Donnerstag, 30. März 2017

Österreichs Enthüllungen

Mariele Schulze Berndt berichtet am 30.3. über eine Gesetzesänderung in Österreich, die unter anderem ein Burkaverbot umfasst:


Zu der politischen Rahmensituation schreibt Mariele Schulze Berndt:
"Der österreichische Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) und Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner (ÖVP) haben trotz der ständigen öffentlichen Querelen gezeigt, dass sie und ihre sozialdemokratisch-konservative Regierung noch die Kraft haben, angekündigte Gesetzesvorhaben umzusetzen."
Es könnte Kraft gewesen sein. Es könnte aber auch das pure Adrenalin gewesen sein, das die beiden zu einem überraschenden Kraftakt getrieben hat. Die rechte FPÖ ist mit ihren populistischen Parolen erfolgreich. Die Regierung versucht nun, der FPÖ das Wasser abzugraben. Die FPÖ selbst ist dieser Meinung und veröffentlicht auf ihrer Website:
"Die Politik von Sebastian Kurz ist ein klassischer Fall von Produktpiraterie – allerdings in äußerst miserabler Qualität."
Sebastian Kurz war Verhandler des verabschiedeten Gesetzespakets, wie Mariele Schulze Berndt schreibt:
"Im Detail waren es Außen- und Integrationsminister Sebastian Kurz (ÖVP) und die zuständige SPÖ-Staatssekretärin Mona Duzdar, die das Gesetz aushandelten. Es verbietet, im öffentlichen Raum einen Gesichtsschleier zu tragen, der die Person unkenntlich macht. Wer gegen das Burkaverbot verstößt, muss 150 Euro Strafe zahlen. Ebenfalls verboten werden kann in Zukunft, dass auf der Straße der Koran verteilt wird. Die sehr verbreiteten Informationsstände von Salafisten in Fußgängerzonen können nun untersagt werden, wenn sie die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden."
Auf der Website des österreichischen Parlaments wurde der verabschiedete Text mit vorzunehmenden gesetzlichen Änderungen veröffentlicht. Da heißt es zum Burkaverbot im "<Bundesgesetz über das Verbot der Verhüllung des Gesichts in der Öffentlichkeit", kurz "Anti-Gesichtsverhüllungsgesetz – AGesVG":
"§ 1. Ziele dieses Bundesgesetzes sind die Förderung von Integration durch die Stärkung der Teilhabe an der Gesellschaft und die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens in Österreich. Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, dessen Gelingen von der Mitwirkung aller in Österreich lebenden Menschen abhängt und auf persönlicher Interaktion beruht.
§ 2. (1) Wer an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Gebäuden seine Gesichtszüge durch Kleidung oder andere Gegenstände in einer Weise verhüllt oder verbirgt, dass sie nicht mehr erkennbar sind, begeht eine Verwaltungsübertretung und ist mit einer Geldstrafe bis zu 150 Euro zu bestrafen. [...] Öffentliche Orte oder öffentliche Gebäude sind Orte, die von einem nicht von vornherein beschränkten Personenkreis ständig oder zu bestimmten Zeiten betreten werden können, einschließlich der nicht ortsfesten Einrichtungen des öffentlichen und privaten Bus-, Schienen-, Flug- und Schiffsverkehrs.
(2) Ein Verstoß gegen das Verhüllungsverbot gemäß Abs. 1 liegt nicht vor, wenn die Verhüllung oder Verbergung der Gesichtszüge durch Bundes- oder Landesgesetz vorgesehen ist, im Rahmen künstlerischer, kultureller oder traditioneller Veranstaltungen oder im Rahmen der Sportausübung erfolgt oder gesundheitliche oder berufliche Gründe hat."
Das Gesetz verbietet eine Verhüllung der Gesichtszüge. Fallen darunter auch übergroße Sonnenbrillen, künstliche Bärte, Schlapphüte in Verbindung mit hochgestelltem Kragen? Nicht relevant sind Verhüllungen, die im Rahmen bestimmter Veranstaltungen erfolgen. Kulturelle und traditionelle Veranstaltungen sind genannt, religiöse nicht. In Deutschland wird auf die christlich-abendländische Kultur verwiesen. Damit wird ein Bezug herstellt zwischen Religion und Kultur, Religion wird Teil der Kultur. Wo will das österreichische Gesetz hier die Trennlinie ziehen?
Die Freiheit der Kunst hat Verfassungsrang, die Freiheit der Religion ebenfalls. Warum darf Kunst alles, Religion weniger? Ich bin gespannt, was passiert, wenn eine Burkaträgerin - oder -träger - seinen Aufenthalt als künstlerische Performance deklariert. Oder mehrere Burkaträgerinnen ihren Aufenthalt als traditionellen Spaziergang. Oder jemand auf die Idee kommt zu überlegen, welche Religionen eine Verhüllung fordern oder zumindest ermöglichen, und der Islam als einzige übrig bleibt. Ist das bereits diskriminierend oder noch nicht? Wahrscheinlich werden Gerichte einiges zu tun bekommen.
Das im Bericht genannte Verbot, den Koran zu verteilen, findet sich in der Straßenverkehrsordnung wider, deren § 83 ergänzt wird:
"(3) Ist aufgrund bestimmter Tatsachen anzunehmen, dass der Zweck des Vorhabens (§ 82 Abs. 1) gegen die öffentliche Ordnung im Sinne des § 81 SPG oder öffentliche Sicherheit verstößt, so sind davon die Sicherheitsbehörden in Kenntnis zu setzen. Eine Bewilligung nach § 82 Abs. 1 ist nicht zu erteilen, wenn die jeweilige Landespolizeidirektion in der Stellungnahme erklärt hat, dass die Durchführung des Vorhabens (§ 82 Abs. 1) eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung oder Sicherheit darstellen würde. Die Stellungnahme ist ohne unnötigen Aufschub, möglichst innerhalb von 10 Werktagen zu übermitteln."
