Dienstag, 29. Dezember 2015

Walter Rollers Diskussionsbedarf

Walter Roller hat einen Leitartikel zur Integration von Flüchtlingen geschrieben:


Er schließt seine Analyse mit
"Insofern fordert diese Debatte auch den Deutschen eine Antwort auf die Frage ab, wofür sie stehen und was genau in ihrer 'Hausordnung' steht. Es gibt da einigen Diskussionsbedarf."
Richtig. Ich hoffe, es beteiligen sich möglichst viele an dieser Diskussion und nicht nur diejenigen, die vorgeben, das Volk zu sein und dabei ihre eigene Dumpfheit durch die Lautstärke ihrer kurzen Sätze zu kaschieren trachten. Denn dann wird aus einem "möglichst reibungslos einfügen" schnell ein Assimilieren, ein Ausradieren der Inspiration, die die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen bietet.

Ergänzung am 31.12.2015:
In der heutigen Ausgabe ist ein Leserbrief abgedruckt, in dem Rudolf Gentner träumt:
 

Wenn die Mitgliedschaften in Vereinen, die Liebe zum Fußball und die Teilnahme an Volksfesten die Essenz der "Hausordnung" im täglichen Leben sind, müssen wir die Diskussion beginnen mit der Frage nach dem Umfang der Hausordnung.

Montag, 28. Dezember 2015

I wünsch mir a stade Zeit

Joachim Herrmanns Irrlicht

Vor einigen Wochen hat der deutsche Innenminister Thomas de Maizière anlässlich der Anschläge in Paris gesagt, er könne bestimmte Fragen nicht beantworten, weil die Antworten die Bevölkerung beunruhigen könnten. Naja. In Bayern ist das anders. Da beunruhigt mich der Innenminister Joachim Herrmann mit dem, was er sagt.
Die Augsburger Allgemeine berichtet über Herrmanns Forderung, die Grenzen selbst zu bewachen:

 
Joachim Herrmann habe kein Verständnis, dass der Bund sein Angebot abgelehnt habe. Nach einer im Artikel erwähnten Sprecherin des Bundesinnenministeriums sei für die Grenzsicherung allein der Bund zuständig. In einem Artikel der Welt behauptet Joachim Herrmann, Bayern könnte mit einer einfachen Zustimmung des Bundesinnenministeriums die Grenzen selbst kontrollieren.
Joachim Herrmann bietet die Sicherung der Grenzen durch bayerische Polizisten an. Im September war wegen der Grenzsicherung noch von einer Überlastung der Polizei die Rede mit der Folge, bestimmte Dinge würden in den Dienststellen liegen bleiben. An anderer Stelle wurde geschrieben, es könnten sogar Bundesligaspiele ausfallen. Beides stellte Herrmann damals in Abrede.
 

Jürgen Marks' Kerzelein

Dem Artikel stellt Jürgen Marks einen Kommentar zur Seite:
 
 
Er schreibt:
"Wer in die USA einreisen will, muss allerlei persönliche Informationen preisgeben. Sogar den Namen seiner Eltern."
Und weiter unten:
"Vielleicht übertreiben die US-Behörden die Kontrollen aus Furcht vor weiteren Attentaten."
Jürgen Marks vergleicht hier allen Ernstes die legale und streng kontrollierte Einreise in die USA mit Einreisen, die in der AZ immer wieder als illegale Einreisen bezeichnet werden. Das "Flüchtlingsproblem" sind ja nicht die Einreisenden, die an einem Flughafen- oder Schiffsterminal geordnet ankommen, sondern diejenigen, die zu Fuß einreisen, teilweise auf Feldwegen. Die vielen einreisenden Terroristen, die "immer mehr Deutschen Angst" manchen, werden, nachdem sie ihren gefälschten Pass vorgelegt haben, sicherlich den Namen der Eltern wahrheitsgemäß angeben. Jeder mit einem gefälschten Pass ist ohnehin ein Terrorist, keinesfalls jemand, der seine Asylchancen erhöhen möchte durch den Pass eines asylwahrscheinlichen Herkunftslandes.
Diese Sätze von Jürgen Marks sind kein Kommentar. Sie sind ein Papageienecho auf die Vorschläge von Joachim Herrmann. Als Journalist hätte er beispielsweise zwei Punkte aufgreifen können:
  1. Zuständigkeit
    Nach §2 (1) des Bundespolizeigesetzes "obliegt [Anm. der Bundespolizei] der grenzpolizeiliche Schutz des Bundesgebietes (Grenzschutz), soweit nicht ein Land im Einvernehmen mit dem Bund Aufgaben des grenzpolizeilichen Einzeldienstes mit eigenen Kräften wahrnimmt." Nach Abs. (3) des Paragrafen ist hierfür eine "schriftlichen Vereinbarung zwischen dem Bundesministerium des Innern und dem beteiligten Land herzustellen, die im Bundesanzeiger bekanntzugeben ist". Abs. (4) ergänzt, dass sich hierbei "die Durchführung der Aufgaben nach dem für die Polizei des Landes geltenden Recht" richtet.
    Konklusio: Bayern könnte selbst die Grenzen sichern, wenn der Bund zustimmt.
  2. Ressourcenverfügbarkeit
    Der Bayerische Landtag beschäftigte sich am 15. Oktober 2015 in einer aktuellen Stunde mit der Überlastung der Polizei. Im Protokoll der Sitzung wird eine mögliche Ursache für die Beanspruchung der bayerischen Polizei genannt, auf die Jürgen Marks hätte eingehen können:
"Woher kommen die Probleme? Es gibt zu wenige Bundespolizisten und zu wenig Bereitschaftspolizei in den anderen Bundesländern. Das ist uns klar. Deswegen müssen bayerische Polizeibeamte – trotz der nicht mehr zu bewältigenden Lage in Bayern; wir haben es gehört – nach wie vor bei Großveranstaltungen, Demonstrationen und Fußballspielen außerhalb Bayerns helfen. Für die anderen Bundesländer rechnet es sich anscheinend, dass sie ihre Bereitschaftspolizei abgebaut haben. Aber unser Freistaat – im Konkreten: die Bayerische Staatsregierung – trägt das mit."
Wie's schon in der Überschrift steht: I tät mir a stade Zeit wünschn, wo i net a solchenes Gschwätz hörn muass.

Ergänzung am 29.12.2015: Nur einen Tag später, in der heutigen Ausgabe der AZ ist auf Seite 3 eine ganzseitige Reportage über die Belastung der Polizei und die Ursachen.

Samstag, 26. Dezember 2015

Stimmungen zu Weihnachten

Walter Rollers Deckmantel

An den Anfang der Diskussion stelle ich den Leitartikel von Walter Roller:


Walter Roller umreißt den Zwiespalt korrekt:
"Deutschland kann weder alle aufnehmen, die vor Armut, Verfolgung und Krieg fliehen, noch kann und darf es seine Tore verriegeln."
Leider hat sich das Wörtchen "alle" in den Satz geschlichen und damit die Problemstellung verzerrt. Nach etwas älteren Zahlen der Tagesschau waren im Libanon und in der Türkei jeweils über 1 Million Menschen untergekommen, in Jordanien und im Irak in Summe nochmal fast 1 Million. Wenn in Deutschland auch etwa 1 Million Menschen angekommen sein werden bis zum Jahresende, werden dennoch nicht "alle" gekommen sein.
Auf solch falschen Prämissen baut Walter Roller seine Argumentation weiter auf, um "den unauflöslichen Widerspruch zwischen dem edlen Wollen und dem beschränkten Können" zu untersuchen. Das Problem ist nur, dass er dabei dem Wollen das "alle" unterschiebt, das Können jedoch nicht spezifiziert. Der Hinweis, dass "die Akzeptanz der Bevölkerung verloren geht und die politische Stabilität in Gefahr gerät", ist als Richtschnur für ein begrenztes Können wenig hilfreich, weil weiterhin unkonkret. Zudem würde sich mit dieser Haltung jedwede Politik an Stimmungen orientieren und die von Walter Roller zitierte "praktische Vernunft" ignorieren.
Der Leitartikel macht vor allem Stimmung, wenn auch in verhaltenem Gewand. Neben dem Wörtchen "alle" kommt der Hinweis, dass "die Integration der aus einem fremden Kulturkreis stammenden Neuankömmlinge" gelingen muss. Richtig. Jedoch wird dies immer nur im Kontext der Flüchtlinge thematisiert. Warum wird es nicht thematisiert, wenn deutschstämmige Aussiedler aus Russland und Kasachstan einwandern? Warum war es kein Thema bei der Osterweiterung der EU in den Jahren 2004 und 2007, als diverse osteuropäische Länder in die EU eintraten? Hier wurde nicht die Kultur problematisiert, sondern die Gefahr eines Lohnrückganges oder Mitnahmeeffekte bei Sozialleistungen. Zudem bleibt offen, was der fremde Kulturkreis genau sei. Ist es die Religion? In Russland und Kasachstan wird auch kein westeuropäisches Christentum gelebt. Ist es das Demokratieverständnis? Die osteuropäischen Länder der EU-Erweiterung waren als ehemals kommunistische Länder wenig geübte Demokraten. Ist es die Unterdrückung der Frauen? Wie weit wir hier tatsächlich sind zeigt sich an der Diskussion um die Frauenquote. Natürlich fühlen wir uns moralisch erhaben über Männer, die das Kopftuchtragen verlangen. Bei uns sollen sich Frauen ja nur zu Hause um die Kinder kümmern, bitte ohne Kopftuch! Oder ist es wirklich die deutsche Pünktlichkeit, die Nachtruhe und die Mülltrennung, wie beispielsweise Deutschland für Anfänger erklärt? Ohne Zweifel bringt die Website Verhaltenshinweise, die ein Zusammenleben in Deutschland befördern. Dennoch klärt Walter Roller das Fremde an der Kultur der Flüchtlinge nicht auf, bleibt nebulös und schafft damit einen Aufhänger für Stimmungsmache.

Stefan Stahl lüftet den Mantel

Wo Walter Roller einen existenten Zwiespalt mit unterschwelliger Emotionalisierung diskutiert, geht der Leitartikel von Stefan Stahl vollends auf den Bauch los:


Die aktuelle Stärke der Wirtschaft resultiert nicht zuletzt aus der großen Zuversicht der Verbraucher. Stefan Stahl schreibt richtig:
"... versetzt den Staat in die Lage, die Integration von Flüchtlingen besser zu schultern. In einem Land wie Frankreich mit einer Rekordarbeitslosigkeit von 3,59 Millionen wäre Merkel mit ihrer Asylpolitik des Herzens rasch erledigt."
Richtig. Dieser Satz kann aber auch als Beweis dienen, dass vor allem Stimmungen das Geschehen bestimmen und keine Fakten oder die praktische Vernunft. Bei wirtschaftlicher Schwäche würde sich rasch das Gefühl breit machen, den Einheimischen würde genommen um es den Flüchtlingen zu geben. Ja, das Volk wäre empfänglich für solche Behauptungen. Die Angst ist "einer der Hauptfeinde der Wohlstands", wie Stefan Stahl schreibt. Als Determinanten für das Verbraucherverhalten fallen mir eine ganze Reihe möglicher Ängste ein:
  • Angst vor Arbeitsplatzverlust
  • Angst vor Inflation
  • Angst vor Deflation
  • Angst vor betrügerischen Autoherstellern
  • Angst vor Banken
Jedoch das Argument, ein Terroranschlag in Deutschland würde die wirtschaftliche Stabilität gefährden, ist an den Haaren herbeigezogen. Das müsste ein Anschlag sein im Ausmaß der Flugzeugabstürze in New York. Ich glaube nicht, dass ein Anschlag wie in Paris die wirtschaftliche Zuversicht der Bevölkerung nachhaltig stören würde. Die aktuellen Sanktionen gegen Russland dürften stärker wirken bei der Schwächung der deutschen Wirtschaft.
Stefan Stahl analysiert die Lage zutreffend. Es wäre besser gewesen, auf wahrscheinlichere Gefahren der Stabilität hinzuweisen wie beispielsweise
  • ein schwacher Euro könnte notwendige Importe verteuern - andererseits jedoch Exporte erleichtern
  • die chinesische Wirtschaft kommt stärker unter Druck als bisher
  • die OPEC gibt ihren Kurs des billigen Öls auf
Leider taucht er mit dem Terrorargument ab auf das Niveau eines Horst Seehofer, der den Solidaritätszuschlag nicht mehr abschaffen möchte. Der Soli soll im Zeitraum von 2020 bis 2029 abgeschmolzen werden. Der Soli erbrachte laut Statistischem Bundesamt in 2014 etwa 15 Milliarden Euro. Bei Gesamteinnahmen von 643 Mrd. Euro sind das etwa 2%. Werden diese 2 %-Punkte über 10 Jahre abgeschmolzen, geht es um etwa 1,5 Mrd. Euro pro Jahr ab 2020. Im April war er noch vehement für die Abschaffung, ein halbes Jahr später nicht mehr. Gleichzeitig präsentiert er einen entpersonalisierten Schuldigen, die Flüchtlinge. Seehofers Überlegungen sind sachlich unangemessen, nur Stimmungsmache.

Stimmungen als schlechter Ratgeber

Wie sehr Stimmungen ausgenützt werden können, zeigen diese drei Artikel in der Augsburger Allgemeinen:

In Slowenien stimmten die Bürger ab und lehnten eine Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der traditionellen Ehe ab. Der Spiegel schreibt darüber:
"Das Votum war von ihnen [Anm.: den Initiatoren des Referendums] auch zu einem Misstrauensvotum gegen die Regierung von Miro Cerar erklärt worden"
Stimmungen führen zu einem politischen Ergebnis, weil z.B. der Regierung eins ausgewischt werden soll und nicht, weil die Sachlage das Ergebnis erfordern würde. Gerda Hasselfeldt befürchtet, dass EU-Bürger die deutsche Sozialgesetzgebung ausnützen könnten. Dies war bereits bei der Osterweiterung der EU befürchtet worden, ohne je eingetreten zu sein - Einzelfälle ausgenommen. Die Forderung funktioniert analog Seehofers Methode: Es gibt Böse, die uns Guten etwas wegnehmen wollen. Gegenüber Aussiedlern ist - wie oben ausgeführt - die Stimmung entspannt. Hier befürchtet niemand, dass Sozialhilfe ausgenützt werden könnte. Hier befürchtet niemand einen schädlichen Kultureinfluss.
Wohin Apelle an Gefühle führen können, lässt sich trefflich in den aktuellen Entwicklungen in Polen betrachten. Die religiös untermauerte und auf Polen bezogene Sicht der neuen Regierung zeigt dort bereits Züge, die als katholisch-faschistoid bezeichnet werden können.
Ich hoffe jedenfalls, dass zukünftig mehr die Vernunft, gerne die praktische Vernunft zum Zuge kommt und die mehr oder weniger offensichtliche Stimmungsmache stärker gebrandmarkt wird.

Mittwoch, 23. Dezember 2015

Detlef Drewes Junggesellen

Detlef Drewes hat in der Augsburger Allgemeinen einen Artikel zur Kennzeichnung von Elektrogeräten geschrieben:
 
In der mittleren Spalte findet schöner Satz über Junggesellen:
"Wenn ein Hausgeräte-Hersteller wissen will, wie viel Strom ein Kühlschrank verbraucht, orientiert er sich an einem durchschnittlichen Junggesellen. Nur: Dieser ist meist leer und wird selten geöffnet."
Eine wunderbare Auflockerung in einem gelungenen Artikel.

Sonntag, 13. Dezember 2015

Deutschland ist nicht immun gegen simple rechte Lösungen

Walter Roller sieht in seinem Leitartikel das Potential für den Aufstieg einer populistischen Partei:


Er hat Recht, das Potential ist zweifelsohne vorhanden. Allerdings bin ich nicht so optimistisch, was die Resistenz gegen die rechte Versuchung und das Lernen aus der Historie angeht. Was wäre, wenn ein Rechtspopulist im Stile Karl-Theodor zu Guttenberg aufträte und mit weichen Worten die rechte Härte verkündete? In Österreich gelingt es Heinz-Christian Strache, sich beispielsweise durch Disco-Besuche bei der Jugend anzubiedern. Er beherrscht das Spiel, dumpfe braune Blasen durch entsprechende Protagonisten in der FPÖ aufsteigen zu lassen und sich selbst anschließend davon scheinheilig zu distanzieren. So stellt er sich selbst als national dar, lässt in seiner Partei aber auch die richtig rechten Recken ein Zuhause finden. Er ist somit ein Beispiel dessen, was Walter Roller als "gemäßigt auftretende, national-konservative Partei" umschreibt.

Dem Leitartikel von Walter Roller stelle ich einen von Birgit Holzer aus der gleichen Woche zur Seite:

Beide beschreiben die Sorgen der Bevölkerung. Walter Roller schreibt:
"Die Rechte verachtet das politische Establishment, ist gegen Einwanderung und gegen Europa, predigt einen auf Abschottung ausgerichteten Nationalismus. Die Rechte schürt die Angst vor Überfremdung und dem Verlust nationaler, kultureller Identität. Sie profitiert von der Verunsicherung, die durch den Flüchtlingsansturm und den islamistischen Terror verstärkt wird."
Birgit Holzer klingt ähnlich:
"Das Ergebnis drückt Wut, Fatalismus und Angst aus - Angst vor der Globalisierung, dem sozialen Absturz, vor Ausländern und Terroristen."
Damit ist das Angstfeld der Bevölkerung gut umrissen. Beide schreiben weiter, die Politik müsse erneuert werden, müsse endlich Lösungen liefern.
Stimmt. Sehr treffend hat das Manfred Nowak zur europäischen Situation hinsichtlich der Flüchtlinge ausgedrückt (Zitat beispielsweise hier, ein Bericht zur Veranstaltung des Mediangipfels in Lech hier):
"Europa hat kein Flüchtlingsproblem, es gibt aber ein großes Problem der Flüchtlingspolitik."
Die Aufgabe ist jedoch noch größer. Es wird nicht reichen, mit glaubwürdigem Personal politische Lösungen zu schaffen. Denn politische Lösungen sind nie die einfachen Lösungen, die aus kleingeistigen rechten Hirnen emporwallen und mit zum Erfolg der Rechtspopulisten beitragen.
Ein schönes Beispiel liefert Martin Paesler in seinem Leserbrief zum Klimawandel:

Natürlich steht es ihm zu, am Klimawandel zu zweifeln. Dafür könnte er auf diverse Wissenschaftler verweisen - auch wenn die in der Minderzahl sind. Wenn er jedoch "einfach nur ein Geschenk des Himmels, bzw. der Sonne" sieht, die "uns eine wärmere Epoche schenkt", hat er nicht verstanden, um welche Folgen es geht, wenn der Klimawandel eintritt. Seine Analyse:
"Computermodelle, die alle den gleichen Fehler haben: Sie taugen nichts."
Es wird eine herkulische Aufgabe, solchen unterirdischen Denkschemata argumentativ zu begegnen.

Ein weiteres Beispiel liefert Barbara Fricke in ihrem Leserbrief zum Vorschlag, das Wahlrecht für 16jährige zu öffnen:

Sie sieht die Jugendlichen "mehr beeinflussbar". Mehr als wer? Hat nicht gerade der Hype um zu Guttenberg gezeigt, dass Erwachsene ebenfalls leicht beeinflussbar sind? Die falschen Versprechungen liefern auch Rechtspopulisten, wenn sie einfache Lösungen anbieten. In Anbetracht der rechten Wahlerfolge müssten mit dem Argument von Frau Fricke einige Erwachsene ihr Wahlrecht verlieren.
Das verzwickte ist ja, dass der Bevölkerung politische Lösungen glaubwürdig präsentiert werden müssen und die Bevölkerung die Komplexität des Problems und der Lösung verstehen muss. Dazu muss bereits früh in der Kindheit und Jugend begonnen werden mit Bildung. Ich hoffe inständig, dass die von Walter Roller ausgesprochene "historische Lektion" solange vorhält.

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Süsser Weltverbesserer

Karin Seibold zweifelt an Mark Zuckerberg als Weltverbesserer:


Zwei Aspekte, die Karin Seibolds Zurückhaltung stützen, möchte ich hinzufügen:
  1. "... hatte die Plattform zusammen mit Freunden 2004 ins Internet gestellt." Allerdings war das nicht unumstritten, da sich die Freunde betrogen fühlten. In der englischsprachigen Wikipedia lässt sich hierzu einiges lesen.
  2. Mark Zuckerberg hat steuerliche Vorteile, da Gewinne aus Kurssteigerungen der Facebook-Aktie nicht versteuert werden müssen, nachdem sie in die Stiftung transferiert wurden. Eine ausführliche Darstellung findet sich in einem Artikel von Robert Wood im Magazin Forbes. Mark Zuckerberg kann so seine Macht halten bei Facebook, seine Macht stärken in der Stiftung und bringt den amerikanischen Staat um Steuern.

Freitag, 20. November 2015

Walter Rollers Geheimplan

Walter Roller sieht in seinem Leitartikel Europa vor einer Bewährungsprobe:




Nach diesem Artikel bin ich mir sicher, Walter Roller hat einen Plan. Es wird Zeit, diesen Plan zu enthüllen. Dazu vorab die relevanten Beobachtungen, um am Ende in der Offenbarung zu kulminieren.


Faktenfrei argumentieren

Er behauptet "unkontrollierte Masseneinwanderung". Die faktische Unterscheidung in Flüchtlinge und nicht fliehende Migranten macht er nicht. Wenn er auf der Höhe der Zeit kommentieren will, dürfte er den Bericht der UNHCR nicht ignorieren, nach dem Länder auf der Balkanroute beginnen, nur noch Personen bestimmter Herkunftsländer durchzulassen. Dazu gibt es beispielsweise bei der Deutschen Welle einen Artikel.
Er setzt "Millionen von muslimischen Einwanderern" in einen Zusammenhang mit "Parallelgesellschaften, wie sie in Frankreich entstanden sind". Die Gefahr besteht. Nur sind es nicht nur Einwanderer in der Parallelgesellschaft, sondern auch dort geborene. Das sind zwei unterschiedliche Problemkreise. Den Fakt, dass die einen durch Grenzmaßnahmen an der Einreise gehindert werden können, die anderen aber einfach da sind, differenziert er nicht. Er ignoriert, dass nicht nur Muslime fliehen, sondern auch beispielsweise christliche Jesiden.
Er ignoriert, dass die polizeilichen Befugnisse in Frankreich, was den Zugriff auf Telekommunikationsdaten (Stichwort: Vorratsdatenspeicherung) angeht, das Attentat nicht verhindert haben. Zwar erhebt er in seinem Artikel nicht die Forderung nach einer deutschen Vorratsdatenspeicherung. An anderer Stelle hat er dies jedoch bereits getan.


Demagogische Wortspiele

Die Faktenfreiheit wird verbunden mit einer Wortwahl, die Walter Rollers Plan unterstützt.
Er fordert, "dass die Politik ihre [die Bürger] Sorgen vor einer unbegrenzten Zuwanderung ernst nimmt". Grundsätzlich eine richtige Forderung. Nur: niemand redet einer unbegrenzten Zuwanderung das Wort. Wer sich ernsthaft mit dem Thema beschäftigt, wird die bereits oben genannte Unterscheidung bezüglich Flüchtlingen und Nichtflüchtlingen machen und auf diesem Wege "unbegrenzt" ausschließen.
Er schreibt von "Millionen von muslimische[n] Flüchtlingen". Er schreibt das zwar über Europa, verankert aber durch die Nennung von Merkel in unmittelbarer Nähe einen Fokus auf Deutschland.
Er wiederholt gebetsmühlenartig, die Bevölkerung sei in Sorge, habe Angst. Die freiheitliche Ordnung stehe auf dem Spiel. Härte und Selbstverteidigungswille sei nötig. Nur der Rechtsstaat könne die Sicherheit zur Verteidigung der Freiheit garantieren. Er bietet Bomben und Kanonen als Lösung. Den nächsten Schritt verschweigt er: was aus den zerbombten Ländern werden soll. Egal! Hart durchgreifen! Christliches Abendland verteidigen gegen Terroristen, Flüchtlinge, Migranten. Dschihad den Dschihadisten!


Der Plan

Welches Bild ergibt sich, wenn die Schlussfolgerungen aus diesen Worten Walter Rollers gezogen werden?
  • Wer Fakten ignoriert und demagogisch spricht, kann es nicht anders oder er will es so. Die berufliche Vita spricht gegen ein Nicht-Können. Also ist es das Wollen, das Walter Roller treibt.
  • Er will harte Reaktionen auf Bedrohungen. Er will dichte Grenzen. Er will das Primat des Rechtsstaats und seiner Organe zur Sicherung der Freiheit. Er will die Registrierung Einreisender.
Ich frug mich, wo es das alles gibt. Wo gibt es keine Terroranschläge? Wo hat der Staat alles im Griff? Wo muss sich die Bevölkerung nicht sorgen, weil die Staatsführung die Sorgen antizipiert und rechtzeitig lenkt?
Walter Rollers Plan ist: Deutschland nach nordkoreanischem Vorbild.

Montag, 16. November 2015

Rudi Wais Kriegserklärung

Rudi Wais leitartikelt über den Terror in Paris:


Richtig, der IS greift unsere Art zu leben an. Allerdings sind die Werte hinter dieser Art nicht so universell, wie der Artikel glauben macht. Es sind europäische Werte, vielleicht westliche Werte. In vielen Weltgegenden werden sie als falsch angesehen. Allein schon der hiesige Individualismus wird in vielen asiatischen Ländern nicht geteilt. Wir haben allen Grund, diese Werte zu verteidigen, auch ohne Anspruch auf universelle Größe. Im Gegenteil: die Behauptung, sie seien universell, ist ein Aspekt, warum die Terroristen sie bekämpfen.
Die Idee hinter dem Terror und seiner Wirkung ist die Angst. Kann ich noch Bus fahren? Kann ich auf ein Konzert gehen? Dass religiöse Inhalte pervertiert und als Begründung für den Terror herhalten müssen - geschenkt. Angst sei ein schlechter Ratgeber, schreibt Rudi Wais. Vielleicht hat er Angst, denn seine weiteren Ausführungen sind schlecht:
  • Er stellt Attentäter, die sich in der Deckung echter Flüchtlinge bewegen, in eine Linie mit den echten Flüchtlingen. "Sind mit ihnen dann noch andere gekommen?" fragt er und beteiligt sich damit an der rechten Rhetorik einer Pegida und AFD. Diese billige Propaganda setzt er fort, als er das deutsche Glück überstrapaziert sieht, wenn "Tag für Tag tausende von Menschen ins Land" gelassen werden. Diese Menschen fliehen vor dem Terror, den Paris erlebt hat. Diese Menschen haben diesen Terror täglich. Seit Monaten und Jahren.
    Er fordert nicht die Schließung der Grenzen. Als Denkbares gedacht wäre dies naheliegend. Nur was soll damit gewonnen werden? Als ob Attentäter, die einen Anschlag über Monate planen, sich von einem Uniformierten an einem bayerischen Grenzübergang aufhalten ließen. Dann kommen die Attentäter halt über Polen, Dänemark, Holland, Schweiz, Frankreich. Oder sie sind bereits im Land, vielleicht hier geboren und die Waffen werden gut versteckt in einem LKW oder Schiff geschmuggelt.
  • Die bisherige Strategie der Luftschläge wirkt nicht wie erhofft. Rudi Wais redet dem angeblich Undenkbaren das Wort, einem starken militärischen Eingreifen. Was soll daran undenkbar sein? Dieser Vorschlag ist nicht neu. Damit wurde er bereits gedacht und bisher aus gutem Grund nicht umgesetzt.
    Undenkbar ist, bei einem solchen Vorschlag nicht die Konsequenzen zu bedenken. Diesen notwendigen Schritt geht jedoch Rudi Wais nicht. Was soll nach der konzertierten Aktion kommen? Assad an der Macht bleiben? Fehden einzelner Stammesoberhäupter? Niemandsland? Mondlandschaft?
Völlig offen lässt Rudi Wais, wie er die Idee aus der Welt schaffen will, unsere Lebensweise sei zu verdammen und rechtfertige den Terror. Mit Bomben, Kanonen und Soldaten wird das nicht gelingen. Nach Al Kaida kommt ISIS kommt IS kommt ...
Mir wäre es lieber gewesen, die AZ hätte eine französische Flagge auf Halbmast gezeigt.

Sonntag, 15. November 2015

Das Spiel der AFD

Michael Stifter analysiert in der Augsburger Allgemeinen die Zukunft der AFD:



Ein Anlass für den Leitartikel könnte die aktuelle Umfrage der INSA gewesen sein, die die AFD bei etwa 10% der Stimmen sieht. Damit wäre die AFD im Bundestag vertreten. Die im Text groß platzierte Aussage, nach der 90% mit der Partei nichts zu tun haben wollen, interpretiert die Umfrageergebnisse jedoch zu positiv. Denn zwischen "Ich wähle eine Partei XY" und "Ich will mit Partei Z nichts zu tun haben" gibt es  Unterschiede. Ich kann in bestimmten Punkten der Partei Z vollkommen zustimmen, aber dennoch eine andere Partei wählen. Dies insbesondere dann, wenn die andere Partei das bessere "Gesamtpaket" geschnürt hat. Michael Stifter schließt seinen Leitartikel mit der positiv klingenden Aussage, das Spiel der AFD wird nicht auf Dauer aufgehen. Ich meine, das kommt darauf an.
Wird die AFD lediglich auf ihre braunen Rülpser reduziert, die Michael Stifter beispielhaft anführt, wird die AFD nicht auf Dauer erfolgreich sein. So wie Republikaner und NPD bestenfalls ein Nischendasein fristeten und fristen, wird sich auch für die AFD kein weites Feld ergeben.
Ich sehe jedoch eine Gefahr, wenn es der AFD gelingt, auch andere Politikfelder zu besetzen. Hierzu lohnt ein Blick in die Leitlinien der Partei, nach denen
  • die Demokratie beschädigt sei, weil in Europa entschieden würde ohne demokratische Legitimation,
  • der Rechtsstaat beschädigt sei, weil Verträge gebrochen würden,
  • die Gewaltenteilung beschädigt sei, weil der Bundestag von der Regierung unter Druck gesetzt würde,
  • die soziale Marktwirtschaft beschädigt sei, weil Sparer haften müssten,
  • die europäische Idee beschädigt sei, verursacht durch die Eurokrise.
Bereits in diesen Leitlinien mag der eine oder andere Bürger sich erkennen. Die aktuelle politische Lage bietet weitere Ansatzpunkte. Als Lösung sieht die AFD
  • den Respekt vor der Mehrheitsbevölkerung und vor Minderheiten
  • die Durchsetzung des bestehenden Rechts
  • die Abschaffung der überbürokratischen Bevormundung der Bevölkerung
  • den Kampf gegen die Kriminalität bei Schutz der Privatsphäre
  • in der erweiterten Zuständigkeit des Parlaments
  • in direkter Demokratie und Meinungsfreiheit
  • in sozialer Marktwirtschaft
  • in Geldwertstabilität und Steuergerechtigkeit
  • in Investition in Familien und Bildung
  • in einer klaren Steuerung der Zuwanderung
  • im Respekt vor der Natur.
Auf einem solchen Abstraktionsniveau klingt die AFD nicht viel anders als die CSU in Bayern. Deshalb bin ich nicht beruhigt und glaube auch nicht an eine zwangsläufige Selbstzerstörung.
Um das Gefahrenpotential der AFD zu verstehen, lohnt ein Blick zur österreichischen FPÖ.
  1. Früher mit Jörg Haider, nun mit HC Strache verfügt die Partei über einen Proponenten, der auf die Bevölkerung sympathisch wirkt. Strache umgibt sich gerne mit der Jugend, gibt sich jugendlich, sucht den Kontakt beispielsweise in Diskotheken. Er erscheint so als Gegenentwurf zu den langweiligen, stromlinienförmigen, ja fast spießigen anderen Berufspolitikern.
    Freilich hat die AFD derzeit eine solch ansprechende Person nicht. Was wäre jedoch, wenn ein vergleichbarer Kopf auftauchen würde?
  2. In der FPÖ gibt es braune Gesinnung. Immer wieder tauchen entsprechende Äußerungen im Umfeld der Partei auf. In der Folge distanziert sich die politische Spitze mehr oder weniger von den angeblichen Einzelmeinungen. Sie kann so einerseits das Signal senden, sie wären keine Nazis, andererseits sind rechts-konservative Ansichten in der Partei möglich und üblich.
    Was wäre, wenn die AFD mit den Bachmanns, den Höckes, den Gaulands geschickter umginge, sie vielleicht sogar strategisch an der rechten Flanke einsetzen würde?
  3. Die FPÖ konnte sich als Kleiner-Mann-Versteher etablieren. Nur die FPÖ würde die Ängste der Bevölkerung ernst nehmen. Sie setzte dabei auf Themen, die auch derzeit Angstthemen sind: Einwanderung, Islam, Euro.
    Was wäre, wenn die AFD sich als die einzige Partei präsentieren würde, die die Sorgen wirklich ernst nimmt? SPD und Grüne könnte sie als personifizierte Willkommenskultur darstellen, die CDU unter Kanzlerin Merkel als Wir-schaffen-das, die CSU als bestenfalls ein lokales Phänomen in Bayern. Was wäre, wenn die AFD einen bundesweiten CSU-artigen Kurs fahren würde?
  4. Die FPÖ konnte sich als Protestalternative positionieren. Die anderen etablierten Parteien seien in gegenseitigen Abhängigkeiten, im Filz und überhaupt in ihrer Schwachheit gefangen. Wer wirkliche Veränderung wolle, müsse FPÖ wählen.
    Was wäre, wenn die AFD vor dem Hintergrund akzeptabler politischer Inhalte noch eine Proteststimmung für sich nutzen könnte?
  5. Die FPÖ konnte sich mit plumpen wie eingängigen Wahlsprüchen permanent im Gespräch und in der Öffentlichkeit halten. Beispielsweise wurde "Daham statt Islam" propagiert, später ruderte Strache zurück und behauptete, der Spruch wäre eine Verkürzung, die er nicht mehr verwenden würde.
    Was wäre, wenn die AFD den Spagat schafft zwischen Sprüchen, die vorhandene Ängste der Bevölkerung aufgreifen, in der Öffentlichkeit diskutiert werden und andererseits der behaupteten Abgrenzung zum Rechtsradikalismus?
Derzeit mag die Gefahr noch nicht groß sein. Weder sehe ich die geeigneten Personen bei der AFD noch die dafür notwendige Professionalisierung im Auftreten. Wenn jedoch Konservative mit ihrem Vokabular den Boden bereiten - Schäubles Lawinenbild sei hier angeführt - und die AFD sich in dieser Spur geschickt verhält, kann sie CDU und CSU sehr wohl gefährlich werden und ihnen Wähler abspenstig machen. Bleiben wir also wachsam!

Mittwoch, 4. November 2015

Orbán ist kein Waisenknabe

Rudi Wais hat einen Artikel veröffentlicht, in dem er auf Defizite beim wertorientierten Handeln in der Politik hinweist:


Ohne Zweifel zeigt Rudi Wais Scheinheiligkeiten im Handeln deutscher Politiker auf. Diese Liste ließe sich fortsetzen.
An einem Punkt muss ich jedoch widersprechen: Rudi Wais vergleicht Viktor Orbán mit Erdogan und kommt zu dem Schluss, Orbán wirke wie ein Waisenknabe. Viktor Orbán ist kein Waisenknabe. Er ist ein übler Zeitgenosse, der zwar christliche Vokabeln bemüht, aber ein fragliches Verhältnis zu Werten hat. Während Erdogan ungeniert demokratische Grundfeste ignoriert, kommt Orbán unauffälliger daher.
Wes Geistes Kind Orbán ist, zeigt sich in einer Rede bei der Vorstellung der Diskussionsschrift Zeichen der Zeit. Einige Auszüge daraus:
"Europa ist verraten worden, und wenn wir uns nicht für dieses Europa engagieren, dann wird man uns dieses Europa wegnehmen. Dieses Europa wird nicht mehr das Europa der europäischen Bürger sein, sondern es wird die rauschhaften Träume einiger gut organisierter – wenn Sie jetzt an die Soros-Stiftung denken, dann ist dieser Gedanke nicht unbegründet –, einiger gut organisierter, große Gelder hin- und herbewegender, über die Rahmen der Nationalstaaten hinaus denkender Aktivisten, von niemandem gewählter Führer erfüllen."
Orbán schwadroniert von Aktivisten, die große Gelder hin- und herbewegen, nicht gewählt seien. Er nennt die Soros-Stiftung. Diese Stiftung gehört zu George Soros, ein Mann ungarischer und jüdischer Herkunft. Ohne es explizit auszusprechen bringt Orbán die unsägliche Idee eines international agierenden Finanzjudentums auf's Tableau.
Weiter fabuliert Orbán:
"Wer hat die europäischen führenden  Politiker damit beauftragt, auf Grund welcher Ermächtigung geschieht das, dass sie zu Hunderttausenden die von der europäischen Kultur abweichenden Gruppen nicht einfach auf den europäischen Kontinent hereinlassen, sondern sie hineintransportieren? Auf eine Weise, dass langsam unsere europäische kulturelle Identität in Frage gestellt wird."
Er unterstellt, die Flüchtlinge würden nicht einfach hereingelassen, sie würden sogar hereintransportiert. Da schimmert verschwörungstheoretisches durch. Später wird er konkreter mit seiner Behauptung:
"[...] doch die Antwort kann von unserer Seite aus nur sein, dass wir entgegen dieser Verschwörung, diesem Verrat uns an die Demokratie, an das Volk wenden müssen, und wir müssen erreichen, dass wir die europäischen Menschen, ganz gleich ob als europäische Menschen oder als Bürger der Nationalstaaten auf irgendeine Weise zu Worte kommen lassen, damit diese Menschen sagen können, dass sie das, was geschieht, nicht wollen [...]"
So spricht kein Waisenknabe. So spricht jemand, auf den wir ein wachsames Auge richten müssen.

Donnerstag, 29. Oktober 2015

Winfried Züfles kurzsichtige Schlussfolgerungen

Winfried Züfle hat am 29.10. einen Leitartikel in der Augsburger Allgemeinen veröffentlicht zur aktuellen Situation zwischen Deutschland und Österreich anlässlich der Flüchtlinge:

 

Guter Einstieg

Winfried Züfle schreibt:
"Wir sollten froh sein, dass Mauern und Eiserne Vorhänge der Vergangenheit angehören."
Dem ist nichts hinzuzufügen.
Winfried Züfle schreibt weiter, wir könnten nicht zusehen, wenn Flüchtlinge hungern und frieren. Stimmt. Er stellt ebenfalls zutreffend fest, dass sich die Flüchtlinge nicht durch Grenzzäune aufhalten lassen werden.
Winfried Züfle fordert zwei Maßnahmen ein:
  1. Die Anzahl der Flüchtlinge muss reduziert werden. Der Hebel dazu ist die Beseitigung der Fluchtursachen. Dies lässt sich jedoch nicht kurz-, sondern nur langfristig realisieren. Denkbar ist auch, Länder in der Nähe der zur verstärkten Aufnahme fliehender Nachbarn zu bewegen. Nur: warum sollten diese Länder dies tun? Mit welchem Argument sollen die Flüchtlinge nicht nach Deutschland dürfen, aber beispielsweise in der Türkei bleiben? Gilt in der Türkei das in Deutschland gängige Argument der Überforderung nicht? Und die für Deutschland so schwierigen Kosten sollen der Türkei leichter fallen? Nein, argumentieren lässt sich das kaum. Wir können uns vielleicht freikaufen.
  2. Flüchtlinge müssen umgehend registriert und weiterverteilt werden. Ja, denn so werden die Menschen in die Asyl- und anderen Verfahren gebracht und ihnen kann entsprechend geholfen werden.

Starker Abstieg

Doch dann verlässt Winfried Züfles Leitartikel die Qualität. Es wird nach der Forderung nach Registrierung behauptet, das würde nicht funktionieren und Österreich spiele ein doppeltes Spiel. Das entspricht nicht den Fakten und ist Spekulation.
  • Wie kommt Winfried Züfle darauf, Österreich würde Flüchtlinge nicht registrieren? Der ORF berichtet über die Situation in Spielfeld/Steiermark:
"Ja, es sei eine Herausforderung, große Mengen von Flüchtlingen an der Grenze zu versorgen. Aber man sei in Spielfeld gut gerüstet, sagt Kampus. Busse und Sonderzüge würden bereits bereit stehen um die Ankommenden nach der Registrierung weiter in Notquartiere zu bringen."
  • Welches doppelte Spiel soll von Österreich gespielt werden? Weil nicht jeder Bus mit Flüchtlingen in Berlin oder bei der bayerischen Staatskanzlei angekündigt wird? Der Standard berichtet, das politische Hickhack werde nicht benötigt, da die Helfer vor Ort miteinander reden.
  • Österreich würde die Flüchtlinge über die grüne Grenze schicken. Die Menschen wollen nach Deutschland, sie müssen nicht geschickt werden. Sie nehmen die Strapazen auf sich, weil sie voller Hoffnung sind.
  • Winfried Züfle hat bereits gesagt, Flüchtlinge ließen sich nicht durch Zäune aufhalten. Was soll dann bitte Österreich tun, wenn die Menschen im Land sind? Wenn Winfried Züfle schon einer Maßnahme das Wort redet, Flüchtlinge nicht ins Land zu lassen bzw. nicht weiter zu schicken, dann darf er das nicht an Österreich adressieren. Diese Maßnahme muss im Süden beginnen, um überhaupt einen Sinn zu haben und das Problem nicht bei den Nachbarn abzuladen. Doch das ist ein fruchtloses Unterfangen, solange die Fluchtursachen nicht beseitigt sind.
  • Österreich würde die Flüchtlinge weiterschicken. Das tut Bayern auch. Von Bayern werden die Flüchtlinge in andere Bundesländer gebracht. Es wäre nicht überraschend, wenn die Kommunikation innerhalb Deutschlands zwischen Bundesländern besser funktioniert als zwischen Staaten. Hier jedoch gleich ein perfides Doppelspiel zu sehen, ist nicht gerechtfertigt.
Über drei Spalten schreibt Winfried Züfle schlüssig und auf dem Boden der Menschlichkeit verankert. In der letzten Spalte stürzt er leider ab, argumentiert faktenfrei und begibt sich auf ein Niveau, das von den politischen Platzpatronen der CSU bekannt ist. Schade, das ist ein Abstieg zur Lokalpresse, wo doch ein Leitartikel breit ausleuchten sollte.

Sonntag, 18. Oktober 2015

Walter Rollers eindimensionale Lösung

Walter Roller hat am 17.10. einen Leitartikel in der Augsburger Allgemeinen veröffentlicht:


Bereits direkt nach der Überschrift weist er auf die aus seiner Sicht einzige Lösung hin: Begrenzung der Zuwanderung. Weil die Kanzlerin Merkel das so nicht sagen will, stehe sie in Europa isoliert da. Darüber lohnen ein paar Gedanken.

Des Volkes Wille

Walter Roller beruft sich auf das Volk:
"Der Unmut im Volk über Merkels Politik der offenen Tür wächst."
"Das Land ist nämlich dabei, den Glauben an Merkels Führungskunst und ihr Wir-schaffen-das-Mantra zu verlieren."
"[...] nicht reagiert auf den Stimmungsumschwung im Lande und die SOS-Rufe überforderter Kommunen und Helfer."
Wenn Walter Roller sich auf das Volk beruft, um daraus politisches Handeln abzuleiten, unterstellt er, dass des Volkes Wille immer zu einer guten, mindestens zu einer richtigen Politik führen würde. Warum sollte das so sein?
Die Schweiz zeigt ein Beispiel des Volkes Wille, artikuliert in einer Abstimmung, in der der Staat aufgefordert wurde, Höchstzahlen für Bewilligungen im Ausländer- und Asylbereich festzulegen. Das Ergebnis der Abstimmung hatte zur Folge, dass die Personenfreizügigkeit in Europa in Frage gestellt wurde. Damit rüttelt die Abstimmung an einem der Grundpfeiler des europäischen Selbstverständnisses.
Des Volkes Wille artikuliert sich besonders stark bei emotional aufgeladenen Themen, wie es die Zuwanderung ist. Wo Emotionen im Spiel sind, hat politische Vernunft, haben europäische Grundprinzipien einen schweren Stand. Das Volk fürchtet sich vor Kosten der Unterbringung von Flüchtlingen. Es würde aber gerne bezahlen, wenn die Flüchtlinge mit dem Geld in der Türkei gehalten werden könnten. Und das Volk bleibt still, lacht bestenfalls, wenn Geldberge in Flughafenruinen versenkt werden. Die Jahrbücher staatlicher Verschwendung produzieren bestenfalls ein kurzes Aufwallen. Der gleiche Betrag für Flüchtlinge aufgewendet führt zu lautstarken Protesten.
Wie flüchtig Volkes Wille ist, zeigt sich beispielhaft an steilen politischen Karrieren und deren Abstürzen. Eloquente Figuren wie ein Herr von und zu Guttenberg. Hoch gelobt zuerst, verstoßen danach. Mit derart mäandrierenden Volksmeinungen soll eine langfristig angelegte Politik möglich sein?

Walter Rollers Rhetorik

In dem Leitartikel sind Formulierungen zu finden, die unterschwellig jene diffusen Ängste bedienen, auf die des Volkes Wille der zunehmenden Ablehnung Merkels fußen.
"Merkels Politik der offenen Tür"
Walter Roller tut so, als hätte Frau Merkel alle Einreisewilligen der Welt aufgefordert, nach Deutschland zu kommen. Hat sie nicht. Sie hat den in Ungarn unter unerträglichen Umständen festsitzenden Personen einen Ausweg aufgezeigt und Hilfe angeboten.
"Aus dem grün-roten Milieu erhält die CDU-Vorsitzende Beifall"
Die Vokabel Milieu klingt nach Sumpf, klingt abwertend, kennt man vom Rotlichtmilieu. Damit entwertet Walter Roller den Beifall. Es ist nicht mehr nur die Zustimmung des politischen Gegners, sondern einer tieferstehenden Gruppe.
"nicht reagiert auf den Stimmungsumschwung im Lande und die SOS-Rufe überforderter Kommunen und Helfer"
Walter Roller bringt die Stimmung im Lande und kommunale SOS-Rufe in einen Zusammenhang. Der Zusammenhang ist gekünstelt. Denn die Stimmung im Lande basiert auf einer befürchteten Gefährdung bestehender Besitzstände oder kultureller Grundzüge. Das sind bestenfalls Spekulationen: Das Geld geht aus, die Steuern müssen erhöht werden, überall Moscheen und verhüllte Frauen ansteckende Krankheiten. Auf der anderen Seite die SOS-Rufe, die auf tatsächlichen Zuständen beruhen: Zuwenig Schlafplätze, keine winterfesten Unterkünfte, Polizei und Helfer länger im Einsatz, als es körperlich und psychisch auszuhalten ist. Beides ist auseinander zu halten und gehört nicht in einen Satz.
"Pastorentochter mit hoher moralischer Tonlage und lutherischer Wucht"
Walter Roller stellt die Kanzlerin als eine Person dar, deren Eignung als Kanzlerin auf Grund ihres Vaters fraglich ist, die hysterisch an ihrer tradierten religiösen Grundhaltung festhält. Er übersieht, dass sich Merkels Haltung aus europäischen Grundwerten genau so gut ableiten lässt.
"die Masseneinwanderung ohnehin unabwendbar ist"
Walter Roller stellt die Einreise von Asylantragsstellern als Masseneinwanderung dar. Dabei unterstellt er, die Flüchtlinge würden alle dauerhaft bleiben wollen. Er ignoriert, dass ein Teil der Flüchtlinge die Verfolgung und den Krieg beendet sehen wollen, um dann  zurück in ihre Heimat zu gehen. Manche müssen diesen Zeitraum überbrücken in Lagern beispielsweise in der Türkei, andere wollen die Jahre in besseren Zuständen verbringen - wer will es ihnen verdenken?
"die außer Kontrolle geratene Krise"
Walter Roller erklärt nicht, was da genau außer Kontrolle geraten sei. Meint er Grenzkontrollen? Die gibt es seit Jahren nicht mehr. Meint er unkontrollierte Zuwanderung? Was - außer der Personenanzahl - ist heute gravierend anders als vor einigen Monaten? Aber es passt natürlich zu seinem Mantra, die Zuwanderung müsse kontrolliert werden.
"es nicht so weitergehen kann und die Zuwanderung begrenzt werden muss"
Walter Roller macht keine Unterscheidung zwischen einer Einwanderung, Asyl und einem Flüchtlingsstatus gemäß Genfer Konvention. Keinem Staat wird das Recht abgesprochen, selbst zu regeln, wen er einwandern lassen möchte. Wer in den USA leben will oder in Australien, muss bestimmte Kriterien erfüllen. Wer jedoch um sein Leben rennt, hat allen Anspruch auf Hilfe.
Diese mangelnde Unterscheidung findet sich am Ende des Artikels wider:
"dringt fast das ganze Europa auf eine Begrenzung der Zuwanderung"
Wie gut das funktioniert, zeigt der Grenzzaun in Ungarn. Solche Maßnahmen verlagern das Problem, lösen es aber nicht. Wer nicht über Serbien nach Ungarn gelangen kann, kommt eben über Kroatien.

Verschenktes Potential

Schade, dass Walter Roller sich an der aus Umfragen abgeleiteten Volksstimmung orientiert. Denn Walter Roller weist zutreffend auf relevante Punkte hin:
"Die EU bietet mit ihrem Schneckentempo und ihrer Zerstrittenheit ein jämmerliches Bild."
"Türkei, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nimmt"
"Beschämend ist, dass viele EU-Staaten die Deutschen im Stich lassen"
"mangelnder Solidarität"
Er hätte die Möglichkeit gehabt, das komplexe Thema breiter zu beleuchten. Ein paar Anregungen:
  • Aufklärung über Zuwanderung, Asyl, Flüchtlingsstatus, damit die Befürchtungen des Volkes aus ihrem diffusen Dämmerlicht gehoben einer sachlichen Analyse zugänglich werden.
  • An welcher Stelle hat die deutsche Politik tatsächlich Einfluss und wo nicht? Niemandem kann verboten werden, einen Asylantrag zu stellen. Gestaltungsmöglichkeiten gibt es in den nachgelagerten Verfahren.
  • Was sind die Ursachen in der europäischen Konstruktion für die Belastung Deutschlands? Das Dublin Abkommen sowie das Verhalten der südlichen EU-Länder nötigt Flüchtlinge gerade zu ihrem aktuellen Tun.
  • Welche Möglichkeiten der Hilfe vor Ort sind denkbar? Welche Perspektive kann Flüchtlingen gegeben werden, damit sie beispielsweise in der Nähe Syriens auf eine Rückkehr in ihre Heimat warten?
  • An welcher Stelle sind die Befürchtungen der Bevölkerung begründet und an welcher Stelle sind sie ernst zu nehmen, jedoch inhaltlich schwach?
  • In welcher Krise stecken die europäischen Grundwerte? Gibt es sie überhaupt, wenn sie so leicht über Bord geworfen werden und jeder Staat zum Egoismus zurückkehrt?

Freitag, 9. Oktober 2015

Angst angesichts der Flüchtlinge

Walter Roller kommentiert

In der heutigen Ausgabe der Augsburger Allgemeinen kommentiert Walter Roller das Festhalten von Kanzlerin Merkel an ihrer Flüchtlingspolitik:


Er nennt die Haltung Merkels ein "Mantra" und sagt:
 "Mögen [...] die Umfragewerte der Union sinken: Merkel bleibt auf jenem Weg, den sie in der Nacht zum 5. September mit der Öffnung der Grenzen eingeschlagen hat."
Nun ja, die aktuelle Sonntagsfrage von infratest dimap zeigt für Bayern, dass die CSU um 2 Prozentpunkte auf mittlerweile 40% gesunken ist. Der CSU kann wahrlich nicht nachgesagt werden, sie würde dem Weg der Kanzlerin uneingeschränkt folgen.
Er schreibt von "berechtigten Sorgen der Bevölkerung um eine Überforderung Deutschlands". Damit hat er grundsätzlich Recht: Es ist eine große Aufgabe, Deutschland darf nicht überfordert werden. Allerdings lohnt ein Blick auf die Sorgen der Bevölkerung.

Angst angesichts der Flüchtlinge

Als Teil der Bevölkerung habe ich Ängste angesichts der Flüchtlinge. Ich versuche das ein wenig zu strukturieren.

Angst vor Meinungsmachern

Meinungsmacher können wie Pegida eher laut und plump daher kommen. Solche Meinungsmacher müssen beobachtet werden. Sie sind jedoch zu plump, um den Großteil der Bevölkerung anzusprechen.
Andere Meinungsmacher treten geschickter auf. Sie wählen ihre Worte bedachtsam, wirken seriös. Durch ihre Seriosität sprechen sie viele an. Ein Beispiel ist der obige Kommentar, aus dem folgende Passagen sind:
"es kommen ja nicht nur friedfertige, fleißige, eingliederungswillige, die Spielregeln akzeptierende Menschen"
"die unkontrollierte Einwanderung zu begrenzen und die Ordnung wiederherzustellen"
"Aber warum weigert sie sich so hartnäckig, auch die Grenzen dessen, was Deutschland leisten kann, zu beschreiben?"
Solche Passagen sind eingebettet in einen Kontext, der sich den tatsächlichen Problemen zuwendet. Allerdings bedienen sich die Passagen genau jener Inhalte, die Rechte in ihren diffusen Äußerungen verwenden. Es werden friedfertige Menschen genannt, jedoch das Bild des einreisenden Terroristen erzeugt. Es wird den Grenzen des Leistbaren eine grenzenlose Einwanderung gegenüber gestellt. Leitartikel bilden Meinungen, dazu sind sie da. Allerdings darf die Wortwahl nicht unterschwellig Ängste schüren unter einer glatten Oberfläche aus Problemanalyse.

Angst vor Politikern

Politiker wie Horst Seehofer haben Macht und Einfluss, regieren. Die Augsburger Allgemeine berichtete diese Woche, Seehofer habe mit Notwehr des Freistaates gedroht. Die AZ schreibt:
"Er werde sich dabei auch nicht von rechtlichen Bedenken bremsen lassen [...] [w]enn er breite Rückendeckung in Bayern spüre [...]"
Ein Ministerpräsident, der eine nach Recht und Ordnung rufende Partei führt, dem es aber egal ist, wenn sein eigenes Verhalten rechtlich bedenklich ist, macht mir Angst. Es macht mir Angst, wenn die Rückendeckung der Bevölkerung mehr für ihn zählt als rechtlich Zulässiges.
Ich habe Angst vor einem Ministerpräsidenten, der stolz ein Treffen mit Viktor Orbán organisiert und selektiv nur die errichteten Grenzzäune als tolle Maßnahme wahrnimmt, dabei jedoch die fragwürdige Haltung Orbáns zu Europa ignoriert.

Angst vor dem christlichen Abendland

Insbesondere viele Leserbriefschreiber in der Augsburger Allgemeinen machen mir Angst. Zwei Beispiele:

Bei Susanne Tescheschner ist die Rede von Wahnsinn angesichts der Flüchtlinge, Merkels Haltung sei die einer Mutter Theresa. Regina Fischer sieht viel grundsätzlichere Strömungen und verortet atheistisch-nihilistisches, materialistisches und sexistisches "Gedanken-'gut'", das "unsere Wertvorstellungen und unsere christlich geprägte Kultur schleichend, aber nachhaltig auflösen" will. Sie stellt fest, es "haben radikale, zerstörerische Kräfte jedweder Partei und Religion in unserer Heimat nichts verloren." Wo, Frau Fischer, sehen Sie die Grenze zum christlichen Radikalismus?
Das christliche Abendland und seine Kultur wird als gefährdet dargestellt. Warum christlich? Weil Christen die größten Religionen hierzulande sind? Weitaus prägender für unsere Kultur sind beispielsweise demokratische Strukturen, deren Ursprünge in die vorchristliche Zeit zurück reichen. Weitaus prägender ist auch die Aufklärung, die uns Freiheiten und überhaupt ein anderes Denken geschenkt hat.
Ich habe Angst, dass die vorgeblichen Hüter des Abendlandes den Koran als böses Werk darstellen können und dabei übersehen, dass sich auch in der Bibel bemerkenswerte Stellen finden:
"Ephraim mengt sich unter die Völker; Ephraim ist wie ein Kuchen, den niemand umwendet. Fremde fressen seine Kraft, doch will er's nicht merken; er hat auch graue Haare gekriegt, doch will er's nicht merken." Hosea 7
"Euer Land ist wüst, eure Städte sind mit Feuer verbrannt; Fremde verzehren eure Äcker vor euren Augen, und es ist wüst wie das, so durch Fremde verheert ist."  Jesaja 1.7
"nicht Fremde von deinem Vermögen sättigen" Sprüche
Ich habe Angst, dass diejenigen, die christliche Nächstenliebe predigen, sich selbst näher sind als dem Nächsten. Ich habe Angst, dass sie solche Bibelstellen abtun, das müsse im Kontext gesehen werden, das sei aus der damaligen Zeit zu verstehen und ins Heute zu transferieren und andererseits den Koran insgesamt ablehnen, obwohl dort auch aus heutiger Sicht akzeptable und nicht mehr akzeptable Stellen zu finden sind.

Angst vor einfachen Antworten

Eine Reihe von Politikern sowie Teile der Bevölkerung bieten Antworten an auf die Fragen im Zusammenhang mit Flüchtlingen. Bayern führt Grenzkontrollen auf Autobahnen ein. Der bayerische Minister Söder fordert Zäune. Schnelle Abschiebung sei die Lösung, vor allem wenn sie mit Sachleistungen statt Geldleistungen während des Verfahrens kombiniert wird.
Als ob das wirklich funktionieren würde. Solche Maßnahmen mögen punktuell erfolgreich sein, aber ich zweifle an der Breitenwirkung. Werden Autobahnen kontrolliert, werden mehr Fahrten über kleinere Straßen erfolgen. Werden die auch kontrolliert, bleiben Waldwege oder das Unterholz. Wer abschieben will, muss sagen wohin. Bei Asylbewerbern ohne Papiere nicht ganz einfach, wird es zudem schwieriger, wenn der vermeintlich zuständige Staat die Aufnahme verweigert.
Horst Seehofer gibt die Schuld für die Anzahl der ankommenden Flüchtlinge Angela Merkel mit ihrer Willkommenskultur. Dass Frau Merkel die Grenzen öffnete, als Viktor Orbán seine europäischen Pflichten ignorierte und die Flüchtlinge weiterschob, ignoriert Seehofer. Merkel als Verantwortliche zu beschuldigen, ist einfacher.

Angst vor nachlassender Wachsamkeit

Vor einiger Zeit war ein gewisser Herr Sarrazin en vogue in den Medien. Häufige Berichte, Fernsehauftritte, Interviews. In letzter Zeit war es auffällig still um diesen Mann. War er untätig? Ich weiß es nicht. Jedenfalls tauchte er bei H-C Strache, dem Parteiobmann der rechtspopulistischen FPÖ auf, ohne dass die deutsche Presse davon Notiz nahm. Strache selbst verkündet auf Facebook, die Veranstaltung mit Sarrazin sei ein Erfolg gewesen:


Transnationale Zusammenarbeit der Rechtspopulisten mahnt zur Wachsamkeit.

Angst angesichts der Flüchtlinge

Ich habe Angst, dass wir im Angesicht der Flüchtlinge die Angst im Angesicht der Flüchtlinge nicht mehr sehen.

Sonntag, 27. September 2015

Viktor Orbán bei der CSU

Die Augsburger Allgemeine berichtet über den Besuch Viktor Orbáns bei der Klausurtagung der CSU in Kloster Banz:

Die CSU macht gemeinsame Sache mit einem in der Kritik stehenden Regierungschef. Grenzsicherung ist eine Maßnahme vor dem Hintergrund der Flüchtlingszahlen, auf die sich beide leicht einigen können. Wo Ungarn Zäune errichtet, begnügt sich Bayern mit der Kontrolle von Autobahnen. Die Wirksamkeit beider Maßnahmen ist eine Chimäre: Flüchtlinge umgehen den Zaun, weil sie ihre Route nun über Kroatien wählen. Flüchtlinge umgehen die Autobahnkontrollen, weil sie über kleine Straßen oder über Felder gehen.

Teilt Seehofer Orbáns Vision?

Die Einladung von Orbán auf die Klausurtagung der CSU wirft die Frage auf, wie nahe sich die CSU unter Seehofers Führung dem Ungarn fühlt. Dazu lohnt ein Blick auf eine Rede Orbans Mitte September auf dem 14. Kötcse civil picnic, die in englischer Übersetzung vorliegt:
"My position is that what we are experiencing now is the end of an era: a conceptual-ideological era. Putting pretension aside, we can simply call this the era of liberal babble. This era is now at an end, and this situation both carries a huge risk and offers a new opportunity. It offers the chance for the national-Christian ideology, way of thinking and approach to regain dominance – not only in Hungary, but throughout the whole of Europe. This is the opportunity. This will be the essence of my speech. Those who want more detail should not leave now, because I will now travel a long way before returning to the sentence which I have just said."
Er sieht den Untergang des "liberalen Geschwafels", den Aufstieg einer "national-christlichen Ideologie" "nicht nur in Ungarn, sondern in ganz Europa". Wobei sein Begriff von liberal weitreichend ist:
"The point is that today liberals dominate Europe; make no mistake, the conservatives in Europe today are also liberals"
Horst Seehofer als Liberaler? Wow!
"I am convinced that it is no longer possible in Europe to both see ourselves as good in the liberal sense and to live in prosperity. [...] There is no combination more dangerous than this. It is only a matter of time before someone comes along, notices your weakness, and takes what you have. This will definitely happen if you are unable to defend yourself. The liberal philosophy is a result of a Europe which is weak and which also wants to protect its wealth; but if Europe is weak, it cannot protect this wealth."
Er ist überzeugt, dass ein liberales Leben im Wohlstand nicht möglich sei. Ein schwaches Europa könne nicht seinen Wohlstand wahren.
"Therefore those Christian demands which are currently expressed as spiritual obligations are in my opinion correct when directed at citizens, but mistaken when directed at the state."
Christliche Werte - er bezieht sich auf das Teilen - seien für den Einzelnen machbar, nicht aber für Staaten, da so der gesamte Wohlstand im Staat gefährdet sei.
"Hungary – and now I do not want to speak for other countries, but I would like to think that most of Europe thinks as we do – must protect its ethnic and cultural composition."
Er ruft zur Verteidigung der ethischen und kulturellen Zusammensetzung auf. Hat er da vielleicht von Söders kultureller Statik abgeschaut? Wie Söder nimmt es auch Orbán nicht so genau - oder sehr genau - mit der Definition von Flucht vor Lebensgefahr im Gegensatz zu sog. Wirtschaftsflüchtlingen:
"Now we are inundated with countless immigrants: there is an invasion, they break down fences, and it is clear to us all that they are not seeking refuge, and are not running for their lives. [...] In fact it is not refuge in a life or death situation that they are seeking, but a better quality of life. In truth, they are not seeking safety."
"No one forced anyone out of a Turkish refugee camp – where life is not like that in Germany, but where there is no threat to one’s safety."
Wer dem Streubereich von Fassbomben entkommen ist, befände sich nicht mehr in Lebensgefahr.

Herr Seehofer, wie stehen Sie zu diesen Aussagen Viktor Orbáns? Ich frage, denn ein solches Europa ist nicht mein Europa.

Bsirske als Don Quijote

Die Augsburger Allgemeine berichtet über die Wiederwahl von Frank Bsirske als Chef der Gewerkschaft Verdi:

 
Verdi hat das Grundsatzreferat von Herrn Bsirske veröffentlicht. Er gibt darin an, was er unter guter Arbeit versteht:
"... ausgerichtet an den vier Prinzipien, die Gute Arbeit ausmachen:
Gute Arbeit muss gut bezahlt, sozial abgesichert und menschengerecht gestaltet sein.
Gute Arbeit umfasst gute Bildung, Qualifikations- und Entwicklungschancen. 
Gute Arbeit ist mitbestimmt und bietet den Beschäftigten Partizipationsmöglichkeiten. 
Und Gute Arbeit ist tariflich geschützte und gestaltete Arbeit, Kolleginnen und Kollegen."
Diesen vier Prinzipien kann grundsätzlich zugestimmt werden, wenngleich die letzten beiden deutlich gewerkschaftlich gefärbt sind. Die Frage ist, welche Realisierungschancen die Prinzipien haben im Kontext des im Referat dargestellten Umbruchs.
 

Umbruch der Arbeitswelt

Herr Bsirske stellt Besonderheiten der aktuellen Entwicklung dar:
"Der aktuelle Umbruch weist nämlich drei Besonderheiten auf: Erstens. Die Entwicklung der Roboter verläuft viel, viel schneller als gedacht. Das hohe Tempo der Innovation überrascht selbst Experten. Zweitens. Der Umbruch ist mittlerweile eng mit software- und plattform-basierten Geschäftsmodellen verbunden, die etablierte Unternehmen und ganze Branchen samt ihren Beschäftigten in schwere Turbulenzen stürzen und in ihrer Existenz gefährden - zu zertrampeln drohen, wie es da von der Westküste der USA hieß. Obendrein kommt, drittens, hinzu, dass der digitale Umbruch die Branchen gleichzeitig und nahezu flächendeckend erfasst."
Dieser Analyse zur Seite stellt er die Realität in Unternehmen:
"Ich sage das gerade im Hinblick auf die Managementkonzepte, die in vielen Betrieben Einzug gehalten haben und darauf zielen, die Beschäftigten autonomer und verantwortlicher arbeiten zu lassen. Höhere Verantwortung und höhere Autonomie aufseiten der Beschäftigten verbinden sich hier mit der Anforderung, die betrieblichen Prozesse ohne direkte Anweisungen und ohne den Blick auf die Uhr selbstständig zu meistern."
Die Untersuchung "Die Roboter kommen" der ING-Diba zeigt mögliche Auswirkungen der Digitalisierung auf Arbeitsplätze in Deutschland:
 
 
Im Durchschnitt seien 59% der sozialversicherungspflichtig und geringfügig Beschäftigten bedroht. Vor diesem Hintergrund hat Bsirske eine digitale Agenda dargestellt:
"Eine solche Agenda müsste aus ver.di-Sicht fünf zentrale Zielsetzungen haben: erstens die Verbesserung unseres Wissens über die voraussichtlichen Beschäftigungswirkungen der Digitalisierung, zweitens die Unterstützung der von Arbeitsplatzverlusten bedrohten und betroffenen Menschen, drittens die Verteilung der vorhandenen und zumindest vorübergehend wohl reduzierten Menge an Arbeit auf die Gesamtzahl der Erwerbssuchenden, viertens die gezielte Erschließung neuer Beschäftigung in gesellschaftlichen Bedarfsfeldern und schließlich, fünftens, die Umlenkung der immensen Produktivitäts- und Wohlstandszuwächse der digitalen Umwälzung zur Finanzierung der anstehenden gesellschaftlichen Aufgaben."

Möglichkeiten des energischen Kampfes

Die AZ leitet den Artikel ein mit dem Satz, Bsirkse habe zu einem "energischen Kampf" aufgerufen. Ich frage mich, welche Erfolgsaussicht ein solcher Kampf haben kann.
 

Moderne Managementkonzepte

Einerseits fordert Bsirske in seinen Prinzipien guter Arbeit Partizipationsmöglichkeiten. Moderne Managementkonzepte haben hierzu ihre eigene Lesart gefunden. Die Mitarbeiter wurden autonomer, ihr Verantwortungsbereich größer. Bsirske beschreibt die Auswirkung so:
"'Mehr Druck durch mehr Freiheit' - diese Formel bringt die Wirkung dieser Konzepte sehr gut auf den Punkt."
Zudem passt dieses Managementkonzept gut zum Individualitätsstreben westlicher Kulturen. Jeder strebt demnach nach Selbstverwirklichung, übernimmt Verantwortung für sich und sein Leben. Solche Konzepte sind also für Mitarbeiter attraktiv. Damit einher gehen natürlich gesteigerte Anforderungen an die Mitarbeiter. Es reicht nicht, fachlich gut zu sein. Das wird als selbstverständlich voraus gesetzt. Hinzu kommt, notwendig über Fähigkeiten des Selbstmanagements verfügen zu müssen sowie soziales Geschick zu haben, um die eigenen Leistungen vorteilhaft zu präsentieren. Damit entsteht nicht nur mehr Druck, es entsteht zusätzlicher Druck auf einem für manche Arbeitnehmer neuen Gebiet.
 

Gefährdete Berufe

Betrachten wir vor diesem Hintergrund die Studie der ING-Diba und deren Ausführungen zu den weniger gefährdeten Berufen:
"Doch nicht alle Arbeitsplätze sind gleich gefährdet. Führungskräfte, sowie Akademiker in wissenschaftlichen und kreativen Berufen unterliegen der geringsten Wahrscheinlichkeit einer Automatisierung. Berufe, die eine Spezialisierung oder Expertenwissen erfordern, sind demnach mit lediglich 11%, bzw. 12%, betroffen."
Demnach sind Berufe mit hohem Expertenwissen, Menschenführung oder Kreativität am wenigsten in Gefahr, durch die Roboterisierung eliminiert zu werden. Die stark gefährdeten Berufe im Büro, Sachbearbeitung und einfach Berufe in der Fertigung zeichnen sich durch eine Gemeinsamkeit aus: sie sind regelgebunden in dem Sinn, dass ihre Arbeit regelhaft beschrieben werden kann: Wenn der Messwert so und so ist, dann steuere so und so dagegen. Oder in der Sachbearbeitung: Wenn im Antrag dieses und jenes steht, dann entscheide so und so. Solche Aktivitäten lassen sich relativ leicht roboterisieren. Auf numerische Messwerte zu reagieren, ist kein Problem. Die zunehmende Fähigkeit von Maschinen, die menschliche Sprache zu verstehen, ermöglicht die automatisierte Bearbeitung von Kundenanfragen, Anträgen etc.
 

