Sonntag, 18. Oktober 2015

Walter Rollers eindimensionale Lösung

Walter Roller hat am 17.10. einen Leitartikel in der Augsburger Allgemeinen veröffentlicht:


Bereits direkt nach der Überschrift weist er auf die aus seiner Sicht einzige Lösung hin: Begrenzung der Zuwanderung. Weil die Kanzlerin Merkel das so nicht sagen will, stehe sie in Europa isoliert da. Darüber lohnen ein paar Gedanken.

Des Volkes Wille

Walter Roller beruft sich auf das Volk:
"Der Unmut im Volk über Merkels Politik der offenen Tür wächst."
"Das Land ist nämlich dabei, den Glauben an Merkels Führungskunst und ihr Wir-schaffen-das-Mantra zu verlieren."
"[...] nicht reagiert auf den Stimmungsumschwung im Lande und die SOS-Rufe überforderter Kommunen und Helfer."
Wenn Walter Roller sich auf das Volk beruft, um daraus politisches Handeln abzuleiten, unterstellt er, dass des Volkes Wille immer zu einer guten, mindestens zu einer richtigen Politik führen würde. Warum sollte das so sein?
Die Schweiz zeigt ein Beispiel des Volkes Wille, artikuliert in einer Abstimmung, in der der Staat aufgefordert wurde, Höchstzahlen für Bewilligungen im Ausländer- und Asylbereich festzulegen. Das Ergebnis der Abstimmung hatte zur Folge, dass die Personenfreizügigkeit in Europa in Frage gestellt wurde. Damit rüttelt die Abstimmung an einem der Grundpfeiler des europäischen Selbstverständnisses.
Des Volkes Wille artikuliert sich besonders stark bei emotional aufgeladenen Themen, wie es die Zuwanderung ist. Wo Emotionen im Spiel sind, hat politische Vernunft, haben europäische Grundprinzipien einen schweren Stand. Das Volk fürchtet sich vor Kosten der Unterbringung von Flüchtlingen. Es würde aber gerne bezahlen, wenn die Flüchtlinge mit dem Geld in der Türkei gehalten werden könnten. Und das Volk bleibt still, lacht bestenfalls, wenn Geldberge in Flughafenruinen versenkt werden. Die Jahrbücher staatlicher Verschwendung produzieren bestenfalls ein kurzes Aufwallen. Der gleiche Betrag für Flüchtlinge aufgewendet führt zu lautstarken Protesten.
Wie flüchtig Volkes Wille ist, zeigt sich beispielhaft an steilen politischen Karrieren und deren Abstürzen. Eloquente Figuren wie ein Herr von und zu Guttenberg. Hoch gelobt zuerst, verstoßen danach. Mit derart mäandrierenden Volksmeinungen soll eine langfristig angelegte Politik möglich sein?