Der §82 StVO enthält Bestimmungen für die Nutzung von Verkehrsflächen "zu anderen Zwecken als zu solchen des Straßenverkehrs". Eine Werbeaktion fiele darunter. Der §81 SPG (Sicherheitspolizeigesetz) beschreibt die Gefährdung der öffentlichen Ordnung als "ein Verhalten, das geeignet ist, berechtigtes Ärgernis zu erregen". Die Gefährdung ist also abhängig davon, ob ein Ärgernis erregt wird. Das wäre nicht kritisch, wenn sich über jegliche religiöse Werbung gleichermaßen erregt würde. Ich bin mir sehr sicher, dass es nicht als Ärgernis gewertet wird, wenn Zeugen Jehovas Bibeln verteilen oder andere Religionen ihre heiligen Schriften oder Werbemittel. Es wird sich auch hier die Frage stellen einer (mittelbaren) Diskriminierung, wenn nur eine bestimmte Religion betroffen sein wird. Oder im Vergleich zur Kunst: Warum ist ein Kunstprojekt, das die öffentliche Ordnung stört, weil sich Menschen darüber aufregen, zulässig, eine stille "Missionierung" im Rahmen der Religionsausübung aber nicht?
Das Ziel des Gesetzes ist die "Förderung der Integration". Was unter Integration verstanden werden soll, ist im ebenfalls veröffentlichten "Bundesgesetz zur Integration rechtmäßig in Österreich aufhältiger Personen ohne österreichische Staatsbürgerschaft", kurz "Integrationsgesetz – IntG" beschrieben:
"§ 1. (1) Das Ziel dieses Bundesgesetzes besteht in der raschen Integration rechtmäßig in Österreich aufhältiger Personen in die österreichische Gesellschaft durch das systematische Anbieten von Integrationsmaßnahmen (Integrationsförderung) sowie durch die Verpflichtung, aktiv am Integrationsprozess mitzuwirken (Integrationspflicht).
(2) Österreichs liberales und demokratisches Staatswesen beruht auf Werten und Prinzipien, die nicht zur Disposition stehen. Diese identitätsbildende Prägung der Republik Österreich und ihrer Rechtsordnung ist zu respektieren. Sie bildet die Grundlage für das friedliche Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und damit für den Zusammenhalt der Gesellschaft in Österreich. Dies zu wahren ist ebenfalls Ziel dieses Bundesgesetzes.
§ 2. (1) Integration ist ein gesamtgesellschaftlicher Prozess, dessen Gelingen von der Mitwirkung aller in Österreich lebenden Menschen abhängt und auf persönlicher Interaktion beruht. Integration erfordert insbesondere, dass die Zugewanderten aktiv an diesem Prozess mitwirken, die angebotenen Integrationsmaßnahmen wahrnehmen und die Grundwerte eines europäischen demokratischen Staates anerkennen und respektieren. Auch alle staatlichen Institutionen auf Bundes-, Landes- und Gemeindeebene haben im Rahmen ihrer Zuständigkeiten ihren Beitrag zu einem erfolgreichen Integrationsprozess durch das systematische Anbieten von Integrationsmaßnahmen zu leisten. Integration als gesamtgesellschaftlicher Prozess erfordert ein aufeinander abgestimmtes Vorgehen der unterschiedlichen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteure und setzt einen aktiven Beitrag jeder einzelnen Person in Österreich im Rahmen ihrer eigenen Möglichkeiten voraus.
(2) Integrationsmaßnahmen sollen zur Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben in Österreich befähigen. Zentral sind dabei die Teilhabe durch Erwerbsarbeit, der Zugang zu und die Annahme von Bildungsangeboten, die Gleichstellung der Geschlechter und das rasche Erreichen der Selbsterhaltungsfähigkeit. Der Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft soll den Endpunkt eines umfassenden Integrationsprozesses darstellen."
Ob sie da von Deutschland abgeschrieben haben mit dem Fördern und Fordern? Es wird eine "identitätsbildende Prägung der Republik Österreich" genannt - in Deutschland fand dies als Leitkultur Eingang in die öffentliche Diskussion. Pikant an Österreich ist, was denn die identitätsbildende Prägung sein soll in einem Staat, der der Nachfahre eines monarchischen Vielvölkerstaats ist. Was in Deutschland nicht gelingt, nämlich eine Definition der Leitkultur, gelingt in Österreich ebenfalls nicht scharf.
Integration sei "ein gesamtgesellschaftlicher Prozess". Ja. Allerdings beschreibt das Gesetz die aktive Mitwirkung der Zugewanderten als insbesondere erforderlich. Alle staatlichen Institutionen müssen Integrationsmaßnahmen anbieten. Obwohl die "Mitwirkung aller in Österreich lebenden Menschen" genannt wird, wird die Bevölkerung nicht adressiert, um an der Integration mitzuwirken, nur die Zugewanderten und staatliche Institutionen. Der "Endpunkt eines umfassenden Integrationsprozesses" sei der "Erhalt der österreichischen Staatsbürgerschaft". Österreich ein Einwanderungsland? Ein Zugewanderter soll Staatsbürger werden wollen, ohne dass er von der Bevölkerung willkommen zu heißen ist. In Deutschland wundert man sich über die Nähe von Türken zu Erdogan. Österreich liefert mit dem Gesetz einen Erklärungsansatz.

