Samstag, 26. Dezember 2015

Stimmungen zu Weihnachten

Walter Rollers Deckmantel

An den Anfang der Diskussion stelle ich den Leitartikel von Walter Roller:


Walter Roller umreißt den Zwiespalt korrekt:
"Deutschland kann weder alle aufnehmen, die vor Armut, Verfolgung und Krieg fliehen, noch kann und darf es seine Tore verriegeln."
Leider hat sich das Wörtchen "alle" in den Satz geschlichen und damit die Problemstellung verzerrt. Nach etwas älteren Zahlen der Tagesschau waren im Libanon und in der Türkei jeweils über 1 Million Menschen untergekommen, in Jordanien und im Irak in Summe nochmal fast 1 Million. Wenn in Deutschland auch etwa 1 Million Menschen angekommen sein werden bis zum Jahresende, werden dennoch nicht "alle" gekommen sein.
Auf solch falschen Prämissen baut Walter Roller seine Argumentation weiter auf, um "den unauflöslichen Widerspruch zwischen dem edlen Wollen und dem beschränkten Können" zu untersuchen. Das Problem ist nur, dass er dabei dem Wollen das "alle" unterschiebt, das Können jedoch nicht spezifiziert. Der Hinweis, dass "die Akzeptanz der Bevölkerung verloren geht und die politische Stabilität in Gefahr gerät", ist als Richtschnur für ein begrenztes Können wenig hilfreich, weil weiterhin unkonkret. Zudem würde sich mit dieser Haltung jedwede Politik an Stimmungen orientieren und die von Walter Roller zitierte "praktische Vernunft" ignorieren.
Der Leitartikel macht vor allem Stimmung, wenn auch in verhaltenem Gewand. Neben dem Wörtchen "alle" kommt der Hinweis, dass "die Integration der aus einem fremden Kulturkreis stammenden Neuankömmlinge" gelingen muss. Richtig. Jedoch wird dies immer nur im Kontext der Flüchtlinge thematisiert. Warum wird es nicht thematisiert, wenn deutschstämmige Aussiedler aus Russland und Kasachstan einwandern? Warum war es kein Thema bei der Osterweiterung der EU in den Jahren 2004 und 2007, als diverse osteuropäische Länder in die EU eintraten? Hier wurde nicht die Kultur problematisiert, sondern die Gefahr eines Lohnrückganges oder Mitnahmeeffekte bei Sozialleistungen. Zudem bleibt offen, was der fremde Kulturkreis genau sei. Ist es die Religion? In Russland und Kasachstan wird auch kein westeuropäisches Christentum gelebt. Ist es das Demokratieverständnis? Die osteuropäischen Länder der EU-Erweiterung waren als ehemals kommunistische Länder wenig geübte Demokraten. Ist es die Unterdrückung der Frauen? Wie weit wir hier tatsächlich sind zeigt sich an der Diskussion um die Frauenquote. Natürlich fühlen wir uns moralisch erhaben über Männer, die das Kopftuchtragen verlangen. Bei uns sollen sich Frauen ja nur zu Hause um die Kinder kümmern, bitte ohne Kopftuch! Oder ist es wirklich die deutsche Pünktlichkeit, die Nachtruhe und die Mülltrennung, wie beispielsweise Deutschland für Anfänger erklärt? Ohne Zweifel bringt die Website Verhaltenshinweise, die ein Zusammenleben in Deutschland befördern. Dennoch klärt Walter Roller das Fremde an der Kultur der Flüchtlinge nicht auf, bleibt nebulös und schafft damit einen Aufhänger für Stimmungsmache.

Stefan Stahl lüftet den Mantel

Wo Walter Roller einen existenten Zwiespalt mit unterschwelliger Emotionalisierung diskutiert, geht der Leitartikel von Stefan Stahl vollends auf den Bauch los:


Die aktuelle Stärke der Wirtschaft resultiert nicht zuletzt aus der großen Zuversicht der Verbraucher. Stefan Stahl schreibt richtig:
"... versetzt den Staat in die Lage, die Integration von Flüchtlingen besser zu schultern. In einem Land wie Frankreich mit einer Rekordarbeitslosigkeit von 3,59 Millionen wäre Merkel mit ihrer Asylpolitik des Herzens rasch erledigt."
Richtig. Dieser Satz kann aber auch als Beweis dienen, dass vor allem Stimmungen das Geschehen bestimmen und keine Fakten oder die praktische Vernunft. Bei wirtschaftlicher Schwäche würde sich rasch das Gefühl breit machen, den Einheimischen würde genommen um es den Flüchtlingen zu geben. Ja, das Volk wäre empfänglich für solche Behauptungen. Die Angst ist "einer der Hauptfeinde der Wohlstands", wie Stefan Stahl schreibt. Als Determinanten für das Verbraucherverhalten fallen mir eine ganze Reihe möglicher Ängste ein:
  • Angst vor Arbeitsplatzverlust
  • Angst vor Inflation
  • Angst vor Deflation
  • Angst vor betrügerischen Autoherstellern
  • Angst vor Banken
Jedoch das Argument, ein Terroranschlag in Deutschland würde die wirtschaftliche Stabilität gefährden, ist an den Haaren herbeigezogen. Das müsste ein Anschlag sein im Ausmaß der Flugzeugabstürze in New York. Ich glaube nicht, dass ein Anschlag wie in Paris die wirtschaftliche Zuversicht der Bevölkerung nachhaltig stören würde. Die aktuellen Sanktionen gegen Russland dürften stärker wirken bei der Schwächung der deutschen Wirtschaft.
Stefan Stahl analysiert die Lage zutreffend. Es wäre besser gewesen, auf wahrscheinlichere Gefahren der Stabilität hinzuweisen wie beispielsweise
  • ein schwacher Euro könnte notwendige Importe verteuern - andererseits jedoch Exporte erleichtern
  • die chinesische Wirtschaft kommt stärker unter Druck als bisher
  • die OPEC gibt ihren Kurs des billigen Öls auf
Leider taucht er mit dem Terrorargument ab auf das Niveau eines Horst Seehofer, der den Solidaritätszuschlag nicht mehr abschaffen möchte. Der Soli soll im Zeitraum von 2020 bis 2029 abgeschmolzen werden. Der Soli erbrachte laut Statistischem Bundesamt in 2014 etwa 15 Milliarden Euro. Bei Gesamteinnahmen von 643 Mrd. Euro sind das etwa 2%. Werden diese 2 %-Punkte über 10 Jahre abgeschmolzen, geht es um etwa 1,5 Mrd. Euro pro Jahr ab 2020. Im April war er noch vehement für die Abschaffung, ein halbes Jahr später nicht mehr. Gleichzeitig präsentiert er einen entpersonalisierten Schuldigen, die Flüchtlinge. Seehofers Überlegungen sind sachlich unangemessen, nur Stimmungsmache.

Stimmungen als schlechter Ratgeber

Wie sehr Stimmungen ausgenützt werden können, zeigen diese drei Artikel in der Augsburger Allgemeinen:

In Slowenien stimmten die Bürger ab und lehnten eine Gleichstellung homosexueller Partnerschaften mit der traditionellen Ehe ab. Der Spiegel schreibt darüber:
"Das Votum war von ihnen [Anm.: den Initiatoren des Referendums] auch zu einem Misstrauensvotum gegen die Regierung von Miro Cerar erklärt worden"
Stimmungen führen zu einem politischen Ergebnis, weil z.B. der Regierung eins ausgewischt werden soll und nicht, weil die Sachlage das Ergebnis erfordern würde. Gerda Hasselfeldt befürchtet, dass EU-Bürger die deutsche Sozialgesetzgebung ausnützen könnten. Dies war bereits bei der Osterweiterung der EU befürchtet worden, ohne je eingetreten zu sein - Einzelfälle ausgenommen. Die Forderung funktioniert analog Seehofers Methode: Es gibt Böse, die uns Guten etwas wegnehmen wollen. Gegenüber Aussiedlern ist - wie oben ausgeführt - die Stimmung entspannt. Hier befürchtet niemand, dass Sozialhilfe ausgenützt werden könnte. Hier befürchtet niemand einen schädlichen Kultureinfluss.
Wohin Apelle an Gefühle führen können, lässt sich trefflich in den aktuellen Entwicklungen in Polen betrachten. Die religiös untermauerte und auf Polen bezogene Sicht der neuen Regierung zeigt dort bereits Züge, die als katholisch-faschistoid bezeichnet werden können.
Ich hoffe jedenfalls, dass zukünftig mehr die Vernunft, gerne die praktische Vernunft zum Zuge kommt und die mehr oder weniger offensichtliche Stimmungsmache stärker gebrandmarkt wird.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen