Samstag, 31. Dezember 2016

Walter Rollers gelebter Populismus

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen am 31.12. einen Leitartikel veröffentlicht zu der Spaltung der Gesellschaft angesichts der Flüchtlinge:


Der Leitartikel ist weniger wegen des Inhaltes, sonder wegen des Unterschiedes zum gestrigen Leitartikel von Walter Roller interessant.

Janus?

Im gestrigen Leitartikel brachte Walter Roller eine Definition, nach der Populismus "durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen" gewinnen wolle und das Volk von "den Eliten hinters Licht" geführt und verraten würde. Er forderte eine Politik auch für den konservativen, "an traditionellen Werten hängende, auf Recht und Ordnung pochende Teil der Bevölkerung". Der Leitartikel kann deshalb als Plädoyer für mehr konservative Elemente in der Politik verstanden werden.
In seinem heutigen Leitartikel hingegen setzt er genau jede Methoden ein, die er gestern als populistisch eingeordnet hatte.

Dramatisierung der Lage

Eine Dramatisierung findet nicht erst statt, wenn völlig übertrieben wird. Eine Dramatisierung kann auch durch geschickte Wortwahl, durch Gewichtungen im Vortrag erfolgen. Im Gegensatz zum reinen Benennen von Problemen werden die Probleme besonders drastisch, mit negativ konnotierten Vokabeln dargestellt. Hier Auszüge aus dem heutigen Leitartikel (Hervorhebungen von mir):
"Die Völkerwanderung in Richtung Europa wird uns auch im Wahljahr 2017 in Atem halten, das Land auf Jahrzehnte hinaus umtreiben und auch verändern"
"Das historische Experiment einer den Deutschen von oben herab verordneten Massenzuwanderung birgt sowohl langfristige Chancen als auch eminente, bereits akute Risiken."
"Wie das alles eines Tages endet, ist ungewiss."
"Es hängt in hohem Maße davon ab, ob die Regierenden zu jener Weitsicht und jenem Realitätssinn fähig sind, die sie 2015 im Überschwang der 'Willkommenskultur' vermissen ließen."
"Die Probleme, die von einer sehr großen Koalition lange verniedlicht wurden, kommen jetzt in voller Schärfe zum Vorschein." 
"Deutschland ist unsicherer geworden, weil über die offenen Grenzen auch Islamisten und Kriminelle gekommen sind und die Identität Zehntausender unbekannt ist." 
"Das ist eine famose, weltweit bewunderte Leistung, die von großer Hilfsbereitschaft zeugt und – nebenbei gesagt – sehr viel Geld erfordert, das an anderer Stelle fehlt." 
"Und weil der Zustrom dank der Schließung der 'Balkanroute' und der Bestellung Erdogans zum EU-Grenzwächter stark nachgelassen hat und heuer wohl 'nur' (in Anführungsstrichen, Anm.) noch mit rund 300 000 Neuankömmlingen zu rechnen ist, hat sich die Lage entspannt."
"Doch gelöst ist damit nichts. Mehr als ein erster kleiner Schritt ist nicht getan, um diese immense Herausforderung zu meistern."
"Aber sein Fall zeigt auch, wie das liberale, nur für Verfolgte gedachte Asylrecht missbraucht wird und wie schwer sich der Staat tut, straffällige oder nach viel zu langen Verfahren abgelehnte Asylbewerber aus dem Land zu befördern."
"Und wie steht es überhaupt, um nur ein weiteres Problem zu nennen, um die Bereitschaft dieser Gesellschaft, ihre Regeln durchzusetzen und die Verfestigung von Parallelgesellschaften zu verhindern?" 

Verräterische Eliten

Die Eliten müssen nicht mit dieser Vokabel bezeichnet werden, um als volksfern, als Verräter am Volkswillen zu erscheinen. Auch hier kann der gewünschte Effekt durch geschickte Wortwahl und Gewichtungen erfolgen. Die passenden Auszüge aus dem heutigen Leitartikel (Hervorhebungen von mir):
"Das historische Experiment einer den Deutschen von oben herab verordneten Massenzuwanderung birgt sowohl langfristige Chancen als auch eminente, bereits akute Risiken."
"Es hängt in hohem Maße davon ab, ob die Regierenden zu jener Weitsicht und jenem Realitätssinn fähig sind, die sie 2015 im Überschwang der 'Willkommenskultur' vermissen ließen."
"Die Probleme, die von einer sehr großen Koalition lange verniedlicht wurden, kommen jetzt in voller Schärfe zum Vorschein."

Rechts oder konservativ?

Eine konservative Politik hat ihre volle Berechtigung im politischen Spektrum. Aus einer solchen Haltung heraus werden bestimmte Positionen vertreten, Zusammenhänge als wahr erachtet und darauf aufbauend bestimmte Entscheidungen als Lösungen gefordert. Da liegt es in der Natur der Sache, dass es an einzelnen Stellen Berührungspunkte geben kann mit den rechten Kräften im Land. Wahrscheinlich ist vieles richtig an der Feststellung, nicht alle Konservativen sind Rechte, aber alle Rechten sind konservativ. Vor wenigen Tagen erst hat Rudi Wais darauf hingewiesen, nicht jeder Konservative gehöre "sofort in die rechte Ecke". Allerdings muss die Frage erlaubt sein, wo die Grenze ist zwischen Rechten und Konservativen, wenn sich neben Teilen der politischen Inhalte sogar die Methoden annähern. Walter Roller liefert eine Reihe an Beispielen für Formulierungen, die einer rechten Feder entsprungen sein könnten. Ein besonders augenfälliges sei hier genannt, bei dem der Regierung fehlender Realitätssinn und Verniedlichung von Problemen vorgeworfen wird.
Walter Roller schreibt:
"Es hängt in hohem Maße davon ab, ob die Regierenden zu jener Weitsicht und jenem Realitätssinn fähig sind, die sie 2015 im Überschwang der 'Willkommenskultur' vermissen ließen. [...] Die Probleme, die von einer sehr großen Koalition lange verniedlicht wurden, kommen jetzt in voller Schärfe zum Vorschein. [...] Deutschland ist unsicherer geworden, weil über die offenen Grenzen auch Islamisten und Kriminelle gekommen sind und die Identität Zehntausender unbekannt ist. [...] Sie wird dafür bei der Wahl 2017 geradestehen und bis dahin versuchen, das Vertrauen vieler Bürger mit einer gründlich korrigierten, härteren Asyl- und Sicherheitspolitik zurückzugewinnen."
Die NPD, so rechts, dass ein Verbotsverfahren läuft, schreibt ohne Datumsangabe:
"Nachdem Bundeskanzlerin Angela Merkel erst kürzlich ihre fatale 'Wir-schaffen-das'-Äußerung wiederholte und damit einmal mehr ihre Beratungsresistenz unter Beweis stellte, scheint sie der Realität nun vollends entrückt zu sein. Laut Merkel bestehe kein Zusammenhang zwischen der massiv gewachsenen Terrorgefahr und dem historisch beispiellosen Asylzustrom der letzten Monate. [...] Merkel hat mit ihrer verantwortungslosen Entscheidung vom 5. September 2015, hunderttausende Zuwanderer unregistriert nach Deutschland einreisen zu lassen, die Büchse der Pandora geöffnet. Über Monate hinweg strömten täglich bis zu zehntausend Menschen nach Deutschland, ohne dass die Sicherheitsbehörden wussten, wer sie waren, woher sie kamen und was sie in unserem Land vorhaben. [...] Merkels Ignoranz lässt nur zwei Deutungen zu. Entweder sie hat den Bezug zur Realität vollends verloren oder aber sie lügt den Bürgern dreist ins Gesicht."
So wie von Muslimen immer wieder gefordert wird, sie müssten sich als Islamanhänger von den islamistischen Islampervertierern abgrenzen, ist es in Anbetracht solcher Leitartikel auch notwendig, die Abgrenzung zwischen Konservativen und Rechten klar zu machen. Ist Walter Rollers Leitartikel noch ein konservatives Plädoyer oder schon versteckte rechte Propaganda?

Freitag, 30. Dezember 2016

Populisten

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 30.12. einen Leitartikel über Populisten und was gegen sie getan werden kann veröffentlicht:


Ein spannender Leitartikel, der eine genauere Analyse verdient.

Was sind Populisten?

Zu Beginn stellt Walter Roller die wichtige Frage:
"Was ist Populismus? Im Lexikon steht: 'Populismus ist eine von Opportunismus geprägte, volksnahe, oft demagogische Politik, die das Ziel hat, durch Dramatisierung der politischen Lage die Gunst der Massen zu gewinnen'. Populus ist das Volk, und Populisten behaupten, das 'wahre', von den Eliten hinters Licht geführte und verratene Volk zu vertreten. Sie schüren die Wut auf das 'System', gaukeln einfache Lösungen vor."
Auf Wikipedia findet sich eine vergleichbare Definition, die einzelne Aspekte weiter hervorhebt:
"Die Encyclopedia of Democracy definiert Populismus wie folgt: 'Eine politische Bewegung, die die Interessen, kulturellen Wesenszüge und spontanen Empfindungen der einfachen Bevölkerung hervorhebt, im Gegensatz zu denen einer privilegierten Elite. Um sich zu legitimieren, sprechen populistische Bewegungen oft direkt den Mehrheitswillen an – durch Massenversammlungen, Referenden oder andere Formen der direkten Demokratie –, ohne großes Interesse für Gewaltenteilung oder die Rechte von Minderheiten."
Walter Roller ordnet gemäß der Definition Marine Le Pen und Donald Trump als Populisten ein, die AfD und die FPÖ als populistische Parteien - in allen Fällen muss man zustimmen. Walter Roller hat Recht, wenn er schreibt:
"Auch den etablierten, den lupenrein demokratischen Parteien ist der Populismus nicht fremd. 'Volksnah' wollen alle sein. Jede ist um die 'Gunst der Massen' bemüht, jede will an die Macht. Demokratische Politiker stehen in der Pflicht, dem Volk 'aufs Maul' zu schauen und die Anliegen der Bürger aufzugreifen."
An dieser Stelle muss hingewiesen werden auf eine Art "Populismusstufe". Populistisch sind Parteien, die sich vornehmlich populistischer Methoden bedienen. Eine Partei, die zeit- oder anlassweise populistische Methoden anwendet, ist noch nicht populistisch, aber der populistische Werkzeugkasten bleibt populistisch, auch wenn er von "lupenreinen demokratischen Parteien" angewendet wird. Das bringt uns zur Frage, was der populistische Werkzeugkasten sei. Wikipedia bietet folgende an:
  • Das Volk auf der einen Seite, die Eliten auf der anderen
  • Das Volk hat politische Reife, ein ungetrübtes Urteilsvermögen
  • Die Eliten sind korrupt, unfähig und in dubiose Machenschaften verwickelt
  • Das Volk ist die Summe der braven Bürger, weshalb das Bürgerinteresse mit dem Volksinteresse gleichgesetzt wird
  • Die Interessen der braven Bürger sind berechtigt, wahr, moralisch
  • Es gibt Krisen und Niedergang und es gibt Schuldige daran
In einer solch einfachen Welt können einfache "Lösungen" generiert werden. Einfache "Lösungen" bieten Populisten zu genüge an.

