Freitag, 23. Juni 2017

Die grüne Mitte

Rudi Wais hat ein Interview mit dem Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer geführt, das die Augsburger Allgemeine am 13.6. veröffentlicht hat:


Die Aussagen des grünen OB zum Thema Asyl und Einwanderung halte ich für sehr beachtlich. Das beginnt bereits bei der Einordnung der Grundhaltung der Grünen. Auf die Frage, ob die Grünen die "Bodenhaftung verloren" hätten, antwortet Boris Palmer:
"Nein, das nicht. Ich würde es so formulieren: Meine Partei hat manchmal einen Idealismusüberschuss."
Bei der für viele schwierigen Trennung zwischen Asyl und Migration sieht Boris Palmer diese Pole:
"Weil das Thema von rechts und von links ideologisch aufgeladen wird, was eine vernünftige Lösung natürlich erschwert. Die Linken sagen, es kommen nur Menschen, die verfolgt sind, und von denen dürfen wir auch niemanden abweisen. Für die Rechten sind alle Flüchtlinge nur Schmarotzer, die man nicht im Land haben will. Beides ist falsch. [...] Das heißt: Linke müssen Abschiebungen akzeptieren und Rechte Einwanderung."
Ja, diese Forderung an die politischen Außenbereiche muss erhoben werden. Es macht keinen Sinn, mittels Asyl Schutz für Verfolgte zu gewähren und dann unabhängig davon, ob Verfolgte den Schutz benötigen oder nicht, in jedem Falle zu einem Aufenthaltsrecht zu kommen. Allerdings heißt das im Gegenzug nicht, alle ohne positiven Asylbescheid auszuweisen. Es gebietet die Rechtsstaatlichkeit, in Deutschland seiende Personen nicht dorthin zu bringen, wo ihr Leben oder ihre Gesundheit massiv bedroht ist - auch ohne persönliche Verfolgung, die das Asylverfahren prüft. Doch daran schließen sich schwierige Fragen an wie diese:
  • Was ist eine so starke Bedrohung von Leib und Leben? Muss es Krieg sein (wie in Syrien) oder reicht schon ein schwacher Staat und starke War Lords und Terroristen (wie in Afghanistan)?
  • Wie ist eine Entwurzelung zu bewerten, wenn beispielsweise im Heimatland die Familie umgekommen oder auch geflüchtet ist?
  • Wie ist es zu bewerten, wenn das Heimatland zerstört ist und es folglich keinen Ort gibt, an dem ein neues Leben in halbwegs geordneten Bahnen begonnen werden kann?
Linker "Idealismusüberschuss" kommt zum Bleiberecht, rechte Stringenz zur Ausweisung. Beides ist falsch und diejenigen, die vom abgelehnten Asylantrag unmittelbar zur Abschiebung kommen, machen es sich zu einfach, viel zu einfach. Etwas zu einfach erscheint mir auch diese Aussage von Boris Palmer:
"Hätten wir ein vernünftiges Einwanderungsgesetz, gäbe es die Versuche, sich über das Asylrecht in Deutschland einen Arbeitsplatz oder auch nur den Aufenthalt zu organisieren, nicht in diesem Maße."
Das ist zu optimistisch. Denn solange es für Menschen gewichtige Gründe gibt, ihre Heimat zu verlassen und in einem weit entfernten anderen Land ihr Glück zu versuchen, werden diese Menschen versuchen, ihr Glück zu finden. Wenn das Asylrecht einer dieser Glückswege ist, wird er versucht werden. Migration ist nicht nur ein Pull-Thema: Menschen wandern nicht (nur) aus, weil es ihnen wo anders besser gefällt. Für Europäer mag das der Hauptantrieb sein. In Ländern mit Krieg, mit Dürre und Hunger etc. ist Migration eher ein Push-Thema: die Menschen wollen weg aus der unaushaltbaren Situation.
Rechte Parteien und auch die CSU haben sich bei der Bewertung von Asyl und Migration auf "Grenzen der Belastbarkeit" konzentriert, die erreicht oder überschritten seien. Boris Palmer sagt hierzu:
"Da gibt es nicht eine Grenze, sondern mehrere. Ökonomisch konnten wir es uns leisten, die vielen Menschen aufzunehmen, Deutschland geht es gut. Politisch hatten wir vor einem Jahr einen sehr kritischen Zustand, als die AfD aus dem Stand mit 15 Prozent in den Landtag von Baden-Württemberg eingezogen ist. Da war die Grenze dessen erreicht, was die Leute ertragen können. Auch die Sicherheitslage, würde ich sagen, ist kritisch, weil wir zu viele Flüchtlinge haben, die zu lange nichts zu tun hatten, die in miserablen Verhältnissen leben und irgendwann anfangen, Mist zu bauen. Insgesamt waren wir für drei, vier Monate über der Belastungsgrenze, inzwischen liegen wir wieder deutlich darunter. Die 300000 Menschen, die in diesem Jahr kommen, kann Deutschland problemlos aufnehmen."
Gut, dass er unterschiedliche Dimensionen der Belastungsgrenze anspricht und klar stellt, dass die Aufnahme der "vielen Menschen" für das reiche Deutschland leistbar war. Die Bewertung des politischen Zustandes mit 15 Prozent für die AfD im Landtag und der Grenze dessen, "was die Leute ertragen können", ist nicht so eindeutig. Demokratisch positiv ist es, dass es eine relativ junge Partei schaffen kann, "aus dem Stand mit 15 Prozent in den Landtag" einzuziehen. Kritisch ist, dass das gelang durch Stimmungsmache und nicht mit fundierten Argumenten, weil das die Anfälligkeit demokratischer Entscheidungen für demagogische Umtriebe zeigt.
Interessant ist Boris Palmers Hinweis auf die Sicherheitslage, die er als kritisch sieht, "weil wir zu viele Flüchtlinge haben, die zu lange nichts zu tun hatten, die in miserablen Verhältnissen leben und irgendwann anfangen, Mist zu bauen". Er weist zu Recht auf die Wirkungskette hin: "Mist aus Langeweile", wenn man so will. Ich sehe hier nicht in erster Linie ein Sicherheitsproblem, sondern ein Problem, wie mit Migranten umgegangen wird. Die Sicherheitslage ist ein Symptom. Insbesondere Hardliner sollten sich vor Augen halten, dass das Wegsperren von Migranten in Transitlagern und ähnlichen Anstalten der Katalysator sein kann für den Mist, den diese Menschen dann anstellen. Nicht alle Vorfälle lassen sich so leicht auf kulturelle Gründe schieben, wie es manche gerne tun.
Ich begrüße ausdrücklich die Klarstellung:
"Eine solche Grenze wäre schlicht und einfach verfassungswidrig, das geht nicht. Ich kann in ein Gesetz nicht einfach reinschreiben: Bei 300000 ist Schluss."
Die CSU war auch bisher nicht in der Lage, die Verfassungskonformität einer solchen von ihr geforderten Obergrenze nachzuweisen. Boris Palmer weiter:
"Die Begrenzungsdebatte selbst halte ich dagegen für richtig. Nur ein kleiner Teil der Flüchtlinge hat tatsächlich Anspruch auf Asyl, einen deutlich größeren nehmen wir aus humanitären Gründen auf, und da ist es sehr wohl möglich, Grenzen zu ziehen. Warum sagen wir nicht, wir sind bereit, ein Kontingent von 100000 oder 150000 Menschen im Jahr aus Krisengebieten direkt zu uns zu holen, mehr aber auch nicht. Eine solche Lösung wäre einerseits humanitär, auf der anderen Seite wäre sie vernünftig, weil wir ja nicht grenzenlos Hilfe leisten können."
Die Debatte ist wichtig und damit sind wir wieder bei den Punkten von oben angekommen. Wie soll mit Menschen mit negativ beschiedenen Asylanträgen umgegangen werden und welche Möglichkeiten möchte Deutschland (und Europa) für reguläre Migration schaffen? Denn wir dürfen nicht vergessen: Wenn jemand in ein EU-Land einwandert und die dortige Staatsbürgerschaft annimmt, darf er sich anschließend überall in der EU niederlassen. Die Niederlassungsfreiheit innerhalb der EU kennt keine Obergrenze. Ein restriktives Einwanderungsrecht in Deutschland kann in ein paar Jahren zu einer EU-Binnenmigration führen, wenn andere EU-Länder weniger restriktiv wären. Die gesamte Diskussion ist also europäisch zu führen, nicht national. Boris Palmer liefert mit diesem Interview einige gute Beiträge hierfür.

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