Walter Rollers Rhetorik

In dem Leitartikel sind Formulierungen zu finden, die unterschwellig jene diffusen Ängste bedienen, auf die des Volkes Wille der zunehmenden Ablehnung Merkels fußen.
"Merkels Politik der offenen Tür"
Walter Roller tut so, als hätte Frau Merkel alle Einreisewilligen der Welt aufgefordert, nach Deutschland zu kommen. Hat sie nicht. Sie hat den in Ungarn unter unerträglichen Umständen festsitzenden Personen einen Ausweg aufgezeigt und Hilfe angeboten.
"Aus dem grün-roten Milieu erhält die CDU-Vorsitzende Beifall"
Die Vokabel Milieu klingt nach Sumpf, klingt abwertend, kennt man vom Rotlichtmilieu. Damit entwertet Walter Roller den Beifall. Es ist nicht mehr nur die Zustimmung des politischen Gegners, sondern einer tieferstehenden Gruppe.
"nicht reagiert auf den Stimmungsumschwung im Lande und die SOS-Rufe überforderter Kommunen und Helfer"
Walter Roller bringt die Stimmung im Lande und kommunale SOS-Rufe in einen Zusammenhang. Der Zusammenhang ist gekünstelt. Denn die Stimmung im Lande basiert auf einer befürchteten Gefährdung bestehender Besitzstände oder kultureller Grundzüge. Das sind bestenfalls Spekulationen: Das Geld geht aus, die Steuern müssen erhöht werden, überall Moscheen und verhüllte Frauen ansteckende Krankheiten. Auf der anderen Seite die SOS-Rufe, die auf tatsächlichen Zuständen beruhen: Zuwenig Schlafplätze, keine winterfesten Unterkünfte, Polizei und Helfer länger im Einsatz, als es körperlich und psychisch auszuhalten ist. Beides ist auseinander zu halten und gehört nicht in einen Satz.
"Pastorentochter mit hoher moralischer Tonlage und lutherischer Wucht"
Walter Roller stellt die Kanzlerin als eine Person dar, deren Eignung als Kanzlerin auf Grund ihres Vaters fraglich ist, die hysterisch an ihrer tradierten religiösen Grundhaltung festhält. Er übersieht, dass sich Merkels Haltung aus europäischen Grundwerten genau so gut ableiten lässt.
"die Masseneinwanderung ohnehin unabwendbar ist"
Walter Roller stellt die Einreise von Asylantragsstellern als Masseneinwanderung dar. Dabei unterstellt er, die Flüchtlinge würden alle dauerhaft bleiben wollen. Er ignoriert, dass ein Teil der Flüchtlinge die Verfolgung und den Krieg beendet sehen wollen, um dann  zurück in ihre Heimat zu gehen. Manche müssen diesen Zeitraum überbrücken in Lagern beispielsweise in der Türkei, andere wollen die Jahre in besseren Zuständen verbringen - wer will es ihnen verdenken?
"die außer Kontrolle geratene Krise"
Walter Roller erklärt nicht, was da genau außer Kontrolle geraten sei. Meint er Grenzkontrollen? Die gibt es seit Jahren nicht mehr. Meint er unkontrollierte Zuwanderung? Was - außer der Personenanzahl - ist heute gravierend anders als vor einigen Monaten? Aber es passt natürlich zu seinem Mantra, die Zuwanderung müsse kontrolliert werden.
"es nicht so weitergehen kann und die Zuwanderung begrenzt werden muss"
Walter Roller macht keine Unterscheidung zwischen einer Einwanderung, Asyl und einem Flüchtlingsstatus gemäß Genfer Konvention. Keinem Staat wird das Recht abgesprochen, selbst zu regeln, wen er einwandern lassen möchte. Wer in den USA leben will oder in Australien, muss bestimmte Kriterien erfüllen. Wer jedoch um sein Leben rennt, hat allen Anspruch auf Hilfe.
Diese mangelnde Unterscheidung findet sich am Ende des Artikels wider:
"dringt fast das ganze Europa auf eine Begrenzung der Zuwanderung"
Wie gut das funktioniert, zeigt der Grenzzaun in Ungarn. Solche Maßnahmen verlagern das Problem, lösen es aber nicht. Wer nicht über Serbien nach Ungarn gelangen kann, kommt eben über Kroatien.

Verschenktes Potential

Schade, dass Walter Roller sich an der aus Umfragen abgeleiteten Volksstimmung orientiert. Denn Walter Roller weist zutreffend auf relevante Punkte hin:
"Die EU bietet mit ihrem Schneckentempo und ihrer Zerstrittenheit ein jämmerliches Bild."
"Türkei, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nimmt"
"Beschämend ist, dass viele EU-Staaten die Deutschen im Stich lassen"
"mangelnder Solidarität"
Er hätte die Möglichkeit gehabt, das komplexe Thema breiter zu beleuchten. Ein paar Anregungen:
  • Aufklärung über Zuwanderung, Asyl, Flüchtlingsstatus, damit die Befürchtungen des Volkes aus ihrem diffusen Dämmerlicht gehoben einer sachlichen Analyse zugänglich werden.
  • An welcher Stelle hat die deutsche Politik tatsächlich Einfluss und wo nicht? Niemandem kann verboten werden, einen Asylantrag zu stellen. Gestaltungsmöglichkeiten gibt es in den nachgelagerten Verfahren.
  • Was sind die Ursachen in der europäischen Konstruktion für die Belastung Deutschlands? Das Dublin Abkommen sowie das Verhalten der südlichen EU-Länder nötigt Flüchtlinge gerade zu ihrem aktuellen Tun.
  • Welche Möglichkeiten der Hilfe vor Ort sind denkbar? Welche Perspektive kann Flüchtlingen gegeben werden, damit sie beispielsweise in der Nähe Syriens auf eine Rückkehr in ihre Heimat warten?
  • An welcher Stelle sind die Befürchtungen der Bevölkerung begründet und an welcher Stelle sind sie ernst zu nehmen, jedoch inhaltlich schwach?
  • In welcher Krise stecken die europäischen Grundwerte? Gibt es sie überhaupt, wenn sie so leicht über Bord geworfen werden und jeder Staat zum Egoismus zurückkehrt?

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