Gewerkschaftlicher Kampf gegen Windmühlen

Bsirskes energischer Kampf gerät also von zwei Seiten unter Druck. Zunehmende Anforderungen an Arbeitnehmer auf der einen, leichte Ersetzbarkeit von Arbeitnehmern durch Automatismen auf der anderen Seite. Die Gewerkschaft mag sich vehement dagegen stemmen, es wird ihr nichts nützen. Die Umverteilung, Punkt drei der digitalen Agenda, funktioniert nicht ohne weiteres, da die wegautomatisierten Arbeitnehmer nicht auf einem Anforderungsniveau eingesetzt werden können, das sie nicht erfüllen. Die Qualifizierung, Punkt zwei der Agenda, funktioniert ebenfalls kaum, weil völlig andere Qualifikationen benötigt werden, Qualifikationen, die die wegautomatisierten Arbeitnehmer nicht benötigt haben, die sie sich über Jahre wegtrainiert haben.
Die Mitsprachemöglichkeit der Gewerkschaften ist somit stark eingeschränkt. Sie hat zudem keinerlei Einfluss auf Start-Ups. Solche Firmen fangen klein an, können dennoch eine immense Wirkung entfalten. Sie kommen überhaupt mit wenig Personal aus, weil sich ihr Produkt oft durch Computerleistung fast beliebig skalieren lässt. Als Beispiel seien Bezahldienste im Internet angeführt. Sie bedrohen Banken, weil sie eine viel einfachere Lösung für einen Geldtransfer anbieten. Kein Suchen nach BIC und IBAN, es reicht eine Mailadresse.
Bereits heute werden Kreditverträge durch Software-Regeln entschieden. Wo früher ein Bankmitarbeiter ein Beratungsgespräch führte und Anträge ausfüllen half, arbeitet heute der Kunde selbst. Im Hintergrund rechnet ein Computer aus, ob ein Kredit gewährt werden soll oder nicht.
Solche Entwicklungen werden sich nicht aufhalten lassen. Maschinen können die Arbeit billiger und zuverlässiger. Damit fallen vor allem die Berufe weg, aus denen sich der Großteil der Gewerkschaftsmitglieder rekrutiert. Übrig bleiben werden die Qualifikationen, die für Gewerkschaften bisher weniger zur angestammten Zielgruppe gehören. Es wird nicht reichen, wenn die Mitgliederwerbung via Internet ausgebaut wird, wie Bsirske in seinem Referat ankündigt. Es geht ums Überleben. Wenn Verdi energisch gegen Roboterisierung kämpft, ist das der Kampf Don Quijotes gegen die Windmühlen, bei dem er nicht merkt, dass Rosinante bereits im Treibsand untergegangen ist. Beispielhaft der Kampf bei Amazon. Je energischer Verdi hier kämpft, desto attraktiver für Amazon, Personal durch Roboter zu ersetzen.
 

Fazit

Werden diese Ausführungen an den vier Prinzipien gespiegelt, zeigt sich:
  • Gute Bezahlung, sozial abgesichert, menschengerecht: Das wird kommen, denn durch die hohe Qualifikation und Anforderung an Mitarbeiter werden die Entgelte eine angemessene Höhe erreichen müssen. Die soziale Absicherung wird fraglich sein.
  • Bildung, Qualifikationschancen: Das wird nicht kommen, denn die Qualifikation wird zur Grundvoraussetzung, überhaupt einen Arbeitsplatz zu bekommen. Einfachere Jobs werden entfallen, für Unternehmen wird es lediglich interessant sein, hoch Qualifizierte bei aktuellen Entwicklungen mitzunehmen. Bereits heute sind Weiterbildungen der Kostenblock in Unternehmen, die ganz vorne auf der Kürzungsliste steht.
  • Mitbestimmt, partizipativ: Nicht im gewerkschaftlichen Sinn. Partizipation wird lediglich soweit gehen, wie Unternehmen es für nötig erachten, ihr qualifiziertes Personal zu halten.
  • Tariflich geschützt: Wenn die übliche Zielgruppe der Gewerkschaften kaum noch ein Lieferant relevanter Arbeitskräfte ist, wird das nicht Realität werden.

Sonntag, 13. September 2015

Kulturelle Statik der CSU

In der Augsburger Allgemeinen vom 12.09. schreibt Rudi Wais über Äußerungen von CSU-Politikern zur aktuellen Flüchtlingslage und der Entscheidung der Bundeskanzlerin zur Aufnahme von Flüchtlingen:


Seehofers Notlage

Seehofer wird zitiert, der eine "nicht mehr zu beherrschende Notlage" auf Deutschland zukommen sieht. Leider wird nicht klar, was er mit "Notlage" meint. Laut dem Innenministerium haben im August 2015 über 36.000 Personen einen Asylantrag gestellt. Dies entspricht etwa einer Verdoppelung gegenüber dem Vorjahreswert. Das klingt nicht nach einer Notlage.
Die Polizei München wartet mit aktuellen beeindruckenden Zahlen auf:

Daran lässt sich eine Notlage festmachen. Denn diese Menschen müssen versorgt werden mit Unterkunft, Medizin, Hygiene, Nahrung. Diese Menschen müssen auch in Verwaltungsabläufen behandelt werden, z.B. ihr Asylantrag bearbeitet. Daraus ergibt sich eine Situation, die in ihrem lokalen Auftreten zu einer Situation führt, die als Notlage bezeichnet werden kann. Aber "nicht beherrschbar"? Schwierig oder sehr schwierig ja, unbeherrschbar nein.

Friedrichs Kontrollverlust

Der Ex-Minister Hans-Peter Friedrich wird zitiert, wir hätten die Kontrolle verloren. Welche Kontrolle meint er? Das Asylrecht war schon immer unkontrollierbar in dem Sinn, dass nicht politisch kontrolliert werden konnte, ob jemand einen Antrag stellt oder nicht. Kontrollierbar waren einerseits die Voraussetzungen, um einen Antrag zu stellen (z.B. in dem Land, in dem erstmals europäischer Boden betreten wurde), andererseits der Verwaltungslauf, wenn der Antrag bearbeitet wurde und beispielsweise sichere Herkunftsländer eine rasche Entscheidung ermöglichten.
Eine echt kontrollierte Migration ist lediglich außerhalb des Asylrechts denkbar. Wenn Menschen nach Deutschland einwandern wollen, um hier zu leben, kann die Politik gestalten: Persönliche, wirtschaftliche und andere Voraussetzungen können definiert werden, um gezielt die Menschen einwandern zu lassen, die erwünscht sind.
Zu seinem Interview mit der Passauer Neuen Presse schreibt Andreas Scheuer auf seiner Homepage:
"Scheuer stellte auch klar, dass zwischen Bürgerkriegsflüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen aus den Westbalkanstaaten ohne Bleibeperspektive unterschieden werde."
Er benutzt in beiden Fällen das Wort Flüchtling. Dabei handelt es sich im ersten Fall um Asyl, im zweiten Fall um Migration. Ich habe den Eindruck, dass insbesondere prominente Mitglieder der CSU bei aller rhetorischen Schärfe im Ausdruck oft zur Unschärfe im Vokabelverständnis neigen. Es scheint mir deshalb nicht abwegig, bei Herrn Friedrichs Kontrollverlust ebenfalls eine Vermischung unterschiedlicher Sachverhalte zu vermuten.

Söders Kulturstatik

Der Artikel der AZ zitiert Markus Söder, die "kulturelle Statik" dürfe nicht gefährdet werden. Es ist erschreckend, welches Vokabelverständnis er damit ausdrückt. Wikipedia beschreibt Statik als
"[...] ein Teilgebiet der Mechanik, das sich mit dem Gleichgewicht von Kräften an Körpern befasst. Damit ein ruhender oder sich unbeschleunigt bewegender Körper in Ruhe bleibt (bzw. sich unbeschleunigt bewegt), müssen die Summen aller Kräfte und Momente, die auf diesen Körper wirken, Null sein."
Sollte Herr Söder vor allem auf das Gleichgewicht abzielen, mag der Begriff Statik verständlich sein. Allerdings geht es bei Statik um Stabilität, um Nichtänderung eines Zustandes. Ein ruhender Körper bleibt in Ruhe, ein Gebäude bleibt stehen. Den Zusammenhang mit Kultur kann ich nicht erkennen. Ich vermute, er meint damit die Gefährdung der deutschen Kultur durch den Einfluss anderer Kulturen - das läge zumindest auf der üblichen Argumentationslinie der CSU.
Wiederum Wikipedia gibt einen Überblick, was in diesem Kontext mit Kultur gemeint ist:
"Kulturvergleichende Sozialforschung oder kurz Kulturvergleich ist eine Sammelbezeichnung für Studien der Sozial- oder Gesellschaftswissenschaften, die Aspekte menschlicher Verhaltensweisen, Darstellungsformen oder Wertvorstellungen aus verschiedenen Gesellschaften miteinander vergleichen." (Hervorhebung von mir)
Verhaltensweisen und Wertvorstellungen sind jedoch keinesfalls statisch. Kurzfristig ändern sich manche Wertvorstellungen: Was gestern schön war, ist es heute nicht mehr, wie uns die Mode mehrmals jährlich vor Augen führt. Die Bedeutung des Individuums in der Gesellschaft ist ebenfalls eine kulturelle Vorstellung, die in Europa anders gesehen wird als in Asien. Diese Wertvorstellung bewegt sich bedeutend langsamer als im Moderhythmus, aber sie bewegt sich. Wenn Herr Söder von "kultureller Statik" spricht, werde ich die Befürchtung nicht los, er denkt in 1000jährigen Zeiträumen. Er setzt damit die Linie fort, die Franz-Josef Strauß 1986 im Landtagswahlkampf formuliert hat:
"Rechts von der CSU darf es keine demokratisch legitimierte Partei geben!"
Er liegt auf damit auf einer Linie mit der Einladung an Viktor Orbán, auf der Klausurtagung der CSU-Landtagsfraktion am 23. September in Kloster Banz anwesend zu sein. Der ungarische Regierungschef ist sicherlich eine Person, mit der zu reden ist über die Sicherung der europäischen Außengrenzen. Er fällt jedoch häufig durch ein fragwürdiges Verständnis von Demokratie und Menschenrechten auf. Er findet deutlichere Worte als es sich die CSU jemals trauen würde. Ist der Grund für die Einladung zu einer Fraktionsveranstaltung: So "mutig" möchten Seehofer und Söder auch sein? Starke Rhetorik, ein statisches Element in der Kultur der CSU.