Ursachen des Populismus

Walter Roller schreibt:
"Hätten sie (demokratische Politiker, Anm.) es (dem Volk aufs Maul geschaut und Anliegen aufgegriffen, Anm.) in der Vergangenheit zur Genüge getan, wäre es gar nicht zum viel beklagten Aufstieg populistischer Parteien und dem Vertrauensverlust der regierenden, meist Einheitskost servierenden Parteien gekommen."
Dieser Satz ist mit Vorsicht zu genießen, da sich der Populismus gemäß Definition durch Hören auf des Volkes Stimme auszeichnet und laut Walter Roller ein Hördefizit ein Grund für den Aufstieg populistischer Parteien sei. Als ob der Teufel mit dem Belzebub ausgetrieben werden sollte. Andrés Velasco, ehem. Minister und Professor an verschiedenen Universitäten, warnt in seinem Beitrag "The Real Roots of Populism":
"Precisely because populism – whether leftist (Hugo Chávez in Venezuela, Podemos in Spain) or rightist (Donald Trump in the United States, the National Front in France) – is ugly, menacing, and destructive, its growing strength calls for nuanced explanation. A weak grasp of causes will lead to ill-conceived solutions – at which point populism truly may become unstoppable."
Schafft es die Ursachenforschung nicht, die Gründe für den Erfolg der Populisten zu erklären, gerät man leicht auf den Weg falscher Lösungen. Wenn Walter Roller glaubt, mit besserem Zuhören der etablierten Parteien wäre den Populisten das Wasser abzugraben, scheint mir das zu einfach. Kemal Derviş, ehem. Minister und hoher UN-Mitarbeiter, schreibt:
"Unfortunately, these arguments often lead political moderates to retreat under the pressure of nativism, aggressive nationalism, and incoherent economic slogans. Those who shout or tweet one-liners and promote narrow identity politics have forced those who believe in a global human community, one bound together by shared interests, to fight a rearguard battle to articulate why the one-liners make little sense."
Walter Roller meint, mit mehr Zuhören wäre der Aufstieg der Populisten zu verhindern gewesen. Das erklärt nicht, warum nun vielfach nationalistische Töne zu hören sind, warum nun der Glaube an nationale Lösungen wächst. Ein Beispiel: Warum sind die Populisten mit "Nein zu Europa" erfolgreich, warum fordern sie nicht ein "populistisches Europa", das dem Volk zuhört und viele Volksentscheide realisiert?
Den etablierten Parteien wird oft vorgeworfen, Entscheidungen dauerten zu lange. Deshalb fordern Populisten meist einen "Starken Mann", der alles richten kann. Die Länge von Entscheidungen ist jedoch genau der Interessenausgleich, der notwendig ist für eine Politik, die auf Minderheiten Rücksicht nimmt. Darum glaube ich nur eingeschränkt an die einfache Ursache, die Walter Roller nennt. Ergänzend dazu ein Hinweis von Roberto Laserna:
"Another confusion, and perhaps a more dangerous one, similarly conflates 'the people' with the so-called 'masses' going out into the streets. The logic of this type of mobilization is that resources are directed to the group that shouts the loudest and is able to trigger social conflict. This means that attention is diverted from the weakest and those most in need to those who already are well enough off to be organized."
Ian Buruma meint, der Populismus helfe den Reichen, obwohl der Populismus doch den kleinen Mann einen sollte:
"The newly rich are as important a force in the rise of populism as the poorer and less educated people who feel neglected by the elites. Despite huge inequalities of wealth, they share a deep anger at those whom they suspect of looking down on them. And they are not entirely wrong. No matter how many palaces or yachts new money can acquire, old money will continue to despise the acquirer. Likewise, the educated urban class tends to dismiss the voters who supported Brexit or back Trump as stupid and ill-bred. " 

Qualität in der Politik

Walter Roller bringt Beispiele, wie etablierte Parteien den Grenzgang versuchen zwischen populär und populistisch:
"Ein Mann wie der CSU-Vorsitzende Seehofer hat im Kampf um die Mehrheit stets die Stimmung in der Bevölkerung im Blick und richtet seine auf das Kleinhalten der AfD fokussierte Politik auch danach aus. Oder nehmen wir Sigmar Gabriel, der das Schicksal seiner SPD immer wieder mit 'populären' Vorstößen zu wenden versucht. Wer will, mag das – und auch manche Volte der Kanzlerin – Populismus nennen."
Zugegeben, die Grenze ist fließend und nicht jeder Populismusvorwurf gerechtfertigt und vielleicht selbst sogar populistisch, ein Totschlagargument. Deshalb passt die Grundrichtung des nächsten Satzes von Walter Roller:
"Doch es ist grober Unfug, jede Forderung etwa Seehofers (zuletzt jene nach einer 'Neujustierung der Sicherheits- und Flüchtlingspolitik') mit dem Etikett populistisch zu versehen und in einen Topf mit den völkisch-national eingefärbten Parolen der AfD zu rühren."
Nicht jede Forderung Seehofers ist populistisch. Wenn Seehofer aber in den Seegebieten der AfD Themen und Lösungen fischt und die AfD populistisch ist, sind auch die seehoferschen Fänge aus diesen Gebieten populistisch. Insbesondere die "Neujustierung der Sicherheits- und Flüchtlingspolitik" ist aus den AfD-Fischgründen, der Zeitpunkt kurz nach dem Attentat wohl schon geschmacklos. Daran ändert sich auch nichts, wenn Walter Roller auf die Erfolge von Seehofer verweist:
"Seehofer kann das ertragen, zumal viele seiner zunächst als 'rechts' abgestempelten Vorstöße mit einiger Verspätung Regierungspolitik werden."
Nur weil etwas realisiert wurde, ist es nicht gute Politik. Obwohl es realisiert wurde, kann es aus dem Grabbelkasten rechter Ideen entlehnt sein. Nur weil die Regierung aus Fantasielosigkeit gegenüber den Populisten schrittweise deren Inhalte übernimmt, macht sie keine gute Politik.

Was tun gegen Populisten?

Walter Roller schlägt passend zu seiner Ursachenanalyse vor:
"Probleme lösen – und zwar so, dass sich auch der konservative, an traditionellen Werten hängende, auf Recht und Ordnung pochende Teil der Bevölkerung wieder besser aufgehoben fühlt in diesem Staat."
Nein, das reicht nicht. Mehr konservative Politik schützt uns nicht vor Populisten. Das würde vielleicht populistischen Parteien Stimmen nehmen, gleichzeitig jedoch zum Teil deren Politinhalte realisieren. Damit lässt sich nicht der Populismus mit seinen Ideen der Abschottung, des Wir-versus-Die, seine einfachen Wege etc. aus der Welt schaffen. Gegen Attentäter geht man nicht erfolgreich vor, in dem man höhere Gefängnisstrafen fordert.
Kemal Derviş schlägt einen "Gegenangriff" vor und weist auf mögliche Hindernisse hin:
"But this counterattack, if it can be called that, seems unable to formulate even two-liners capable of refuting populist tendentiousness. There are of course decent economic analyses and sensible policy proposals that are being put forward by the moderate camp; but the debate is usually in the language – and body language – of technical experts, inciting yawns, not popular support. [...]
What makes 'constructive' populism constructive is that it simplifies what is known with a reasonable degree of certainty. By contrast, 'destructive' populists consciously distort what is known and have no qualms fabricating what isn’t. [...]
But it must be made concrete. In the world’s liberal democracies, such a message should emphasize three components: strong defense and intelligence capabilities; the legitimacy of negotiating with friends and foes alike to find common ground; and the understanding that lasting alliances and friendships will be built around shared democratic values and support for human rights."
Roberto Laserna nennt einen weiteren Aspekt, der zur Lösung beitragen kann:
"The most flagrant confusion is that which conflates state and nation."
Selbst für mehr national denkende Menschen böten sich abseits der üblichen AfD-, FN, FPÖ-Diktion Möglichkeiten. So schlägt Lawrence Summers in der Financial Times vor:
"What is needed is a responsible nationalism — an approach where it is understood that countries are expected to pursue their citizens’ economic welfare as a primary objective but where their ability to harm the interests of citizens elsewhere is circumscribed. International agreements would be judged not by how much is harmonised or by how many barriers are torn down but whether citizens are empowered."
Den Populisten wird man nicht Herr, wenn man die Probleme, die vorhanden und teilweise von den Populisten inzwischen so emotional aufgeladen wurden, durch populistische "Lösungen" löst. Die Politik muss einen Weg finden, solche Lösungen zu generieren, dass sich konservative und liberale, grüne und rote, alle in ihnen finden können. Die Politik muss den Dialog ermöglichen und die Beteiligten müssen lernwillig sein: Weder hilft die konservative Lösung "Gefängnis" bei allen Straftaten, noch hilft das liberale Credo "Alle Macht dem Markt". Nur weil konservatives Gedankengut derzeit das zweifelhafte Glück hat, durch Populisten lautgesprochen zu werden, ist nicht konservative Politik die Lösung.

Mittwoch, 28. Dezember 2016

Fragen an die Christliche Sicherheitsunion CSU

Die Augsburger Allgemeine hat am 28.12. einen Bericht veröffentlicht zum Forderungskatalog "Sicherheit für unsere Freiheit" der CSU:


Zu Beginn des Artikels heißt es:
"Nach dem tödlichen Anschlag in Berlin will die CSU im Bundestag einen weitreichenden Vorstoß für mehr innere Sicherheit unternehmen."
Bereits wenige Tage nach dem Anschlag hat die CSU ein präsentierfähiges Papier vorliegen. Das ist eine beachtliche Geschwindigkeit, wenn man die sonst üblichen Abstimmungsrunden, Gremienvorlagen etc. berücksichtigt, die solche Papiere oft durchlaufen müssen. Deshalb stellen sich mir zwei Fragen:
  1. Lagen die Forderungen schon in der Schublade und wurden nun aus gegebenem Anlass herausgeholt?
  2. Falls die Forderungen neu formuliert wurden: Wie konnte in der kurzen Zeit eine Art Qualitätssicherung erfolgen, in der Wirkungsnachweise, Rahmenbedingungen etc. untersucht werden konnten?
Sollten die Forderungen bereits in der Schublade gelegen haben, hat es ein Gschmäckle, wenn die CSU das Papier kurz nach einem erfolgten Anschlag publiziert - fast so, als hätte sie nur auf einen Anlass gewartet. Ist das Papier neu entstanden, muss es intensiv diskutiert werden. Die Süddeutsche Zeitung zitiert aus dem Papier:
"'Pauschal bei jeder Gesetzesverschärfung Datenschutzrechte oder Missbrauchsgefahren in den Fokus zu rücken, ist der falsche Ansatz', schreibt die CSU."
Je heißer die Nadel, mit der das Papier gestrickt wurde, desto wichtiger wird es, mögliche Nachteile anderer Rechtsgüter genau zu betrachten. Wenn die CSU hier in einer Art Immunisierung versucht, solche Diskussionen überhaupt zu unterbinden, ist höchste Vorsicht angezeigt. Uli Bachmeier hat in der selben Ausgabe der AZ einen Kommentar veröffentlicht:


Uli Bachmeier schreibt:
"Welche Mittel wirken tatsächlich im Kampf gegen Kriminalität und Terror? [...]
Die Vorschläge der CSU sollten auf diese Weise [an der Praxis, Anm.] diskutiert werden. Umgekehrt sollte die CSU begründen, welches Mittel welchem Zweck dienen soll. Ganz praktisch, ohne ideologische Rituale."
Richtig, Mittel-Zweck-Verbindungen müssen aufgezeigt, Wirkungsnachweise erbracht und Nebenwirkungen berücksichtigt werden. Es nicht akzeptabel, wenn die CSU Diskussionen mit dem Hinweis auf den falschen Fokus von Vorneherein aus dem Weg geht. Das ist demokratisch fragwürdig. Ergänzend zum Kommentar sei erwähnt, die Grenze ist nicht zwischen Konservativen und Linksliberalen. Entweder ohne Rechts-Links-Zuschreibung und damit zwischen Konservativen und Liberalen. Oder mit der Zuschreibung, woraus Rechtskonservativ und Linksliberal entsteht. Die zweite Variante wird für eine Diskussion nicht hilfreich sein.
Ein paar der Forderungen verdienen es, einzeln adressiert zu werden.