Freitag, 24. März 2017

Terror besiegen, geht das?

Die Augsburger Allgemeine hat am 24.3. einen Leitartikel von Winfried Züfle veröffentlicht, in dem er die Gefährdung durch islamistischen Terror kommentiert:


Winfried Züfle schreibt:
"Wir werden angegriffen [...] Wir – das sind alle Menschen, die in diesen Ländern zusammenleben: Christen, Juden, religiös nicht gebundene Menschen – und Muslime. Ja, auch die Muslime gehören dazu."
Das zeigt den Irrsinn dieses Terrors. Obwohl er sich selbst mit dem Koran begründet, zählen Muslime zu seinen Opfern. Winfried Züfle schreibt deswegen, "der verbrecherische Feldzug" könne "kein Glaubenskrieg sein". Ja und Nein. Ja, weil eben auch Muslime Opfer werden. Nein, weil er Muslime trifft, die aus Sicht des IS und seiner mittelalterlichen Koranauslegung keine richtigen Muslime sind. Der "Feldzug" kann als Glaubenskrieg bezeichnet werden, weil er seine Begründung aus dem Glauben zieht. Er ist kein Glaubenskrieg, in dem klar abgrenzbare Religionsgruppen aufeinander losgehen. Doch die Einordnung ist letztendlich nachrangig, denn:
"Derzeit verschieben sich die Gewichte. Der eigene Staat geht den Islamisten verloren. [...] Gleichzeitig wird der islamistische Terrorismus für die westlichen Gesellschaften immer gefährlicher."
Die Motive sind vielschichtig, wie Winfried Züfle darstellt:
"Mag sein, dass sie der Terrormiliz helfen wollen, mag sein, dass Mitleid und Verzweiflung sie zur Tat treiben, mag sein, dass sie zusätzlich mit ihrer Lebenssituation nicht zurechtkommen. Aus potenziellen Sympathisanten werden jedenfalls manchmal sogar über Nacht Attentäter."
Die Qualität der Bedrohung macht ihre Bekämpfung schwierig:
"Es sind Taten, die keine Vorbereitung erfordern, spontane Terrorakte – nicht vorhersehbar, und kaum zu verhindern."
Deshalb fordert Winfried Züfle:
"Die Terrormiliz muss vielmehr – auch für unsere Sicherheit – besiegt und ausgeschaltet werden."

Terror als Idee

Die Forderung ist richtig. Die Terrormiliz muss besiegt werden. Nicht nur für unsere Sicherheit, sondern um das Morden außerhalb Europas soweit möglich zu beenden. Doch was würde damit wirklich besiegt? Ohne IS gibt es vielleicht das Magazin Rumiyah nicht mehr, in dem der IS seine Ideen verbreitet und Anleitungen für Attentate veröffentlicht (z.B. für Messerangriffe zeigt, welche Waffen sich eignen und welche nicht und gegen welche Körperstellen sie eingesetzt werden sollten). Ohne IS arbeitet das "digitale Kalifat" weniger koordiniert. Das alles gilt nur, solange sich nicht ein Nachfolger als Herausgeber etabliert oder eine andere Form der Koordination bildet. Denn die Idee hinter dem Terror ist vielleicht stärker verbreitet, als zu vermuten wäre.
Das Pew Research Center hat am 27. April 2016 einen Artikel veröffentlicht, in dem Umfrageergebnisse in muslimischen Ländern dargestellt werden. In der Einleitung zum Artikel heißt es:
"Across 10 countries with significant Muslim populations surveyed by Pew Research Center in 2015, there is a striking difference in the extent to which people think the Quran should influence their nations's laws."
In den Ergebnissen zeigt sich Aufschlussreiches auf die Frage, wie stark der Koran die nationale Gesetzgebung in den jeweiligen Ländern beeinflussen solle:


Während in Pakistan 78% der Befragten der Meinung sind, Gesetze sollten strikt dem Koran folgen, sind es in der Türkei nur 13%. Drei Viertel der Befragten in Pakistan sind also einer Ansicht, die auch das Denken des IS antreibt.
Diese Ergebnisse lassen sich ergänzen durch die Frage, wie strikt die Wirkung des Korans auf die nationale Gesetzgebung sein solle:


Auch hier zeigt sich eine große Bandbreite. Natürlich heißt das nicht, dass die Bevölkerung der Länder dem Tun des IS zustimmt. Allerdings teilen sie mehr oder weniger stark die Ansicht, religiöse Vorgaben sollten sich auch in weltlichen Gesetzen wiederfinden.
Diese Idee der religiösen Leitkultur wird nicht verschwinden, wenn der IS vernichtet wäre. Die Idee würde weiterleben. Eine andere Organisation könnte sich ihrer bemächtigen und ebenso wie der IS pervertieren. Die Studie weist einen bedenkenswerten Weg:


Je höher die Bildung, desto höher die Zustimmung zur Aussage, der Koran solle nicht Gesetze beeinflussen. Der Terror kann also nicht allein mit Waffen besiegt werden. Es reicht nicht, den IS auszuschalten. Dabei darf einer "Bildungsoffensive", die aber nicht als westliche Besserwisserei, als Missionierung daherkommen darf. Das lieferte nur die Grundlage für neue Vorwürfe, der Westen würde als Kreuzfahrer einen Glaubenskrieg führen und damit erneut die Argumentation ermöglichen, man müsse sich gegen den starken Westen mit terroristischen Methoden wehren. Diese Offensive ist auch keine Garantie, dass der Terror verschwindet. Aber ignoriert werden sollte sie nicht.

