet und alle, die das anders sehen, sofort in die rechte Ecke stellt."
Die Linken leugnen jeden Zusammenhang zwischen Flüchtlings- und Sicherheitspolitik. Die, die das anders sehen, verteidigen sich mit der Behauptung, sie würden ungerechtfertigt ins rechte Eck gestellt und grenzen sich so von den Populisten ab, auch wenn sie ihre Lösungen nach der gleichen Mechanik konstruieren wie die Populisten. Selbst wenn die Populisten nicht die Wahlen gewinnen: ihre Ideen, ihre Annahmen und Behauptungen zu Wirkungszusammenhängen tun es. Ein Beispiel ist die aktuelle Forderung nach verstärkter Videoüberwachung, zu der Winfried Züfle in einem Kommentar schreibt:
"Die Bereitschaft der Bürger, für mehr Videoüberwachung Einschränkungen beim Datenschutz hinzunehmen, steigt. Dazu hat das Attentat in Berlin beigetragen, mehr aber noch die Silvesternacht von Köln. Videoüberwachung erhöht das Sicherheitsgefühl."
Wenn die Bereitschaft steigt, Einschränkungen beim Datenschutz hinzunehmen, um durch verstärkte Videoüberwachung zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl zu kommen, ging die populistische Saat auf. Ich behaupte nicht, Videoüberwachung bringe nichts. Wer jedoch leichtfertig den Datenschutz und damit Persönlichkeitsrechte aufgeben will für ein erhöhtes Sicherheitsgefühl, glaubt bereits an die hohe Gefahr und die Lösung, hat sich bereits im Argumentationsnetz der Populisten verfangen oder zumindest ist ihm gefährlich nahe. Der steht noch nicht im rechten Eck, wie Ralf Stegner das behauptet, doch hat schon nasse Füße. Die Sieger heißen nicht Demokratie, nicht Politik, nicht der im Grundgesetz beschriebene Staat. Der Sieger heißt AfD.

Lektion

Rudi Wais schreibt:
"Nicht von ungefähr wird in diesen Tagen immer wieder eine Rede von Helmut Schmidt aus dem Terrorjahr 1977 zitiert, in der er sein hartes Durchgreifen mit einem Satz begründete, der nach dem Attentat von Berlin aktueller ist denn je: 'Wer jetzt noch verharmlost, wer jetzt noch nach Entschuldigungen sucht, der hat sich von der Gemeinschaft aller Bürger isoliert.'"
Das Zitat stammt aus dem Kontext der Entführung von Hanns Martin Schleyer, mit der die RAF inhaftierte Gesinnungsgenossen freipressen wollte. Dieser Forderung wurde nicht nachgegeben. In einem Interview der Zeit mit Helmut und Loki Schmidt wird die zeitliche Abfolge der Ereignisse in einer Frage von Giovanni di Lorenzo so nachgezeichnet:
"Vielleicht können wir mit ein paar Details nachhelfen: Vier Stunden nach der Entführung, es war 21.30 Uhr, wurde Ihre etwa fünfminütige Erklärung gesendet, die kurz zuvor im Bonner ARD-Studio aufgezeichnet worden war. Ein Satz ist in die Geschichtsbücher eingegangen: 'Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten.'"
Etwas später die Frage:
"Sie waren also nicht sonderlich überrascht, dass der Terrorismus in Deutschland mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten und der Ermordung seiner vier Begleiter Ihre Regierung noch weiter herausgefordert hatte?"
Die harte Positionierung der Regierung bezog sich also auf eine unmittelbare Herausforderung der Regierung durch den Terrorismus. Es waren bei Schleyer ganz konkrete Forderungen der Terroristen. Diese harte Linie gehört inzwischen zum Usus in der Politik: ein Staat lässt sich nicht erpressen. Das ist richtig. Derzeit gibt es keine konkrete Forderung von Terroristen, es gibt nur allgemeines Geblubber gegen "Kuffar". Diejenigen mit konkreten Forderungen sind die Populisten. Und die CSU. Terroristen sind beide nicht, selbst wenn sich im Umfeld der AfD vielleicht einzelne finden könnten. Die Lektion kann deshalb nicht lauten, Merkel müsse ihren Kurs korrigieren. Damit würde sie der unmittelbaren Erpressung durch die Populisten anhand einer mittelbaren Erpressung durch Terrorismus nachgeben. Die Lektion kann nur lauten, gute, weitblickende und nachhaltige Politik zu betreiben. Andernfalls bleibe ich bei meinem Ausruf:

Wahlkampf! Mir graut's vor dir.

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