Haftgrund für Gefährder

Im Artikel heißt es:
"'Wer unseren Staat ablehnt und diesen gewaltsam bekämpft, gehört nicht zu uns.' [...] 'Wer unseren Staat bedroht, hat sein Gastrecht verwirkt.'"
Zu Beginn des Absatzes im Artikel wird angegeben, der Forderungskatalog richte sich "vor allem [an] islamistische Extremisten und ausländische Gefährder". Gefordert wird ein neuer "Haftgrund für Gefährder". Da stellen sich die Fragen:
  1. Warum soll es den Haftgrund nur für islamistische Extremisten geben und nicht auf beispielsweise für Rechtsextremisten oder Reichsbürger?
  2. Wie ist es mit unseren bewährten Rechtsgrundsätzen vereinbar, jemanden schon dann in Haft zu nehmen, wenn er noch kein Verbrechen begangen hat und vielleicht außer "Ich möchte gern Terrorist sein" noch nicht viel passiert ist?

Jugendliche und Heranwachsende

Im Artikel heißt es weiter:
"Zudem müsse dem Verfassungsschutz die Befugnis gegeben werden, bereits Jugendliche ab dem Alter von 14 Jahren zu beobachten. Für Heranwachsende zwischen 18 und 21 Jahren, die straffällig geworden sind, soll künftig im Regelfall nicht mehr das Jugend-, sondern das Erwachsenenstrafrecht gelten."
Hier ergeben sich ebenfalls Fragen:
  1. Warum glaubt die CSU, bei Jugendlichen ab 14 Jahren ist der Verfassungsschutz ein hilfreicheres Instrument als beispielsweise die Polizei, Jugendämter, Sozialarbeiter, um die Jugendlichen nicht endgültig zu Terroristen werden zu lassen?
  2. Soll das Erwachsenenstrafrecht als Regelfall bei allen Straftaten straffällig gewordener Heranwachsender angewendet werden oder nur für besondere, staatsgefährdende Straftaten?
  3. Das Jugendstrafrecht soll berücksichtigen, dass Heranwachsende noch nicht die volle Reife erlangt haben, um ihre Tat und die Konsequenzen vollständig zu überschauen. Warum soll diese Rücksicht nicht mehr geübt werden und den Heranwachsenden nun per se zutraubar sein, sie hätten die notwendige Reife?
  4. In Fortsetzung zur Frage 7: Ist nicht gerade eine Radikalisierung ein Hinweis auf ein Reifedefizit?

Überwachung

Im Artikel heißt es:
"Deutlich ausweiten will die CSU auch die Videoüberwachung - etwa in Bahnhöfen, Einkaufszentren und Sportstätten - sowie die Speicherung von Kommunikationsdaten. Dies bedeute 'eine Erweiterung auf E-Mail-Verkehr und sonstige Kommunikationsdienste (WhatsApp, Skype) und eine Verlängerung der Speicherfrist'."
Dazu weitere Fragen:
  1. Wie können durch mehr Videoüberwachung Anschläge wie in Berlin oder Nizza, die außerhalb solcher Einrichtungen stattfanden, verhindert werden?
  2. Bei E-Mail mag das Auslesen der Kommunikationsdaten für Sender und Empfänger relativ leicht sein. Wie sollen jedoch aus einem verschlüsselten Chat in einem Kommunikationsdienst die Beteiligten ermittelt werden, ohne die Nachricht selbst abgreifen und analysieren zu müssen?
  3. Als Fortsetzung zu Frage 10: Laut einem Bericht im Focus soll es Ermittlern möglich sein, "schon vor der Verschlüsselung auf Daten zuzugreifen". Wie soll das umgesetzt werden, ohne die Verschlüsselung als solche zu korrumpieren?
  4. Wie soll die Privatsphäre derjenigen geschützt werden, deren Daten erfasst, aber nicht für Ermittlungsarbeiten verwendet werden?

Dienstag, 27. Dezember 2016

Rudi Wais' Lehrmeisterei

Rudi Wais hat in der Augsburger Allgemeinen vom 27.12. einen Leitartikel veröffentlicht zu dem, was die Kanzlerin von einem früheren Kanzler lernen könne:


Rudi Wais schreibt ein Lehrstück für Angela Merkel. Das Lehrstück bedarf genauerer Betrachtung.

Beschreibung des Lehrstücks

Rudi Wais beschreibt:
"Die Zahl der Toten ist zu groß, um einfach zur Tagesordnung zurückzukehren, das Versagen von Behörden und Diensten zu offensichtlich, um es gerade noch so zu tolerieren. Ein einschlägig bekannter Islamist, der bereits in Haft saß und wieder freigelassen wurde, ein Mann, über den es seitenlange Dossiers gibt, der aber kreuz und quer durchs Land reist und nach einem verheerenden Anschlag ungehindert fliehen kann, weil die Polizei das Tatfahrzeug erst mit einem Tag Verspätung durchsucht: Minister sind schon aus nichtigeren Gründen zurückgetreten."
Neben einem Überblick über die Tat und die Polizeiarbeit bietet Rudi Wais eine Einordnung der politischen Konsequenzen. Er hält sie für so schwerwiegend, dass ein Ministerrücktritt denkbar sei. Er stellt in seinen weiteren Ausführungen dar, was das für den Staat bedeuten kann:
"Neben dem Freiheitsversprechen ist der Schutz eben jener Freiheit eines der konstitutiven Elemente des demokratischen Staates, in dem Moment jedoch, in dem das Vertrauen seiner Bürger in die innere Sicherheit erodiert, in den Schutz von Grenzen, in die Arbeit der Polizei und der Geheimdienste oder in die Politik ganz allgemein, bekommt auch die populärste Kanzlerin ein Problem."
Dann hat nicht nur die "populärste Kanzlerin" ein Problem. Denn eine solch weitreichender Vertrauensverlust bedroht das Staatsgefüge insgesamt. Aber es ist nicht so, dass der deutsche Staat auf allen Gebieten wie innere Sicherheit, Grenzschutz, Polizei, Geheimdienste und Politik komplett versagen würde. Einzelne Vorkommnisse, die durchaus Beispiele für eklatantes Versagen abgeben, werden als Zeichen eines generellen Versagens etabliert. Diese Beispiele generalisieren derart, dass dem Staat insgesamt nichts mehr zugetraut wird, der Staat überhaupt als Versager darstellbar wird. Natürlich müssen die Beispiele jeweils untersucht werden auf Ursachen und Schlussfolgerungen, erkannte Mängel bearbeitet werden. Dennoch bleiben es Einzelfälle. Die Mehrheit der Arbeit von Polizei, Geheimdienst und Politik als Gegenbeispiele geraten aus dem Blick.

Cui bono?

Die Konsequenzen des vermeintlichen Staatsversagens für den Versagerstaat zeigt Rudi Wais:
"Die AfD versucht längst, aus dem Anschlag Kapital zu schlagen, und in der Koalition erhöht Horst Seehofer den Druck auf Angela Merkel, ihren Kurs zu korrigieren, die Zahl der Zuwanderer zu begrenzen und abgelehnte Asylbewerber schneller abzuschieben."
Die AfD wird - zurecht - als populistisch bezeichnet, Horst Seehofers CSU wird meist im gleichen Atemzug genannt - auch zurecht. Das Kapital, das die Populisten zu schlagen suchen, ist immer eines der Härte, der Verschärfung von Gesetzen, höheren Strafen, konsequenterer Anwendung und Ausschöpfung bestehender Regeln etc. Begründet wird mit Umfragen und Wahlaussichten, nach denen das Volk dem Versagen des Staates entsage und die Härte wolle. Bei Rudi Wais klingt das so:
"Wo das alles endet, in einem gemeinsamen Kraftakt oder einem historischen Zerwürfnis, ist noch nicht absehbar und hängt nicht zuletzt von der Bereitschaft der Kanzlerin ab, ihre bisherige Politik zu Beginn eines Jahres mit drei Landtagswahlen und einer Bundestagswahl zu hinterfragen."
Zur Legitimierung der Forderungen und zur Verschleierung der Herkunft folgt oft eine Links-Rechts-Einordnung, hier am Beispiel des Leitartikels:
"Auch in der SPD liegen Welten zwischen der pragmatischen Linie ihres Vorsitzenden Sigmar Gabriel und den linken Reflexen seines Stellvertreters Ralf Stegner, der jeden Zusammenhang zwischen der Flüchtlingspolitik und der Sicherheitspolitik leugnet und alle, die das anders sehen, sofort in die rechte Ecke stellt."
Die Linken leugnen jeden Zusammenhang zwischen Flüchtlings- und Sicherheitspolitik. Die, die das anders sehen, verteidigen sich mit der Behauptung, sie würden ungerechtfertigt ins rechte Eck gestellt und grenzen sich so von den Populisten ab, auch wenn sie ihre Lösungen nach der gleichen Mechanik konstruieren wie die Populisten. Selbst wenn die Populisten nicht die Wahlen gewinnen: ihre Ideen, ihre Annahmen und Behauptungen zu Wirkungszusammenhängen tun es. Ein Beispiel ist die aktuelle Forderung nach verstärkter Videoüberwachung, zu der Winfried Züfle in einem Kommentar schreibt:
"Die Bereitschaft der Bürger, für mehr Videoüberwachung Einschränkungen beim Datenschutz hinzunehmen, steigt. Dazu hat das Attentat in Berlin beigetragen, mehr aber noch die Silvesternacht von Köln. Videoüberwachung erhöht das Sicherheitsgefühl."
Wenn die Bereitschaft steigt, Einschränkungen beim Datenschutz hinzunehmen, um durch verstärkte Videoüberwachung zu einem erhöhten Sicherheitsgefühl zu kommen, ging die populistische Saat auf. Ich behaupte nicht, Videoüberwachung bringe nichts. Wer jedoch leichtfertig den Datenschutz und damit Persönlichkeitsrechte aufgeben will für ein erhöhtes Sicherheitsgefühl, glaubt bereits an die hohe Gefahr und die Lösung, hat sich bereits im Argumentationsnetz der Populisten verfangen oder zumindest ist ihm gefährlich nahe. Der steht noch nicht im rechten Eck, wie Ralf Stegner das behauptet, doch hat schon nasse Füße. Die Sieger heißen nicht Demokratie, nicht Politik, nicht der im Grundgesetz beschriebene Staat. Der Sieger heißt AfD.