Mittwoch, 22. März 2017

Söder verheddert sich

Die Augsburger Allgemeine hat ein Interview veröffentlicht mit Theo Waigel und Markus Söder:


Ein paar Aussagen im Interview kann ich nicht unkommentiert stehen lassen.
"Söder: Bisher reden wir von 15 Milliarden Euro Entlastung im Jahr. Das ist der Einstieg. Natürlich gibt es Spielräume für mehr. Wenn ich sehe, dass wir eine Flüchtlingsrücklage von 20 Milliarden aufgebaut haben: damit könnte man sogar den Soli auf einmal abschaffen."
Es ist unklar, was er mit "Flüchtlingsrücklage" meint. Im Entwurf des Haushaltes für 2017, den das Bundesfinanzministerium veröffentlicht hat, ist die Rede von 19. Mrd. Euro für die Integration sowie die Bekämpfung von Fluchtursachen genannt. Vielleicht meint Söder dies. Die Frage ist, warum Söder die Flüchtlingskosten als Vergleichsmaßstab wählt. Warum nicht den Haushalt des Bildungs- und Forschungsministeriums in ähnlicher Höhe. Oder die Verkehrsinvestitionen, die mit knapp 13 Mrd. Euro geplant sind? Mit seinen Worten vermittelt er den Eindruck, die Kosten für Integration und Bekämpfung von Fluchtursachen wären disponibel, sogar entbehrlich.
"Söder: [...] Leistung muss sich lohnen. Deshalb wollen wir die kalte Progression abschaffen und die Nachteile ausgleichen, die die Bürger durch die Kombination aus Nullzinsen und steigender Inflation haben."
Seit wann ist es Aufgabe des Staates, die real nachlassende Rentabilität einer Anlage (Nullzinsen i.V.m. Inflation) auszugleichen? Das ist so, als würde der Staat einem Unternehmen mit unrentabel gewordenen Produkten den entgangenen Gewinn ersetzen. Und bitte was hat "Leistung muss sich lohnen" mit dem Ausgleich von Nachteilen "aus Nullzinsen" zu tun? Zinseinkünfte sind doch das Feindbild des hart Arbeitenden.
"Söder: Von der Abschaffung des Soli haben grundsätzlich alle Steuerzahler etwas. Vom Abbau der kalten Progression profitieren vor allem die kleinen und mittleren Einkommen. Wir wollen die hart arbeitenden Menschen entlasten."
Ja, alle Steuerzahler haben von der Abschaffung des Soli etwas. Die mit hohem Einkommen und deshalb hoher Einkommensteuer haben sogar viel davon. Ob vom Abbau der kalten Progression wirklich "vor allem die kleinen und mittleren Einkommen" etwas haben, wird sich zeigen müssen. Das hängt davon ab, wie der Abbau tatsächlich umgesetzt wird. Denn auch hier ließe sich eine Konstruktion finden, von der hohe Einkommen besonders profitieren.
"Söder: Wahlen klären so etwas auch. Natürlich muss sich die Forderung nach einer deutlichen Steuersenkung auch in einem Koalitionsvertrag wiederfinden."
Besonders freuen würde ich mich, wenn nicht nur die Forderung erwähnt würde im Vertrag, sondern als Regierungsziel für die Legislaturperiode verbindlich vereinbart würde. Papier soll geduldig sein, sagen manche.
"Söder: Natürlich sind die Bürger skeptisch. Diesmal allerdings ist die Lage etwas anders. In Bayern tilgen wir Schulden. Und der Haushalt des Bundes ist ausgeglichen. Es ist wirklich Geld da."
Bayern tilgt Schulden. Gut so. Der Bund soll Steuern senken. Warum nicht auch tilgen?
"Söder: Es war wichtig, dass die CSU klargemacht hat, dass sie in der Flüchtlingspolitik eine andere Position vertritt. Das Thema Zuwanderung und innere Sicherheit ist in Bayern das emotionale Top-Thema."
Söder führt den Beweis, dass die Einigkeit der CSU mit Merkels Flüchtlingspolitik nur bis zum Wahltag gespielt wird. Das ganze Hick-Hack wird nach der Wahl wieder aufleben. Söder sollte hoffen, dass das die Unionswähler das nicht als Drohung verstehen und der Wahl fernbleiben. Oder gar Schulz wählen.
"Söder: Natürlich müssen wir Prioritäten setzen. Es kann nicht sein, dass wir in Bayern im Jahr mehr Geld für Asylbewerber ausgeben, als die Etats des Wirtschafts-, des Gesundheits- und des Umweltministeriums zusammen ausmachen. Die Bürger haben kein Verständnis dafür, dass wir für unbegleitete Minderjährige rund 4000 Euro im Monat ausgeben, sie selbst aber für ihr Erspartes keine Zinsen bekommen und ihnen der Staat nicht mehr Netto vom Brutto lässt. Dieses Geld haben sich die Menschen hart erarbeitet."
Söder spielt Flüchtlinge gegen Bildung aus. Sparern präsentiert er das Feindbild der unbegleiteden Minderjährigen. Flüchtlinge stellt er als Schmarotzer hin, die sich ihr Auskommen nicht hart erarbeiten.

