Donnerstag, 22. Dezember 2016

Rudi Wais' Kontrollverlust

Rudi Wais hat in der Augsburger Allgemeinen vom 22.12. einen Leitartikel veröffentlicht mit der Frage, ob der Staat versagt hat im Zusammenhang mit dem Attentat in Berlin:


Rudi Wais stellt einige notwendige Fragen:
"Wie, zum Beispiel, kann es sein, dass die Nachrichtendienste einen Mann aus den Augen verlieren, den mehrere Behörden unabhängig voneinander als Gefährder eingestuft haben? Warum wird dieser Mann in Deutschland noch geduldet, obwohl er straffällig geworden ist, sein Asylantrag längst abgelehnt wurde und er offenbar sogar schon in Abschiebehaft saß?"
Dabei schneidet er zwei unterschiedliche Themengebiete an:
  1. Polizeiliche und nachrichtendienstliche Arbeit
    Der bekannte Gefährder wurde überwacht und aus den Augen verloren. Dieses Versagen weist in die selbe Richtung wie die Informationslücken im Zusammenhang mit dem Freiburger Mord an einer Studentin. Offenbar gelingt es den Behörden immer wieder, trotz vorhandener Informationen über potentielle oder bekannte Täter, die richtigen Schlüsse zu ziehen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, wodurch Anschläge vereitelt werden können. Aber des gibt auch immer wieder Fälle, wo Täter untertauchen können, wo Informationen nicht oder nicht schnell genug ausgetauscht oder fehlerhaft interpretiert werden. In solchen Fällen kann es zu Anschlägen oder Anschlagsversuchen kommen.
  2. Asylrecht, Abschiebung und Bleiberecht
    Das Asylrecht räumt die Möglichkeit ein, einen Asylantrag zu stellen. Dieser Antrag wird von den zuständigen Behörden bearbeitet und entschieden. Die Entscheidung kann mit rechtsstaatlichen Mitteln angefochten werden. Im Endergebnis kann es für den Antragsteller zu einer Erlaubnis zum Aufenthalt kommen, nur zu einer Duldung oder zu einer Aufforderung zur Ausreise. Die Ausreise kann schließlich erzwungen, zur sprichwörtlichen Abschiebung werden.
Rudi Wais macht diese Unterscheidung nicht, wenn er schreibt:
"Mit der Beschwichtigungsrhetorik der vergangenen drei Tage allerdings wird die Koalition die Menschen kaum beruhigen können [...]
Horst Seehofers Aufforderung an Angela Merkel, ihre Flüchtlingspolitik noch einmal zu überdenken und neu zu vermessen, ist deshalb keine populistische Provokation, sondern eine schlichte Selbstverständlichkeit. [...]
Hat die Kanzlerin in ihrem Eid nicht geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden?"
Wer auf notwendige Differenzierungen hinweist, wird als Beschwichtigungsrhetoriker ausgegrenzt. Im besten Populistendeutsch kommt der Seitenhieb auf den Eid, mit dem Schaden vom deutschen Volk abzuwenden sei - gerade so, also ob die Politik Nichtdeutsche nicht zu schützen habe.

Notwendige Differenzierung

Würde die notwendige Differenzierung erfolgen, können Maßnahmen zielgerichteter diskutiert werden. Im Fall der polizeilichen Arbeit könnten Fragen nach personeller und technischer Ausstattung gestellt werden, nach Ausbildung, nach behördlicher, nach bundesländerübergreifender und staatenübergreifender Kooperation. Man könnte diskutieren, ob Freiheit und Sicherheit zwei Seiten einer Medaille sind und ob oder wie stark eine Seite bevorzugt werden kann. Man könnte diskutieren, wie viel Sicherheit, wieviel Überwachung in einem freiheitlichen Land möglich sind, ohne die freiheitlichen Grundwerte zu verraten.
Rudi Wais kommt hingegen mit dem Asylthema aus. Dabei kann er Seehofer hofieren und beachtliche Verbindungen herstellen:
"Der neue Verdächtige Anis Amri gehört nach allem, was man bisher weiß, zwar nicht zu den Flüchtlingen, die unkontrolliert und in gewaltiger Zahl über die Balkanroute gekommen sind – aber macht das noch einen Unterschied? Ein Islamist ist ein Islamist, egal wie lange und mit welchem Aufenthaltsstatus er sich in Deutschland aufhält."
Anis Amri gehört "nicht zu den Flüchtlingen, die unkontrolliert [...] gekommen sind", dennoch zielt Rudi Wais nur auf das Asylrecht, wie er einige Sätze weiter zeigt:
"Und das heißt auch, dass jeder Asylbewerber so genau unter die Lupe genommen werden muss, dass am Ende klar ist, mit wem Deutschland es da zu tun hat."
Es spricht nichts dagegen, Asylbewerber zu prüfen, ob ihre Angaben korrekt sind und ob ein Asylgrund besteht. Es spricht auch nichts dagegen, diejenigen zur Ausreise aufzufordern, die nicht bleiben dürfen. Und es spricht nichts dagegen, überführte Straftäter so zu behandeln, wie es Straftätern gebührt. Allerdings sollte nicht der Eindruck erweckt werden, eine Verschärfung von Asylverfahren und schnellere Abschiebungen würden die Sicherheitslage deutlich verbessern. Das BAMF veröffentlicht regelmäßig Asylzahlen und zeigt in der aktuellen Statistik von November:


Von den in 2016 insgesamt entschiedenen Anträgen wurde ein knappes Viertel abgelehnt. Wie bitte soll sich die Sicherheitslage deutlich verbessern, wenn dieses Viertel konsequenter abgeschoben würde? Rudi Wais schreibt selbst:
"Offenbar hat Anis Amri seine Identitäten gewechselt wie andere Leute ihre Wäsche"
Ich bin mir sicher: Wer als Flüchtling getarnt nach Deutschland reist, um einen Anschlag zu verüben, dem wird es gelingen, trotz eines verschärften Asylgesetzes zu bleiben - legal oder illegal. Selbstverständlich sind Islamisten zu überwachen und zu gegebener Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. Dies gilt in gleichem Maße für Rechts-, Links- und andere Extremisten. Dennoch gilt es im Hinterkopf zu behalten, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist. Zu einem Rechtsstaat gehört die Möglichkeit, getroffene behördliche Entscheidungen zu hinterfragen, also vor Gericht zu bekämpfen zu dürfen, soweit es der Rechtsweg erlaubt. Wer hier kurzen Prozess machen will im Sinne von Ablehnung = Abschiebung, sollte sein Verständnis von Rechtsstaat ernstlich hinterfragen. Der bekämpft nicht "dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, das Wähler aus fast allen politischen Lagern in die Arme der AfD treibt", sondern der planiert den Weg zur AfD, die ohne Schamgrenze jede noch so abwegige Forderung spielend überbieten kann.
Der IS kann auch außerhalb der Flüchtlinge rekrutieren, wie die Anschläge von Brüssel gezeigt haben. Deshalb ist es Beschwichtigungsrhetorik, wenn so getan wird, als wäre eine Verschärfung des Asylrechts Excalibur, das als Wunderwaffe "eine Reihe von Rissen in unserer hochgelobten Sicherheitsarchitektur" kitten könnte.
Mir wäre es lieber, es würden alle für Extremismus anfälligen Personenkreise zur Zielgruppe staatlicher Vorbeugemaßnahmen und nicht nur die Flüchtlinge. Wenn fortlaufend nach verbesserter Sicherheit gerufen wird, setzt das zu spät an. Mein Sicherheitsgefühl würde steigen, wenn die Entstehung von Extremismus bekämpft würde und nicht nur einige Extremisten kurz vor der Tat erwischt würden. Mein Sicherheitsgefühl würde steigen, wenn nicht willkürlich eine leicht erkennbare Teilmenge als vermeintliche Gefahr dargestellt würde, sondern die Gefahr durch Extremismus insgesamt. Dabei kann ein Blick in den Verfassungsschutzbericht 2015 nicht schaden, in dem es auf Seite 24 heißt:
"Nach Phänomenbereichen unterschieden wurden 22.960 (2014: 17.020) Straftaten dem Bereich 'Politisch motivierte Kriminalität – rechts', 9.605 (2014: 8.113) dem Bereich 'Politisch motivierte Kriminalität – links' und 2.025 (2014: 2.549) dem Bereich 'Politisch motivierte Ausländerkriminalität' zugeordnet. Bei 4.391 (2014: 5.018) Straftaten konnte keine Zuordnung zu einem der o.g. Phänomenbereiche getroffen werden."
Wird ein solcher Blick als "statistischer Kunstgriff" abgetan, wird aus dem ernsthaften Bemühen um eine Verbesserung der Sicherheit schnell Beschwichtigungsrhetorik für die angeblich berechtigten Ängste und Sorgen der Bürger.

Schlusswort

Das heutige Schlusswort gebührt der Augsburger Allgemeinen, die behauptet, der 15 jährige Täter eines Messerangriffs auf einen Bundespolizisten Ende Februar sei vor Gericht. Andere Medien wie die "örtlich zuständige" Hannoversche Zeitung berichteten hingegen von einer Täterin.


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