Lektion

Rudi Wais schreibt:
"Nicht von ungefähr wird in diesen Tagen immer wieder eine Rede von Helmut Schmidt aus dem Terrorjahr 1977 zitiert, in der er sein hartes Durchgreifen mit einem Satz begründete, der nach dem Attentat von Berlin aktueller ist denn je: 'Wer jetzt noch verharmlost, wer jetzt noch nach Entschuldigungen sucht, der hat sich von der Gemeinschaft aller Bürger isoliert.'"
Das Zitat stammt aus dem Kontext der Entführung von Hanns Martin Schleyer, mit der die RAF inhaftierte Gesinnungsgenossen freipressen wollte. Dieser Forderung wurde nicht nachgegeben. In einem Interview der Zeit mit Helmut und Loki Schmidt wird die zeitliche Abfolge der Ereignisse in einer Frage von Giovanni di Lorenzo so nachgezeichnet:
"Vielleicht können wir mit ein paar Details nachhelfen: Vier Stunden nach der Entführung, es war 21.30 Uhr, wurde Ihre etwa fünfminütige Erklärung gesendet, die kurz zuvor im Bonner ARD-Studio aufgezeichnet worden war. Ein Satz ist in die Geschichtsbücher eingegangen: 'Der Staat muss darauf mit aller notwendigen Härte antworten.'"
Etwas später die Frage:
"Sie waren also nicht sonderlich überrascht, dass der Terrorismus in Deutschland mit der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten und der Ermordung seiner vier Begleiter Ihre Regierung noch weiter herausgefordert hatte?"
Die harte Positionierung der Regierung bezog sich also auf eine unmittelbare Herausforderung der Regierung durch den Terrorismus. Es waren bei Schleyer ganz konkrete Forderungen der Terroristen. Diese harte Linie gehört inzwischen zum Usus in der Politik: ein Staat lässt sich nicht erpressen. Das ist richtig. Derzeit gibt es keine konkrete Forderung von Terroristen, es gibt nur allgemeines Geblubber gegen "Kuffar". Diejenigen mit konkreten Forderungen sind die Populisten. Und die CSU. Terroristen sind beide nicht, selbst wenn sich im Umfeld der AfD vielleicht einzelne finden könnten. Die Lektion kann deshalb nicht lauten, Merkel müsse ihren Kurs korrigieren. Damit würde sie der unmittelbaren Erpressung durch die Populisten anhand einer mittelbaren Erpressung durch Terrorismus nachgeben. Die Lektion kann nur lauten, gute, weitblickende und nachhaltige Politik zu betreiben. Andernfalls bleibe ich bei meinem Ausruf:

Wahlkampf! Mir graut's vor dir.

Sonntag, 25. Dezember 2016

Sankt Florian für Deutschland

Martin Ferber kommentiert in der Augsburger Allgemeinen vom 24.12. die Konsequenzen des Anschlags von Berlin:


Martin Ferber bringt eine Reihe an Symptomen und Vorschlägen, die einer näheren Analyse bedürfen.

Zustandsbeschreibung

Martin Ferber schreibt:
"Dass Ausländer ohne gültige Papiere problemlos einreisen, sich mehrere Identitäten zulegen, aber nicht in ihr Herkunftsland abgeschoben werden können, selbst wenn sie von den Sicherheitsbehörden als 'Gefährder' identifiziert worden sind, ist ein untragbarer Zustand. Das muss beendet werden [...]"
Was hier in einem Satz zusammengetragen ist, erweckt den Eindruck, es wäre ein einheitlicher Problemkreis. Ist es aber nicht:
  • Ohne gültige Papiere
    Das kann für Personen gelten, die mit bösen Absichten nach Deutschland kommen und so hoffen, möglichst lange sich aufhalten zu können. Das kann aber auch für Personen gelten, die einem Bombenangriff entkamen nur mit den Sachen, die sie am Leib tragen. Natürlich hat Deutschland das Recht, zu wissen, wer einreist. Aber sogar das Asylrecht kennt Antragsteller ohne Papiere, weshalb es unredlich ist, den Eindruck zu erwecken, Einreisende ohne Papiere wären allesamt Kriminelle oder zumindest Gefährder.
  • Mehrere Identitäten
    In dieser Pauschalität ist es wenig hilfreich. Jeder Internetnutzer hat verschiedene Identitäten, wenn er sich mit unterschiedlichen Nicknames bei verschiedenen Diensten anmeldet. Es ist ferner nicht vorwerfbar, wenn sich einzelne Personen in verschiedenen Umfeldern unterschiedlich nennen. Schränkt man den Begriff der Identität jedoch auf eine "staatsbürgerliche Identität" ein, von der Einmaligkeit angenommen werden kann, ist es unzweifelhaft kriminell, sich durch eine Vielheit solcher Identitäten Vorteile zu erschleichen. Dabei macht es letztlich keinen Unterschied, ob es um mehrfache Antragstellungen geht, um mehrfach Gelder beanspruchen zu können oder ob eine kriminelle Vergangenheit verschleiert werden soll. Allerdings muss die Frage gestellt werden, ob nicht eine strikte Ablehnung ehemals Krimineller nicht gerade dazu führen würde, mit einer gefälschten Identität einen Einreiseversuch zu wagen. Würde es ferner nicht dazu führen, dass diejenigen mit bösen Absichten gegen Deutschland sich besonders unauffällig verhalten würden, bis sie eingereist sind? Würde es nicht auch die von einer Einreise abhalten, die in einem griechischen Chaoslager aus berechtigtem Protest einen Müllkübel angezündet haben und verurteilt wurden? Und wie würde sich das vertragen mit der Grundidee, jeder hätte eine zweite Chance verdient?
  • Keine Abschiebung
    Es gibt eine Reihe an möglichen Gründen, warum eine Abschiebung nicht erfolgen kann. Zuerst sind hier die Voraussetzungen für eine Abschiebung aus § 34 AsylG zu nennen, die eine Abschiebungsandrohung an das Vorliegen einer Entscheidung im Asylverfahren knüpft. Ferner gibt es die oft diskutierten Abschiebehemmnisse, die als Abschiebeverbote in §60 AufenthG oder als Duldung in §60a AufenthG beschrieben sind. Martin Ferber gibt selbst in einem Artikel einen Überblick. Doch abgesehen von solchen juristischen Gründen stellt sich die Vermutung ein, eine strikte Abschiebung sei eine "Lösung" nach dem Sankt-Florian-Prinzip. Warum sollten die Zielländer einer solchen massenweisen Abschiebung von Terroristen und Schwerkriminellen zustimmen? Sie werden sich mit Händen und Füßen wehren. Und nicht übersehen werden sollte, dass die Abgeschobenen sich in den Zielländern erst recht den Terrororganisationen anschießen könnten oder selbst als Terrorwerber weitere potentielle Terroristen generieren. So erhöht sich die Gefahr für Deutschland, die mit der Abschiebung gemindert werden sollte.

Druck machen

Martin Ferber schreibt in einem ersten Lösungsansatz:
"[...] möglicherweise durch die Einrichtung von Transitzonen im grenznahen Gebiet, bis die Identität geklärt ist."
Blenden wir alle möglichen Schwierigkeiten mit solchen Transitzonen aus wie das Recht auf Freizügigkeit, aus den beengten Verhältnissen dort entstehende soziale Probleme, Einschränkungen bei der Klärungsmöglichkeit von Identitäten überhaupt etc. Es wird sich die Frage stellen, wo solche Transitzonen geschaffen werden können. Wieder winkt Sankt Florian: Die Zonen sollen entstehen an der Grenze, im Wald, aber bitte nicht bei uns in unserer Stadt, in unserem Dorf. Wenn sie im Wald versteckt sind, macht es auch nichts, dass sich die besonders lange dort aufhalten, die mit unredlichen Absichten eingereist sind, die kein Interesse an der Identitätsfeststellung haben und eine Gruppe Gleichgesinnter vorfinden, mit der sie dann lange über ihre Pläne diskutieren können. Sind die Pläne reif, werden sie die Transitzone auf eigene Faust verlassen, unter- und zum finalen Akt wieder auftauchen.
Martin Ferber schreibt weiter:
"Zudem muss der Druck auf die Herkunftsländer massiv erhöht werden, ihre rechtskräftig verurteilten Staatsbürger zurückzunehmen, notfalls durch Kürzung oder Aussetzung der Entwicklungshilfe."
Nun ja, warum sollen sich die Länder dem Druck beugen? Wäre es für die Länder nicht sinnvoller, noch viel strikter zu behaupten, der Verurteilte wäre keiner ihrer Staatsbürger? Wenn die Person keine Papiere hat und der fremde Staat sich weigert, zur Aufklärung substantiell etwas beizutragen, bleibt von der Forderung nach höherem Druck nicht viel mehr als heiße Luft.
Der Ruf nach Kürzung oder Aussetzung der Entwicklungshilfe sollte nicht ohne einen Blick auf die Entwicklungshilfestatistik der OECD erfolgen:


Der Großteil der Entwicklungshilfe floss in "Unspecified" Zielländer (oberster Balken) und zum größten Teil (brauner Teilbalken) für "Refugees in donor countries", also Flüchtlinge in Deutschland. Die zumeist größten Anteile der Entwicklungshilfe gehen in "Social Infrastructure" (rote Teilbalken) oder in "Economic Infrastructure" (blaue Teilbalken). Würde die Entwicklungshilfe gekürzt, muss also die Frage beantwortet werden, wem damit geschadet würde. Vielleicht träfe es genau die Menschen, die sich bereits jetzt als Migranten auf eine abenteuerliche Reise nach Deutschland machen. Für sie würde sich die Lage im Heimatland verschlechtern und sie hätten einen Grund mehr zum Hass auf Deutschland: Deutschland wäre Schuld an der Lageverschlechterung. Damit wäre nichts gewonnen, weder für die Sicherheit in Deutschland noch für die Reduktion der Migrationszahlen.

Fazit

Auch wenn der Ruf nach Härte populär ist, dem Terror wird man nur in Einzelfällen mit harter sicherheitsdienstlicher oder polizeilicher Arbeit beikommen. Das wird auf Dauer aber so wenig funktionieren wie mit einem Eimer ein leckgeschlagenes Boot zu retten. Dem Terror wird man nur in der Gemeinschaft Herr, zu der auch die Länder gehören, die den Terror fördern. Nach Sankt Florians Art die Probleme an die Gemeinschaft zu externalisieren, die man intern nicht haben möchte, zeugt nicht von politischer Weitsicht. In den Herkunftsländern werden sich mehr potentielle Terroristen finden als die deutsche Staatsgewalt Ressourcen zu deren Beobachtung hat. Der Ruf nach Härte, nach Druck ist leicht zu propagieren, hält aber einem zweiten Blick nicht stand. Er berücksichtigt nicht mögliche Ausweichmanöver anderer, er überzeugt nicht und entpuppt sich auf Dauer als unwirksam.

Donnerstag, 22. Dezember 2016

Rudi Wais' Kontrollverlust

Rudi Wais hat in der Augsburger Allgemeinen vom 22.12. einen Leitartikel veröffentlicht mit der Frage, ob der Staat versagt hat im Zusammenhang mit dem Attentat in Berlin:


Rudi Wais stellt einige notwendige Fragen:
"Wie, zum Beispiel, kann es sein, dass die Nachrichtendienste einen Mann aus den Augen verlieren, den mehrere Behörden unabhängig voneinander als Gefährder eingestuft haben? Warum wird dieser Mann in Deutschland noch geduldet, obwohl er straffällig geworden ist, sein Asylantrag längst abgelehnt wurde und er offenbar sogar schon in Abschiebehaft saß?"
Dabei schneidet er zwei unterschiedliche Themengebiete an:
  1. Polizeiliche und nachrichtendienstliche Arbeit
    Der bekannte Gefährder wurde überwacht und aus den Augen verloren. Dieses Versagen weist in die selbe Richtung wie die Informationslücken im Zusammenhang mit dem Freiburger Mord an einer Studentin. Offenbar gelingt es den Behörden immer wieder, trotz vorhandener Informationen über potentielle oder bekannte Täter, die richtigen Schlüsse zu ziehen und wirksame Maßnahmen zu ergreifen, wodurch Anschläge vereitelt werden können. Aber des gibt auch immer wieder Fälle, wo Täter untertauchen können, wo Informationen nicht oder nicht schnell genug ausgetauscht oder fehlerhaft interpretiert werden. In solchen Fällen kann es zu Anschlägen oder Anschlagsversuchen kommen.
  2. Asylrecht, Abschiebung und Bleiberecht
    Das Asylrecht räumt die Möglichkeit ein, einen Asylantrag zu stellen. Dieser Antrag wird von den zuständigen Behörden bearbeitet und entschieden. Die Entscheidung kann mit rechtsstaatlichen Mitteln angefochten werden. Im Endergebnis kann es für den Antragsteller zu einer Erlaubnis zum Aufenthalt kommen, nur zu einer Duldung oder zu einer Aufforderung zur Ausreise. Die Ausreise kann schließlich erzwungen, zur sprichwörtlichen Abschiebung werden.
Rudi Wais macht diese Unterscheidung nicht, wenn er schreibt:
"Mit der Beschwichtigungsrhetorik der vergangenen drei Tage allerdings wird die Koalition die Menschen kaum beruhigen können [...]
Horst Seehofers Aufforderung an Angela Merkel, ihre Flüchtlingspolitik noch einmal zu überdenken und neu zu vermessen, ist deshalb keine populistische Provokation, sondern eine schlichte Selbstverständlichkeit. [...]
Hat die Kanzlerin in ihrem Eid nicht geschworen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden?"
Wer auf notwendige Differenzierungen hinweist, wird als Beschwichtigungsrhetoriker ausgegrenzt. Im besten Populistendeutsch kommt der Seitenhieb auf den Eid, mit dem Schaden vom deutschen Volk abzuwenden sei - gerade so, also ob die Politik Nichtdeutsche nicht zu schützen habe.

Notwendige Differenzierung

Würde die notwendige Differenzierung erfolgen, können Maßnahmen zielgerichteter diskutiert werden. Im Fall der polizeilichen Arbeit könnten Fragen nach personeller und technischer Ausstattung gestellt werden, nach Ausbildung, nach behördlicher, nach bundesländerübergreifender und staatenübergreifender Kooperation. Man könnte diskutieren, ob Freiheit und Sicherheit zwei Seiten einer Medaille sind und ob oder wie stark eine Seite bevorzugt werden kann. Man könnte diskutieren, wie viel Sicherheit, wieviel Überwachung in einem freiheitlichen Land möglich sind, ohne die freiheitlichen Grundwerte zu verraten.
Rudi Wais kommt hingegen mit dem Asylthema aus. Dabei kann er Seehofer hofieren und beachtliche Verbindungen herstellen:
"Der neue Verdächtige Anis Amri gehört nach allem, was man bisher weiß, zwar nicht zu den Flüchtlingen, die unkontrolliert und in gewaltiger Zahl über die Balkanroute gekommen sind – aber macht das noch einen Unterschied? Ein Islamist ist ein Islamist, egal wie lange und mit welchem Aufenthaltsstatus er sich in Deutschland aufhält."
Anis Amri gehört "nicht zu den Flüchtlingen, die unkontrolliert [...] gekommen sind", dennoch zielt Rudi Wais nur auf das Asylrecht, wie er einige Sätze weiter zeigt:
"Und das heißt auch, dass jeder Asylbewerber so genau unter die Lupe genommen werden muss, dass am Ende klar ist, mit wem Deutschland es da zu tun hat."
Es spricht nichts dagegen, Asylbewerber zu prüfen, ob ihre Angaben korrekt sind und ob ein Asylgrund besteht. Es spricht auch nichts dagegen, diejenigen zur Ausreise aufzufordern, die nicht bleiben dürfen. Und es spricht nichts dagegen, überführte Straftäter so zu behandeln, wie es Straftätern gebührt. Allerdings sollte nicht der Eindruck erweckt werden, eine Verschärfung von Asylverfahren und schnellere Abschiebungen würden die Sicherheitslage deutlich verbessern. Das BAMF veröffentlicht regelmäßig Asylzahlen und zeigt in der aktuellen Statistik von November:


Von den in 2016 insgesamt entschiedenen Anträgen wurde ein knappes Viertel abgelehnt. Wie bitte soll sich die Sicherheitslage deutlich verbessern, wenn dieses Viertel konsequenter abgeschoben würde? Rudi Wais schreibt selbst:
"Offenbar hat Anis Amri seine Identitäten gewechselt wie andere Leute ihre Wäsche"
Ich bin mir sicher: Wer als Flüchtling getarnt nach Deutschland reist, um einen Anschlag zu verüben, dem wird es gelingen, trotz eines verschärften Asylgesetzes zu bleiben - legal oder illegal. Selbstverständlich sind Islamisten zu überwachen und zu gegebener Zeit aus dem Verkehr zu ziehen. Dies gilt in gleichem Maße für Rechts-, Links- und andere Extremisten. Dennoch gilt es im Hinterkopf zu behalten, dass Deutschland ein Rechtsstaat ist. Zu einem Rechtsstaat gehört die Möglichkeit, getroffene behördliche Entscheidungen zu hinterfragen, also vor Gericht zu bekämpfen zu dürfen, soweit es der Rechtsweg erlaubt. Wer hier kurzen Prozess machen will im Sinne von Ablehnung = Abschiebung, sollte sein Verständnis von Rechtsstaat ernstlich hinterfragen. Der bekämpft nicht "dieses Gefühl des Ausgeliefertseins, das Wähler aus fast allen politischen Lagern in die Arme der AfD treibt", sondern der planiert den Weg zur AfD, die ohne Schamgrenze jede noch so abwegige Forderung spielend überbieten kann.
Der IS kann auch außerhalb der Flüchtlinge rekrutieren, wie die Anschläge von Brüssel gezeigt haben. Deshalb ist es Beschwichtigungsrhetorik, wenn so getan wird, als wäre eine Verschärfung des Asylrechts Excalibur, das als Wunderwaffe "eine Reihe von Rissen in unserer hochgelobten Sicherheitsarchitektur" kitten könnte.
Mir wäre es lieber, es würden alle für Extremismus anfälligen Personenkreise zur Zielgruppe staatlicher Vorbeugemaßnahmen und nicht nur die Flüchtlinge. Wenn fortlaufend nach verbesserter Sicherheit gerufen wird, setzt das zu spät an. Mein Sicherheitsgefühl würde steigen, wenn die Entstehung von Extremismus bekämpft würde und nicht nur einige Extremisten kurz vor der Tat erwischt würden. Mein Sicherheitsgefühl würde steigen, wenn nicht willkürlich eine leicht erkennbare Teilmenge als vermeintliche Gefahr dargestellt würde, sondern die Gefahr durch Extremismus insgesamt. Dabei kann ein Blick in den Verfassungsschutzbericht 2015 nicht schaden, in dem es auf Seite 24 heißt:
"Nach Phänomenbereichen unterschieden wurden 22.960 (2014: 17.020) Straftaten dem Bereich 'Politisch motivierte Kriminalität – rechts', 9.605 (2014: 8.113) dem Bereich 'Politisch motivierte Kriminalität – links' und 2.025 (2014: 2.549) dem Bereich 'Politisch motivierte Ausländerkriminalität' zugeordnet. Bei 4.391 (2014: 5.018) Straftaten konnte keine Zuordnung zu einem der o.g. Phänomenbereiche getroffen werden."
Wird ein solcher Blick als "statistischer Kunstgriff" abgetan, wird aus dem ernsthaften Bemühen um eine Verbesserung der Sicherheit schnell Beschwichtigungsrhetorik für die angeblich berechtigten Ängste und Sorgen der Bürger.

Schlusswort

Das heutige Schlusswort gebührt der Augsburger Allgemeinen, die behauptet, der 15 jährige Täter eines Messerangriffs auf einen Bundespolizisten Ende Februar sei vor Gericht. Andere Medien wie die "örtlich zuständige" Hannoversche Zeitung berichteten hingegen von einer Täterin.


Mittwoch, 21. Dezember 2016

Walter Rollers Heimsuchung

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 21.12. einen Leitartikel veröffentlicht nach dem Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt:


Walter Roller schreibt zum Ausblick richtig:
"Der Terrorismus, dessen Brutstätten im Mittleren Osten liegen und der sich mitten in Europa in islamistischen Milieus seine 'Gotteskrieger' herangezüchtet hat, führt Krieg gegen alle freien Gesellschaften und wird uns noch viele Jahre in Atem halten."
Dieser Ausblick bildet die Grundlage für seine weiteren Ausführungen und dient als Begründungsplattform für seine Forderungen. Wie er bei seinen Ausführungen und Forderungen vorgeht, verdient nähere Betrachtung.

Walter Rollers Selbst-Widerspruch

Walter Roller schreibt:
"Noch sind Hintergründe und genauer Hergang des Attentats nicht hinreichend aufgeklärt. Weder besteht Klarheit über die Identität des Täters und mögliche Hintermänner [...]"
Das hindert ihn nicht an der Schlussfolgerung:
"Zweitens besteht nun nicht mehr der geringste Zweifel daran, dass die unkontrollierte Massenzuwanderung die Sicherheitslage verschärft hat und im Strom der Flüchtlinge auch Terroristen ins Land gelangt sind."
Ohne Klarheit über den Täter und mögliche Hintermänner steht für Walter Roller fest, dass die Massenzuwanderung und der Strom der Flüchtlinge Schuld sind. Nicht der IS, nicht seine ausgefeilten Rekrutierungsmethoden, nicht weltpolitische Gräben und propagierte Wir-versus-Die-Gruppen, nicht die sozialen Medien mit ihren Dynamiken, nicht wirtschaftliche Gründe, nicht soziale Gründe. Im September war er noch differenzierter:
"Es ist wichtig, gegenüber der verunsicherten Bevölkerung immer wieder darauf hinzuweisen, dass die allermeisten muslimischen Flüchtlinge weder mit dem Islamismus sympathisieren noch potentielle Gewalttäter sind."
Doch Walter Roller legt weiter auf und schreckt vor Unwahrheiten nicht zurück.

Walter Rollers Lüge

Die AfD, vielmehr André Poggenburg von der AfD, hat sich zur Einordnung des Anschlags geäußert:
"AfD-Fraktionschef André Poggenburg sagte heute in Magdeburg dazu: 'Wir trauern um die vielen toten und verletzten Menschen in Berlin. Dieser Anschlag zeigt eindeutig, dass der Terror in Deutschland endgültig angekommen ist. Wir reden nicht mehr nur von einer abstrakten Gefahr. Es handelt sich um einen Anschlag auf unsere Menschen, unser Land und unsere Freiheit. Er ist die direkte Folge einer Politik des Multikulti um jeden Preis und der Preis ist auch die Sicherheit unserer Bürger. Nach jetzigem Stand kann man davon ausgehen, dass es sich um einen gezielten Angriff auf unsere christlich-abendländische Kultur und unsere Wertvorstellungen durch den Islamismus handelt. Jeder der weiterhin leugnet, dass der Islam in direkter Verbindung mit dem islamistischen Terror steht, macht sich mitschuldig an jedem weiteren Opfer. Wir müssen nun zeigen, dass wir eine wehrhafte Nation sind, dass wir niemals akzeptieren werden, wenn Terroristen unsere Grundfesten bedrohen.'"
Walter Roller schreibt zur beginnenden politischen Debatte:
"Mit Ausnahme der AfD, die den Massenmord sogleich in fremdenfeindlicher Manier auszuschlachten versuchte, sind die ersten Reaktionen von Besonnenheit geprägt."
Walter Roller hat Recht, von der AfD liegt eine Äußerung vor, siehe oben. Allerdings wird in der gleichen Ausgabe der AZ im Artikel "Merkels schwerstes Jahr" und inzwischen auch online Horst Seehofer von der CSU zitiert:
"Nach dem mutmaßlichen Terroranschlag auf einen Berliner Weihnachtsmarkt fordert CSU-Chef Horst Seehofer eine Überprüfung und Neujustierung der deutschen Flüchtlingspolitik. 'Wir sind es den Opfern, den Betroffenen und der gesamten Bevölkerung schuldig, dass wir unsere gesamte Zuwanderungs- und Sicherheitspolitik überdenken und neu justieren', sagte der bayerische Ministerpräsident am Dienstag zu Beginn einer Kabinettssitzung in München."
Neben der AfD gibt es auch schon Forderungen seitens der CSU. Dies verschweigt Walter Roller, hier lügt er. Die Forderung der CSU ist keine besonnene. Wer sich die Aufzeichnungen rund um dieses Zitat beispielsweise im TV anschaut, wundert sich über die seltsame Kombination aus augenscheinlicher Betroffenheit Seehofers über den Anschlag und seiner Forderung, die Politik zu  überdenken und zu justieren. Perfide, wie er die Opfer und Betroffenen zu seinen Zeugen beruft.

Walter Roller als Demokratiefeind?

Durch viele Beiträge hindurch hat Walter Roller eine harte Linie vertreten. Bisher war er dabei noch auf einem Pfad unterwegs, der sich mit einem europäischen Demokratieverständnis in Einklang bringen ließ. So schrieb er im November:
"Aber Trumps Sieg ist ein Warnsignal, dass die liberale, pluralistische Demokratie keine Ewigkeitsgarantie besitzt. Sie muss stets aufs Neue verteidigt und so gestaltet werden, dass sie das Vertrauen der Menschen behält."
Er sah die liberale, pluralistische Demokratie als schützenswert. Im August schrieb er:
"Die Union steht wie keine andere Partei für einen wehrhaften Staat, der Sicherheit und Freiheit als zwei Seiten einer Medaille begreift."
Inzwischen klingt das anders:
"Der beunruhigte Bürger braucht die Gewissheit, dass der Staat alles Menschenmögliche tut, um ihn zu schützen.
[...]
Die Verteidigung der freien Gesellschaft und unserer Art zu leben erfordert einen kühlen Kopf und Nervenstärke – und einen noch entschlossener handelnden Staat, der die größtmögliche Sicherheit seiner Bürger mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu gewährleisten versucht."
Inzwischen geht es nur noch um "alles Menschenmögliche", um "größtmögliche Sicherheit", die "mit allen rechtsstaatlichen Mitteln" erreicht werden soll oder muss. Die Sicherheit ist Walter Rollers Primat, dem sich alle anderen Werte unterzuordnen haben. Er geht diesmal noch weiter als vor ein paar Tagen, als er über den Mord an einer Studentin in Freiburg und die Erwartungen der Bürger gegenüber dem Staat von einer "Geschäftsgrundlage" sprach. Wikipedia definiert einen Polizeistaat so:
"Polizeistaat ist eine kritische Bezeichnung für einen Staat, dessen Organe nicht rechtlich gebunden handeln und die sich im Gegensatz zu heutigen rechts- und verfassungsstaatlichen Vorstellungen wegen einer mangelhaften Gewaltenteilung nicht effektiv gegenseitig kontrollieren. Charakteristisch ist eine starke Stellung der Polizei und anderer staatlicher Sicherheitsdienste (wie die Geheimpolizei) [...]"
Walter Roller fordert keine übergesetzliche Polizei oder übergesetzlichen Sicherheitsdienste. Allerdings wird zunehmend unklar, welche demokratischen Grundwerte er als Begrenzung sicherheitsdienstlicher Aktivitäten akzeptieren möchte, weshalb ihm die abgewandelte Gretchenfrage zu stellen ist:

Nun sag, wie hast du’s mit der Demokratie?

Sonntag, 18. Dezember 2016

Walter Rollers Staatsvertrag

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 17.12. einen Leitartikel veröffentlicht zu Schlussfolgerungen aus dem Mord an einer Studentin:


Walter Roller schreibt:
"Sicherheit ist die Geschäftsgrundlage im Vertrag des Bürgers mit seinem Staat und seiner Demokratie. Versagt der Staat auf diesem Gebiet, geht das Vertrauen in ihn verloren - zur Freude jener Populisten, die einen Mordfalls zur Stimmungsmache gegen alle Flüchtlinge ausschlachten."
Richtig, die Sicherheitsgarantie des Staates auch die Grundlage für unsere Rechtsauffassung, nach der eben nicht Selbstjustiz und das Recht des Stärkeren das Zusammenleben regeln. Darum ist eine Einordnung der Bluttat notwendig. Walter Roller schreibt hierzu:
"Der Mord von Freiburg ist ein Weckruf an den Staat, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um die [...] Sicherheitsprobleme einzudämmen. Dieses Verbrechen darf nicht, wie es in rechtsradikalen, fremdenfeindlichen Milieus nun geschieht, zur Hetze gegen die Flüchtlingspolitik missbraucht werden. Die pauschale Verdächtigung von Muslimen ist abscheuliche Stimmungsmache."
Richtig. Dies führt unmittelbar zur Frage, welche Aspekte der Tat wie eingeordnet werden können. War es ein Mord wie jeder andere auch oder nicht? Er war ein Mord wie jeder andere, wenn man eine Frau als Opfer, einen Mann als Täter sowie eine sexuell konnotierte Bluttat als "üblich" bezeichnen will. Der Mord war nicht wie jeder andere, weil der Täterkontext sowie das folgende mediale Interesse besonders sind. Die Besonderheiten dieses Mordes müssen besonders gewürdigt werden.
Die Reiseroute des Verdächtigen ist relevant, weil es dem in Griechenland bekannten Gewalttäter trotz allem gelungen ist, nach Deutschland zu kommen und dort trotz Registrierung keine Warnlampen angingen. Martin Ferber berichtet in der Printausgabe über einen Streit "hinter den Kulissen über Schuldfragen" zwischen Berlin und Athen. Danach behauptet Griechenland, die "Fingerabdrücke als auch die Personalien des mutmaßlichen Täters seien im Jahr 2013 in die EU-Datenbank 'Eurodac' eingespeist" und so allen europäischen Sicherheitsbehörden zugänglich gemacht zu haben. Nach dem Untertauchen des Verdächtigen sei Interpol "möglicherweise zu spät" informiert worden. Unabhängig davon, wen welche Schuld trifft, hat das gesamte System versagt: Ein bekannter Gewalttäter konnte in Europa reisen und in Deutschland unentdeckt vor Behörden auftreten.
Walter Roller schreibt zur Einordnung des Verbrechens:
"Dieses Verbrechen führt eben eindringlich vor Augen, dass die weitgehend unkontrollierte Masseneinwanderung Deutschland (noch) unsicherer gemacht hat und die Ängste der Bevölkerung vor wachsender Kriminalität keine Hirngespinste sind."
Im Stile Rechter stellt er die Tat in einen Bezugsrahmen zur "unkontrollierte[n] Masseneinwanderung". Weitere Ursachen bietet er nicht an, obwohl sich eine Reihe an Möglichkeiten und Beispielen fände:
  • Patriarchale Grundhaltung des Täters, nach denen Frauen als minderwertig und verfügbar gelten und den Schaden haben, wenn sie sich zu wehren wagen
  • Defizite in der Impulskontrolle, wodurch kleine Anlässe zu eruptiven Handlungen führen
  • Defizite im Ausleben sexueller Fantasien und die Unfähigkeit, sie konstruktiv zu bearbeiten
  • Persönlicher Machtanspruch, der sich im speziellen Fall gegen eine Frau gerichtet hat, aber auch Männer hätte treffen können
Walter Roller genügt jedoch die Ausländereigenschaft des Täters und er spannt den Bogen weiter auf:
"Wir haben ein Sicherheitsproblem, das sich nicht nur an einzelnen 'Flüchtlingen' und deren Straftaten, sondern vor allem auch an osteuropäischen Banden, arabischen Clans, 'rechtsfreien' Räumen und nicht abgeschobenen, straffällig gewordenen Asylbewerbern festmacht. So sind die Realitäten."
Ja, es gibt spezifische Kriminalitäten, die sich schwerpunktmäßig an bestimmten Personengruppen festmachen lassen. Die von Walter Roller konstruierte Realität begnügt sich mit dieser Zuordnung, ohne weiter zu fragen. Er begnügt sich mit Erklärungen im Stile "der Russe ist", "der Bulgare ist", "der arabische Clan ist". Dabei ist es für einen funktionierenden Kampf gegen die Kriminalität notwendig, die Hintergründe zu verstehen. Ohne das wird sich keine Sicherheit garantieren lassen, außer neben jedem Osteuropäer steht dauerhaft ein Polizist. Doch eine ernsthafte Suche nach Hintergründen ist nicht die Sache von Walter Roller:
"Aber das kann ja nicht heißen, die Probleme zu verniedlichen oder -  wie im Fall der unzweifelhaft angestiegenen Ausländerkriminalität - mit statistischen Kunstgriffen zu verschleiern."
Was Walter Roller als statistischen Kunstgriff bezeichnet, ist das kleine Einmaleins der seriösen Dateninterpretation. Es ist kein Kunstgriff, im geeigneten Moment Anteile und %-Werte zu betrachten und nicht auf Absolutzahlen zu schauen.
So simpel die Analyse, so simpel die Grundrichtung der Lösung:
"Das Bedrohungsgefühl vieler Bürger mag größer sein als die tatsächliche Gefahr. Doch die Sorgen vor wachsender Unsicherheit sind, zumal auch vor dem Hintergrund eines zu übertriebener Toleranz neigenden Rechtsstaates, gut begründet."
Walter Roller räumt ein, dass zwischen gefühlter und tatsächlicher Gefahr ein Unterschied bestehe. Die gefühlte Gefahr führt er auf übertriebene Toleranz des Staates zurück. In die gleiche Kerbe schlägt er mit dieser Bemerkung:
"Und was, nur ein Beispiel, soll der Bürger davon halten, dass von den Tätern der Kölner Silvesternacht bisher ganze drei (und zwei nur zur Bewährung) verurteilt wurden?"
Er lässt das stehen, ohne Hinweis auf Ursachen, ohne Begründung. Der Rechtsstaat und seine Regeln, nach denen die Schuld eines Täters zweifelsfrei nachzuweisen ist, haben zu dem Ergebnis geführt. Walter Roller will keinen solchen Rechtsstaat. In seinem Rechtsstaat zählt die Volksstimmung mehr als gleiches Recht für alle. Sein Rechtsstaat ist unnachsichtig, Abschiebung ist wichtiger als die Berücksichtigung von Abschiebehemmnissen (über die diskutiert werden kann und sollte). Walter Rollers Staatsvertrag führt augenscheinlich weg von unserem derzeitigen Staatsverständnis, hin zur Morgendämmerung eines Polizeistaates. Obwohl Walter Roller vor dem Missbrauch der Freiburger Tat durch Populisten warnt, liegt er ganz auf ihrer Linie und beweist damit, wie weit in die Mitte rechtes Gedankengut bereits ragt.