Wahlkampf! Mir graut's vor dir.

Wie weit gehen?

Die Augsburger Allgemeine hat am 22.3. einen Leitartikel von Walter Roller veröffentlicht zu den infamen Wahlkampfsprüchen des türkischen Präsidenten Erdogan:


Walter Roller schreibt zu den ungeheuerlichen Provokationen:
"Dem Wahlkämpfer Erdogan, der mit einer Volksabstimmung die alleinige Macht erringen will, scheint jedes Mittel recht. Er führt einen Feldzug gegen ein verbündetes Land, in dem rund drei Millionen seiner Landsleute leben – und schreckt auch nicht mehr vor Attacken auf die Kanzlerin zurück. Erst bezichtigte er Angela Merkel der 'Unterstützung von Terroristen', nun wirft er ihr 'Nazi-Methoden' vor."
Als Reaktion habe Merkel ihre "Samthandschuhe" abgelegt und eine für Merkel'sche Verhältnisse "klare Ansage" gemacht. Es bliebe allerdings die Frage, "warum die Kanzlerin es noch einmal bei einem Appell an die Vernunft bewenden ließ und nicht unmissverständlich klargemacht hat, dass türkische Wahlkämpfer hier unerwünscht sind und sich ganz Europa diese Attacken nicht länger bieten lässt." Die klare Ansage Merkels legt er als Schwäche aus:
"Andererseits wirkt die auf Beschwichtigung ausgerichtete Strategie Merkels längst wie Schwäche gegenüber einem Autokraten, der Europa syrische Flüchtlinge vom Hals hält und deshalb auf Nachsicht zählen kann."

Angemessen reagieren

Wie ich bereits Anfang März geschrieben hatte, ist die Methode Roller die des Hammers. Jede Provokation sei hart zu ahnden, hart zu bestrafen. Er übersieht dabei, dass einer Tresortür mit einem Hammer nicht beizukommen ist. Doch das ficht ihn nicht an. Wer nicht hämmert, beschwichtige und übe zu große Nachsicht. Natürlich hat Walter Roller Recht:
"Erdogans Agitation hat die Grenzen des Erträglichen längst überschritten."
Das Problem bei Reaktionen, wie Walter Roller sie fordert, ist ja die Frage: Was dann? Was ist, wenn Beitritts- oder Visa-Verhandlungen abgebrochen, wenn EU-Zahlungen eingestellt würden und Erdogan weitermacht, weil er bis zum Referendum jedenfalls weitermachen wird? Das Pulver wäre verschossen, eine Wirkung nicht erzielt. Europa könnte sich selbst auf die Schulter klopfen, weil es hart reagiert hat - das war's auch schon. Ich finde, die Ansage, dass der Wahlkampf in Europa unerwünscht ist, reicht. Die gilt es ab und an zu wiederholen, damit klar bleibt, sie ist ernst gemeint. Ansonsten lohnt es sich nicht, auf jedes irrlichternde Aufglühen von Erdogan oder des ihn umgebenden Schwarms zu reagieren.

Und was soll das jetzt?

Walter Roller schreibt:
"CSU und CDU rütteln nun wieder an der doppelten Staatsbürgerschaft für türkischstämmige Deutsche. [...] Mehr denn je stellt sich die Frage, wem die Loyalität der Deutschtürken eigentlich gilt: Deutschland oder der Türkei Erdogans?"
Das ist der typische Reflex der Union. Nur auch hier die Frage: Was bringt's? Nichts! Als ob ein Mensch sich abhalten ließe, in Deutschland für Erdogan zu sein, nur weil der den türkischen Pass nicht mehr hat. Walter Roller schreibt:
"Der deutsche Pass ist nämlich mehr als ein Stück Papier, er ist mit Rechten und Pflichten verbunden und hat auch mit einem staatsbürgerlichen Bekenntnis zu tun."
Der deutsche Pass ist so gemeint, wird von einigen, vielleicht von vielen auch so verstanden. Es gibt jedoch keine Pflicht ihn so zu verstehen. Es gibt keine Gesinnungspolizei, die die Einhaltung überprüft. Er ist deshalb kein Mittel mit nachgewiesener Wirkung. Walter Roller weist selbst auf eine solche Ambivalenz hin:
"Seine Wurzeln und Traditionen kann er ja trotzdem pflegen; dazu bedarf es keines türkischen Passes."
Ja, richtig. Andersherum aber auch: Wer keinen türkischen Pass mehr hat, ist nicht verpflichtet, sich von türkischen Belangen abzuwenden. Deshalb hätte Walter Roller diesen Satz als Schlusssatz seines Leitartikels verwenden sollen:
"Das ist ein brisantes Thema, von dem man zur Stunde angesichts der aufgeheizten Atmosphäre wohl lieber die Finger lassen sollte."