Freitag, 16. Dezember 2016

Armer schwarzer Söder

Jörg Sigmund kommentiert in der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen vom 16.12. die Vorgänge um den Verdächtigen an einer Gewalttat in Freiburg:


Jörg Sigmund fragt zu Recht:
"Wie konnte so etwas passieren? Warum ist es möglich, dass ein Flüchtling in Griechenland [...] verurteilt wird, mit Bewährungsauflagen entlassen wird, abtaucht, unerkannt nach Deutschland kommt"
Die Antwort gibt er selbst:
"Ohne Zweifel haben die griechischen Behörden versagt. Gleichwohl ist der Fall auch ein Beleg dafür, dass es nach wie vor erhebliche Mängel in den Sicherheitssystemen gibt [...]"
Wahrscheinlich wirkten vielfältige Aspekte auf das Ergebnis hin: Daten wurden nicht gepflegt, Datenbestände nicht abgeglichen, Informationen flossen nicht in der notwendigen Art und Weise.
Jörg Sigmund schreibt, der bayerische Finanzminister hätte bereits im Herbst 2015 davor gewarnt, dass auch "Terroristen und Kriminelle ins Land kämen" und der CSU-Politiker "damals aufs Schärfste attackiert" worden wäre. Ja, zu Recht. Denn Söder hat nicht davor gewarnt, dass einzelne Kriminelle kämen, sondern er hat den Eindruck erweckt, als kämen sie in Massen. Für manche seiner Forderungen im Herbst 2015 wurde Söder sogar von Seehofer zurückgepfiffen, wie seinerzeit beispielsweise die Süddeutsche Zeitung berichtet hat. Die Kritik an Söder war als gerechtfertigt, weil er über das Ziel hinausschoss, auch wenn er im Kern auf richtige Aspekte hingewiesen hat.

Doppelpass ins Aus

In der Augsburger Allgemeinen vom 15.12. hat Walter Roller einen Leitartikel zur doppelten Staatsbürgerschaft veröffentlicht:


Walter Roller schreibt, der "alte Glaubensstreit" flamme wieder auf und nennt als Ursache:
"Richtig ist, dass die Union mit diesem emotional aufgeladenen Thema nationalkonservative Wähler von der AfD zurückgewinnen will."
Dem kann ich zustimmen. Eröffnet wurde der Streit, der seit 2013 beigelegt schien, durch den CDU-Parteitag und einem knapp angenommenem Antrag. Zur Umsetzungsperspektive in der aktuellen Koalition bzw. Regierungskonstellation schreibt Walter Roller:
"Richtig ist auch, dass sich auf absehbare Zeit keine Regierungsmehrheiten für die Rückkehr zur Optionspflicht finden lassen dürften."
Diese Einschätzung teile ich. Trotz der geringen Aussicht auf Realisierung fordert Walter Roller:
"Trotzdem muss es erlaubt sein, den Mythos von der segensreichen Wirkung des Doppelpasses – etwa 600000 Türken haben mittlerweile zwei Staatsangehörigkeiten – im Lichte der Realitäten und neuer Entwicklungen zu hinterfragen, ohne gleich als 'rechts' abgestempelt zu werden."
Natürlich ist die Frage nach den Wirkungen politischen Handelns erlaubt und sogar unbedingt erforderlich. Walter Roller nennt als ersten Punkt seiner Analyse:
"Erstens ist der Doppelpass, wie die Entstehung türkischer und muslimischer Parallelgesellschaften zeigt, kein Allheilmittel der Integration, sondern fördert im Gegenteil in vielen Fällen die Tendenz zur selbst gewollten Abschottung."
Richtig, ein Doppelpass ist kein Allheilmittel. Er kann von einem echten Motivator, einem echten Bekenntnis zu Deutschland über Rosinenpickerei (z.B. hinsichtlich des Wahlrechts) bis hin zu einer Tarnung alles sein. Weder wird er jemanden zu einem "perfekten Deutschen" machen, noch bietet er ausländisch aussehenden Menschen Schutz vor Pöbelei und Fremdenfeindlichkeit. Kein Rechter wird nach dem Pass fragen, bevor er mit der Eisenstange zuschlägt. Der zweite Teil der Behauptung, wonach die selbst gewollte Abschottung gefördert würde, bleibt ohne Beleg, sogar ohne schlüssige Begründung oder Wirkungserklärung und damit ohne Wert. Warum fällt mir hier der Begriff "Fake News" ein?
Walter Roller schreibt weiter:
"Zweitens schwappen die innertürkischen Konflikte zunehmend auf Deutschland über, wobei die Loyalität Hunderttausender mehr Erdogan und seinem Regime als dem deutschen Staat gilt."
Richtig, auch in Deutschland finden sich viele, die Erdogan zujubeln. Walter Roller liefert jedoch keinen Hinweis darauf, wie viele davon einen Doppelpass haben. Joachim Bomhard schreibt ebenfalls in der AZ-Ausgabe vom 15.12.:
"Nach den Ergebnissen einer ergänzenden Hochrechnung lebten zum Stichtag 31. Dezember 2015 zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime in Deutschland. Etwa jeder Zweite stammt aus der Türkei. Der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung liegt damit zwischen 5,4 und 5,7 Prozent."
Danach leben etwa 2 Millionen Türken in Deutschland, von denen lt. Walter Roller 600000 einen Doppelpass haben. Damit bleiben etwa 1,5 Millionen Türken ohne deutschen Pass, die für Erdogan demonstrieren dürften und mit der Diskussion um den Doppelpass nichts zu tun haben. Walter Roller führt keinen Nach- oder Hinweis an, dass die mit der höheren Loyalität gegenüber Erdogan anstelle gegenüber Deutschlands zwei Pässe haben. Und er führt nicht aus, welche Bekundungen von Türken in Deutschland erlaubt sein sollen. Ist Freude über die Niederschlagung des Putsches noch erlaubt oder nicht mehr? Oder ist erst die Forderung der Todesstrafe die Grenze? Er zeigt nicht, dass eine klare Entscheidung für oder gegen eine deutsche Staatsbürgerschaft die unerwünschten Proteste verhindern kann. Deshalb erneut die Frage, warum mir "Fake News" einfällt.
Weiter schreibt Walter Roller:
"Und drittens: Wie halten wir es in Sachen Doppelpass mit den vielen Flüchtlingen, die zu uns gekommen sind und noch kommen werden? Deren Integration ist eine immense Aufgabe. In der Debatte um den Doppelpass geht es letztlich auch um die Frage, wie diese Herausforderung am besten zu meistern ist."
Zuerst geht es um türkische Konflikte, die nach Deutschland getragen werden, dann um Flüchtlinge, bei denen meines Wissens nach noch niemand zum derzeitigen Zeitpunkt die Frage nach einer großflächigen Einbürgerung gestellt hat. Walter Roller konstruiert hier mit zwei Themen Berührungspunkte, die es nicht oder nicht so gibt. Verschwörungstheoretiker konstruieren ebenfalls aus unzusammenhängenden oder lose verbundenen Elementen ein vermeintliches Ganzes.
Walter Roller schreibt weiter:
"Niemand muss, wenn er in Deutschland leben will, seine Herkunft und seine Tradition abstreifen. Aber er sollte die in dieser Gesellschaft geltenden Regeln akzeptieren und sich zu diesem freiheitlichen Rechtsstaat bekennen. Der Pass ist mehr als ein Stück Papier. Warum soll sich ein Einwanderer nicht ohne Wenn und Aber dafür entscheiden, nur deutscher Staatsbürger zu sein und so seine Loyalität zu zeigen?"
Ganz einfach: weil das kein Beweis für die Loyalität ist. Walter Roller hat zu Recht darauf hingewiesen, der Doppelpass sei kein "Allheilmittel der Integration". Eine erzwungene Entscheidung zu einer eindeutigen Staatsangehörigkeit ist ebenfalls kein Allheilmittel der Integration. Vielleicht gibt es sogar keine generelle Tendenz in der Wirkung eines Doppelpasses bzw. einer Entscheidung für eine einzige Staatsbürgerschaft. Darum ist die Diskussion darüber keine faktengeleitete, sondern eine emotionale um des Kaisers Bart. Deshalb fällt mir zum wahrscheinlich richtig prognostizierenden Titel des Leitartikels "Der Doppelpass wird zum Wahlkampf-Thema" nur ein:

Wahlkampf! Mir graut's vor dir.

Sonntag, 11. Dezember 2016

Integration und Gesetz

Die Augsburger Allgemeine berichtet in ihrer Printausgabe vom 10.12. über die Verabschiedung des Integrationsgesetzes im Landtag:


Gegen den Widerstand der Opposition wurde das Gesetz durchgesetzt, mit dem Einwanderer auf die Achtung der Leitkultur verpflichtet werden. Für das Gesetz stimmten CSU-Abgeordnete, die anderen Abgeordneten stimmten dagegen oder enthielten sich. Uli Bachmeier kommentiert:


Uli Bachmeier schreibt:
"Die CSU ist mit ihrem Integrationsgesetz eindeutig über das Ziel hinausgeschossen. Es ist unter dem Eindruck der Flüchtlingswelle seit September 2015 und der Ereignisse der Kölner Silvesternacht entstanden und in fast schon panischer Angst vor einem weiteren Erstarken der AfD mit schneller Feder niedergeschrieben worden."

Wandlung des Gesetzentwurfes

Der Kommentar von Uli Bachmeier ist in so fern interessant, als in der Vorgangsmappe des Landtages der Drucksache 17/11501, die den frühen Entwurf für ein Bayerisches Integrations- und Partizipationsgesetz enthält, im ersten Satz behauptet wird:
"Auf die seit langem erfolgende Einwanderung nach Bayern wurde bislang nicht hinreichend reagiert."
In der Drucksache 17/11362, die die Abstimmung am 9.12. beschreibt, heißt es dann:
"Die Flüchtlingskrise und die Integration Zehntausender, die binnen kurzer Zeit in unser Land kommen, stellen Bayern vor enorme Herausforderungen finanzieller, kultureller und gesellschaftlicher Art, die bewältigt werden müssen, um das Land vor tiefen gesellschaftlichen Gräben und sozialen Konflikten zu bewahren."
Während aus der ersten Version nach tiefe Selbsterkenntnis und -kritik spricht, wird in der zweiten Version mit Gräben und sozialen Konflikten Angst geschürt. Wo im ersten Entwurf noch Nachholbedarf erkannt, das Fehlen einer gewachsenen integrationspolitischen Infrastruktur und die Entziehung des Freistaates aus seiner Verantwortung bemängelt wurde, schreibt die zweite Version:
"Die Orientierung an der Leitkultur gibt der Integration die notwendige Richtung. Für den sozialen Frieden ist entscheidend, dass es Regeln gibt, die alle kennen, die für alle gelten und die im Konfliktfall auch bestimmen, was zu gelten hat und was nicht, Regeln also, die von allen als nicht verhandelbar anerkannt werden. Dieser Grundkonsens der Leitkultur ist von besonderer Bedeutung für das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher sozialer Erfahrung und mit verschiedenen ethnischen, kulturellen und religiösen Prägungen."
Recht schwammig. Natürlich ist ein Satz an Regeln für ein Zusammenleben notwendig. Wenn diese Regeln aber "als nicht verhandelbar anerkannt" würden, gäbe es kein Frauenwahlrecht und Kinder dürften erzieherisch geschlagen werden, der Umweltschutz hätte nicht Verfassungsrang. So ganz strikt wird die CSU das also nicht gemeint haben, wofür der nächste Satz ein Indiz liefert:
"Die demokratische Verfasstheit des Gemeinwesens bindet umgekehrt alle Staatsgewalt an die Stimme des Volkes."
Mit der Stimme des Volkes scheint doch vieles verhandelbar zu werden. Auch das Unverhandelbare? Das erfordert einen sehr genauen Blick, insbesondere wenn das Unverhandelbare verhandelt werden soll. Hier erwarte ich mir von den gewählten Volksvertretern einen Mehrwert und nicht bloß ein geradliniges Durchreichen der Stimme des Volkes. Wie wandelbar die ist, zeigen die Ergebnisse politischer Umfragen mit ihren variierenden Präferenzen für oder gegen Themen, Parteien, Personen.
In der Präambel zum Gesetz heißt es dann weiter:
"Die nationalsozialistische Willkürherrschaft, die Verbrechen des Dritten Reichs und die Schrecken des Zweiten Weltkrieges haben gelehrt, dass allein eine grundrechtlich ausgerichtete Herrschaft des Rechts vor Terror, Diktatur und Spaltung bewahrt und Voraussetzung für Frieden und Freiheit ist. Jeder Einzelne ist daher zur Wahrung des Rechts und zur Loyalität gegenüber Volk und Verfassung, Staat und Gesetzen verpflichtet."
Wenn die "grundgesetzlich ausgerichtete Herrschaft des Rechts" vor Spaltung bewahrt, warum warnt die CSU dann ständig vor der Spaltung der Gesellschaft? Loyalität gegenüber Verfassung, Gesetzen kann zweifelsohne verlangt werden. Loyalität gegenüber dem Staat wird schwerer fassbar, weil der Staat vielgestaltig auftritt und nicht jede einzelne "Staatserscheinung" die volle Zustimmung erhalten wird. Noch schwerer wird es beim Volk. Wer ist das Volk, gegenüber dem Loyalität gefordert wird? Augsburger Volk, schwäbisches Volk, bayerisches Volk, deutsches Volk in den Grenzen vor 1989 oder danach? Oder sind es die, die deutsch sprechen? Inclusive Österreich?
Art. 1 des Gesetzes beschreibt die Integrationsziele:
"Es ist Ziel dieses Gesetzes, diesen Menschen für die Zeit ihres Aufenthalts Hilfe und Unterstützung anzubieten, um ihnen das Leben in dem ihnen zunächst fremden und unbekannten Land zu erleichtern (Integrationsförderung), sie aber zugleich auf die im Rahmen ihres Gastrechts unabdingbare Achtung der Leitkultur zu verpflichten und dazu eigene Integrationsanstrengungen abzuverlangen (Integrationspflicht)."
Zur Integrationsförderung finden sich Ausführungen in den weiteren Artikeln des Gesetzes. Dazu definiert der Art. 3 Allgemeine Integrationsförderung:
"(1) Bildung ist ein zentraler Schlüssel zur Integration. Der Staat unterstützt sowohl minderjährige als auch erwachsene Migrantinnen und Migranten darin, spezifische Bildungslücken auszugleichen, [...]
(2) Der Staat unterstützt Migrantinnen und Migranten durch geeignete Angebote in dem ihnen abverlangten Bemühen, sich mit den in der heimischen Bevölkerung vorherrschenden Umgangsformen, Sitten und Gebräuchen vertraut zu machen, soweit sich diese von denjenigen in den Herkunftsstaaten unterscheiden.
(3) Gelingende Integration bedarf der gegenseitigen Rücksichtnahme und Toleranz sowie des Respekts vor der Einzigartigkeit, der Lebensgeschichte und den Prägungen des jeweils anderen. Der Staat fördert an der Leitkultur ausgerichtete Angebote, die Migrantinnen und Migranten in politischer Bildung, deutscher Geschichte einschließlich der Lehren aus den Verbrechen des Dritten Reiches und in der Rechtskunde unterweisen und ihnen die heimische Kultur, Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung näherbringen."
Die in Art. 1 Integrationspflicht wird übrigens nicht weiter ausgeführt. Für die Integrationsförderung sei Bildung der zentrale Schlüssel zur Integration. Was für ein mechanistisches Weltbild! Integriert ist, wer viel über das Land weiß? Viel zu wenig. Integriert ist, wer eine emotionale Bindung aufgebaut hat. Integriert ist, wer die heimischen Umgangsformen, Sitten und Gebräuche angenommen hat. Es reicht nicht - wie in Abs. 2 geschrieben - sich mit ihnen vertraut zu machen. Eine emotionale Bindung wird gar nicht verlangt, es reicht sich zu bemühen. Dieses Bemühen wird abverlangt. Die CDU hat auf ihrem Parteitag beschlossen, die Optionspflicht wieder einzuführen. Demnach sollen sich "dauerhaft in Deutschland lebende Menschen mit Zuwanderungsgeschichte klar für oder gegen die deutsche Staatsangehörigkeit entscheiden." Was sich harmlos liest ist jedoch die Aufgabe der bisherigen Staatsangehörigkeit, um die deutsche zu bekommen. Die CSU findet das gut, wie die AZ berichtet hatte. Ich frage mich an der Stelle:
  • Was hat die CSU für ein Menschenbild, das in Kategorien des Entweder-Oder hantiert und das Sowohl-Alsauch ignoriert?
  • Wie soll eine emotionale Nähe zu Deutschland entstehen, wenn immer das Damoklesschwert der Aufgabe der bisherigen Identität über den Menschen schwebt?
  • Wie die CSU diese Integration definitorisch von einer Assimilation unterscheiden will?
In der Drucksache 17/11501 war die Unterscheidung noch möglich. Im Art. 2 Grundsätze heißt es:
"(1) Das Bewusstsein der Menschen mit und ohne Migrationshintergrund für gegenseitige Offenheit, Toleranz, Respekt und Veränderungsbereitschaft ist zu fördern."
Die Problembeschreibung am Beginn der Drucksache steht:
"Die moderne, aufgeklärte und plurale Gesellschaft wird von denen bedroht, die einen deutschen Leitkult zur Maxime erheben."
Mir schwirrt der Kopf. Im ersten Entwurf war von Toleranz die Rede, von Respekt, vom Leitkult als Gefahr. Doch nun sollen Migranten auf eine Leitkultur eingeschworen werden. Früher war der Leitkult etwas, das die moderne Gesellschaft bedroht. Doch zum Glück sind diese Passagen ohne klare Kante in der Drucksache 17/11362 gestrichen worden. "Leitkult" ist out, "Leitkultur" ist in.
Apropos Kultur: Der Art. 10 Rundfunk und Medien sagt:
"Die Angebote in Rundfunk und Telemedien sollen einen Beitrag zur Vermittlung der deutschen Sprache und der Leitkultur leisten."
Deutscher Schlager statt Bob Dylan? Gilt Andreas Gabalier als Beitrag? Oder Anne Will? Koch- und Quizshows? Big Brother und Shopping Queen auch? Ist das ein Teil des Bildungsauftrags aus dem Art. 3 des Gesetzes?

Selbstanzeige

Weil das alles sehr verwirrend ist, beschlich mich während der Lektüre des Gesetzes und der weiteren Ausführungen in den Dokumenten des Landtages ein wüster Verdacht:
  • Ich war schon im Ausland.
  • Manche Sitten und Gebräuche teile ich nicht.
  • Manches staatliche und politische Wirken sehe ich kritisch.
Liebe CSU, bitte beauftragen Sie die Bavaria Polizei, mich zu überprüfen. Ich möchte sichergehen, ausreichend integrationsgesetzeskonform integriert zu sein.

Schlusswort

Uli Bachmeier schließt seinen Kommentar mit einer Passage, die auch für meinen Eintrag hier einen schönen Abschluss bildet:
"Doch dass die Partei, die um ihre absolute Mehrheit in Bayern bangt, sich im Kampf gegen den Rechtspopulismus seiner Mittel bedient, könnte für sie auf längere Sicht zum Bumerang werden. Symbolpolitik verstellt den Blick auf die praktischen Leistungen Bayerns für die Integration. Wer von der AfD Applaus bekommt, sollte darüber nachdenken, warum."