Sonntag, 19. März 2017

Bitte an Erdogan

Die Augsburger Allgemeine hat am 17.3. einen Artikel zu Erdogan und Cavusoglu veröffentlicht, die "weiter gegen Europa wettern":
KGKkk

Am 18.3. findet sich ein Artikel über die Drohung der Türkei, das Flüchtlingsabkommen zu brechen:


Im gestrigen Bericht wird der türkische Außenminister zitiert, Europa dürfe nicht befehlen, sondern müsse bitten. Bitte sehr:

Sehr geehrter Herr Erdogan,
sehr geehrter Herr Cavusoglu,

ich richte ein paar Bitten an Sie, um die sich in letzter Zeit entwickelte Situation erträglicher zu machen:
  1. Bitte lesen Sie in Geschichtsbüchern über die Nazis, ihre Ideen, ihre Politik und ihre Verbrechen. So oft, wie Sie in letzter Zeit von Nazis und deren Methoden gesprochen haben, liegt der Verdacht nahe, Sie sitzen diversen Fehleinschätzungen auf. 
  2. Bitte gleichen Sie Ihr Verständnis von bestimmten Begriffen mit unserem Verständnis dieser Begriffe ab, damit wir Missverständnisse erkennen und ausräumen können. Einen Überblick über die Begriffe finden Sie in einer Kolumne von Florian Scheuba. Sollten Sie die Kolumne nicht verstehen, lassen Sie sich sie bitte erklären, bevor Sie sich aufregen.
  3. Bitte bedenken Sie, dass Meinungen, die von den Ihren abweichen, möglich sind. 
  4. Im politischen Miteinander ist es Usus, sich in jeder Situation so zu verhalten, dass die Beteiligten ihr Gesicht wahren können. Lautstärke verzerrt das Gesicht und beeindruckt nicht. Lautstärke mag beim Ziegenhüten hilfreich sein, Hundegebell auch. Im politischen Umgang ist beides unangenehm und fehl am Platze. Bitte, passen Sie Lautstärke, Tonfall und Wortwahl den internationalen Gepflogenheiten an.
  5. Wir verstehen bis zu einem gewissen Grad Ihre Erregung, da das von Ihnen gewünschte Ergebnis im Referendum nicht so sicher ist, wie Sie es gerne hätten. Bitte verzeihen Sie Europa, wenn wir Ihr Wahlwerben nur eingeschränkt unterstützen wollen.
  6. Ihr Innenminister verbittet sich Einmischungen in innere Angelegenheiten der Türkei, wenn sich Europa zum anstehenden Referendum oder zur Einführung der Todesstrafe in der Türkei äußert. Bitte betrachten Sie es als innere Angelegenheit Europas, wenn Europa Ihre aggressiven Auftritte zu einer inneren Angelegenheit der Türkei nicht unterstützen mag.
  7. Das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich festgestellt, dass es keinen Anspruch auf Wahlwerbung in Deutschland zu ausländischen Wahlthemen auf der Grundlage der grundgesetzlichen Rede- und Meinungsfreiheit gibt. Diese Gerichtsentscheidung ist unabhängig von der Regierung getroffen worden. Wir nennen das Gewaltenteilung. Auch wenn es für Sie ungewöhnlich erscheint: Bitte machen Sie nicht die Regierung für dieses Urteil verantwortlich.
  8. Bitte besorgen Sie sich einen Anwalt, der Sie im Strafverfahren wegen §103 StGB vertritt. Sie haben Vertreter und Organe ausländischer Staaten (europäische Staaten, aus Sicht der Türkei also ausländisch) beleidigt. Falls Sie glauben, die Norm betrifft nur aus deutscher Sicht ausländische Vertreter und Organe: Seien Sie bitte nicht so pingelig in der Auslegung von Gesetzen. In der Türkei handhaben Sie dies auch großzügig.
  9. Bitte glauben Sie nicht, die leisen Reaktionen der deutschen Regierung seien ein Zeichen der Schwäche. Stärkere Reaktionen sind nicht nötig, weil es genügt, wenn ein Lokalpolitiker oder Gastwirt Ihnen die Bühne für Ihre geplanten Auftritte zu entzieht.
  10. Bitte glauben Sie Europa: Unsere Hallen sind in so schlechtem Zustand, dass wir Ihnen Ihre Gefährdung durch mangelnden Brandschutz, schlechte Lüftung oder defekte Toiletten nicht zumuten können. Wären wir Nazis, würden wir Sie geradewegs in solche Hallen locken.
  11. Bitte fangen Sie nicht schon wieder an, wegen des angeblich geringen Verständnisses in Europa für Ihre Aktionen nach dem Putsch alle als Terroristen zu bezeichnen. Im November habe ich Ihnen über mein Verständnis für Sie und dessen Grenzen geschrieben. Das gilt auch heute noch.
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Deutzmann

Samstag, 18. März 2017

Verirrt im dunklen Internet

Bernhard Junginger hat in der Augsburger Allgemeinen vom 18.3. einen Artikel veröffentlicht zum Vorhaben des Justizministers Heiko Maas, Anbieter sozialer Medien zur Löschung von Einträgen zu verpflichten. In der Printausgabe kommentiert Bernhard Junginger:


Bereits der Titel ist irreführend, weil es bei dem Gesetzentwurf nicht um das sog. Dark Net geht, sondern um Einträge auf normal erreichbaren Websites. Im Kommentar schreibt er zwar:
"Dagegen stellen sich die milliardenschweren Betreiber bislang nur unzureichend ihrer Verantwortung für die dunklen Ecken ihrer Plattformen."
Dennoch taucht beim Leser bereits beim Titel ein Schmuddelbild auf, das ihn durch den Rest des Kommentars begleitet und ihn in einen Rahmen setzt, der ihm die nötige inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Kommentar erschwert.
Bernhard Junginger schreibt zum Einstieg:
"Der Gesetzentwurf von Justizminister Maas geht in die richtige Richtung, weil er die Konzerne deutlich stärker als bisher in die Pflicht nimmt, gegen strafbare Inhalte auf von ihnen betriebenen Plattformen vorzugehen."
Einverstanden, das Ziel des Gesetzes ist plausibel. Am Ende schreibt Bernhard Junginger, das Internet sei "kein rechtsfreier Raum". Ja, was in der analogen Welt strafbar ist, ist auch in der digitalen Welt strafbar. Bernhard Junginger verirrt sich jedoch, wenn er den Inhalt des Gesetztes gut findet, weil er das Ziel des Gesetzes gut findet. Das Gesetz verlangt von den Betreibern, die Strafbarkeit von Inhalten auf ihrer Plattform zu beurteilen und Inhalte zu löschen. Dies führt zu einer #Laienjudikatur, wie ich vor ein paar Tagen ausgeführt habe. Als Beweis für die dunklen Ecken auf Plattformen führt Bernhard Junginger an:
"In denen Schüler gemobbt und schlimmstenfalls in den Selbstmord getrieben werden."
Das Problem ist ja nicht, dass Mobbing strafbar ist. Das Problem ist die Grenze, bei der Mobbing beginnt. Ist es schon Mobbing, wenn ein unvorteilhaftes Partyfoto veröffentlicht wird? Ist es schon Mobbing, wenn eine Person explizit von einer Party ausgeladen wird? Warum soll es gut sein, wenn der Plattformbetreiber dies nun beurteilen muss und nicht ein ausgebildeter Richter? Wie belastbar ist eine Löschung durch eine Plattform? Kann die gemobbte Person hierauf schon einen Anspruch auf Schmerzensgeld oder Schadenersatz aufbauen, weil die Strafrelevanz des Eintrages bereits bewiesen ist? Im Kommentar erwähnt Bernhard Junginger beispielsweise nicht, dass ein Richter den Fall einschätzen muss, bevor ein Bußgeld gegen den Betreiber verhängt werden soll, ein Eintrag aber zu löschen ist, wenn ein Nutzer dies verlangt. Zweiklassenjustiz?
"Wo die Politik aus gutem Grund fürchten muss, dass finstere Mächte versuchen könnten, mit Falschmeldungen anstehende Wahlen zu beeinflussen."
Nach dem Gesetz könnte der französische Präsidentschaftskandidat Einträge löschen lassen, die die Beschäftigung von Verwandten thematisieren. Nach dem Gesetz könnte der AfD-Mann Höcke Einträge löschen lassen, die ihn als Rechtsextrem, als Rechtspopulisten oder als Nazi bezeichnen.
"Wo Terrororganisationen um Mitglieder buhlen oder zu Anschlägen aufrufen."
Letzteres wird sich klar erkennen lassen und eine umgehende Löschung ist plausibel. Aber bereits mit der Einordnung von Organisationen oder Personen als Terrororganisation oder Terrorist wird es schwieriger. Ist eine Mosche, in der Islamisten Mitglieder werben, bereits eine Terrororganisation und gehören also ihre Einträge in sozialen Medien gelöscht? Oder ist das noch von der Meinungs- und Redefreiheit gedeckt, wenn behauptet wird, Europa oder der Westen führe eine Kreuzzug?
Der Gesetzesentwurf ist schlecht, weil er die rechtliche Würdigung von möglicherweise strafbaren Handlungen nicht einem Profi, einem Richter überlässt, sondern Laien. Der Entwurf höhlt deshalb ein Grundprinzip des Rechtsstaates aus und nagt an der Meinungsfreiheit. Statt Licht in den Gesetzentwurf bringt Bernhard Junginger mit seinem Kommentar nur mehr Dunkelheit.

Mittwoch, 15. März 2017

Wie gut zielt Mass?

Die Augsburger Allgemeine berichtet am 15.3. über den Gesetzentwurf des Justizministers Heiko Maas zu strafbarer Hetze in sozialen Netzwerken:


Das Justizministerium selbst veröffentlicht hierzu ein Dokument, in dem es heißt:
"Die Meinungsfreiheit schützt in einer lebendigen Demokratie auch abstoßende und hässliche Äußerungen – sogar eine Lüge kann von der Meinungsfreiheit gedeckt sein. Aber: Die Meinungsfreiheit endet da, wo das Strafrecht beginnt."
Ja, eine Grenze der Meinungsfreiheit ist das Strafrecht. Strafbare Handlungen können nicht über Meinungsfreiheit entschuldigt werden. Was sich leicht formulieren lässt, ist in der Anwendung und Auslegung ungleich schwieriger. Einen ersten Hinweis gibt das Ministerium selbst, wenn es schreibt:
"Wir werden in einer freien Gesellschaft, in der die Meinungsfreiheit gilt, keine Wahrheitskommission einrichten. Aber: Da sich die von uns vorgeschlagenen Regeln gegen die Verbreitung von strafbaren Inhalten richten, sind sie auch ein Mittel gegen strafbare 'Fake News'. Strafbar sind 'Fake News', wenn sie etwa die Tatbestände der Beleidigung, Verleumdung oder der üblen Nachrede erfüllen."
Es werden Hasskommentare und Fake News in den gleichen Topf geworfen, obwohl sie unterschiedliche Qualität haben. Die vermeintliche Gemeinsamkeit sei die Strafrelevanz. Nur: Ein Hasskommentar, der beispielsweise zur Vergewaltigung oder zum Totschlagen auffordert, ist recht leicht als strafbar zu erkennen. Beleidigende Fake News können von Laien kaum so klar eingeordnet werden. Ist beispielsweise die Behauptung beleidigend, Donald Trump hätte große Hände, damit er besser Grapschen kann? Ist etwas beleidigend, weil sich die betreffende Person beleidigt fühlt oder braucht es für eine Beleidigung objektivere Kriterien? Damit wäre die Strafbarkeit abhängig von der Mimosenhaftigkeit Einzelner. Ich stelle mir schon vor, wie alle Beiträge über Erdogan gelöscht werden.
Die Plattformbetreiber sollen nach dem Gesetzentwurf Einträge löschen, wenn sie ihnen gemeldet werden. Es reicht also, wenn ein Nutzer einen Eintrag für strafbar hält. Es muss nicht von einem Profi entschieden werden. Es reicht Laienjudikatur. Das ist im deutschen Rechtsstaat neu. Damit es nicht die Nutzerlaien sind, denen gerichtliche Verantwortung übertragen wird, schreibt das Ministerium in der Pressemitteilung weiter:
"Die Betreiber sozialer Netzwerke werden verpflichtet [...] Nutzerbeschwerden unverzüglich zur Kenntnis zu nehmen und auf strafrechtliche Relevanz zu prüfen"
Es soll keine "Wahrheitskommission" geben, der Betreiber selbst soll prüfen. Der Betreiber entscheidet über strafrechtliche Relevanz einzelner Einträge. Der Betreiber übernimmt richterliche Aufgaben. Beachtlich. Das ist, also ob ein Polizist Haftbefehle ausstellen dürfte gegenüber Personen, die er für verdächtig hält. Der Betreiber wird zum Entscheider über Strafrelevanz, bei Fake News wird er sogar zur Wahrheitskommission. Wahrheit ist keine Beleidigung, nur Unwahrheit. Der Betreiber muss also über den Wahrheitsgehalt (mit)entscheiden, wenn er die Strafrelevanz beurteilen will. Wer's nicht glaubt, lese in der Pressemitteilung:
"Ein Diensteanbieter ist nach § 10 des Telemediengesetzes verpflichtet, einen rechtswidrigen Inhalt unverzüglich zu löschen, sobald er von diesem Kenntnis erlangt hat. Das bedeutet, dass ein Diensteanbieter zunächst selbst entscheiden muss, ob ein gemeldeter Inhalt rechtswidrig ist."
Wie es mit Qualifikation zur Einordnung von Handlungen als strafbar oder nicht strafbar steht, zeigt der Zentralrat der Juden in seiner Pressemitteilung:
"Judenfeindliche Ressentiments werden durch das Internet weltweit verbreitet. Eine strafrechtliche Sanktionierung von Volksverhetzung, Verherrlichung des Nationalsozialismus sowie Holocaustleugnung in den sozialen Medien ist daher dringend erforderlich, zumal eine freiwillige Selbstverpflichtung bislang nicht zu einer merklichen Reduzierung von Hasskommentaren geführt hat. Das Internet darf nicht zum rechtsfreien Raum werden."
Der Zentralrat hält eine "strafrechtliche Sanktionierung" von Sachverhalten für "dringend erforderlich", die wie die Volksverhetzung nach §130 StGB oder die Holocaustleugnung bereits strafbar sind. So sehr der Zentralrat Recht hat, wenn er als Mahner auftritt und sensibel gegenüber judenfeindlichen Ressentiments ist, so sehr ist er im Unrecht, wenn er so tut, der maas'sche Gesetzentwurf sei "dringend erforderlich".
Löschen Betreiber nicht oder nicht rechtzeitig, soll es Bußgelder geben. Erst hier kommt gemäß der Pressemitteilung eine richterliche Prüfung:
"Will das Bundesamt für Justiz als zuständige Behörde für die Bußgeldverfahren seinen Bußgeldbescheid allerdings darauf stützen, dass ein nicht entfernter oder nicht gelöschter Inhalt rechtswidrig gem. § 1 Abs. 3 NetzDG-E ist und ist diese Rechtswidrigkeit zugleich streitig, so muss über die Frage der Rechtswidrigkeit vorab ein Gericht entscheiden (§ 5 Abs. 5 NetzDG-E)."
Erst vor dem Bußgeld soll ein Richter sicherstellen, dass es zu Recht erhoben wird. Der Staat will sichergehen, das Bußgeld nicht zurückzahlen zu müssen. Eine richterliche Prüfung, ob ein Löschantrag zu Recht gestellt oder zu Recht exekutiert wurde, ist nicht vorgesehen. Wurde ein Eintrag fälschlich gelöscht (wer immer das feststellen sollte), wird kein Richter dies überprüfen. Ein Recht auf Wiederherstellung des gelöschten Eintrages ist in der Pressemitteilung nicht genannt.
Betreiber sind stehen immer vor der Entscheidung: "Löschen oder Bußgeld riskieren?" Naheliegend ist die Entscheidung für das Löschen, gegen das Bußgeld. Das Risiko der Nebenwirkung, dass eine zulässige Meinung zu Unrecht gelöscht wird, wird in Kauf genommen. Die Meinungsfreiheit droht im Bußgeldbescheid unterzugehen.
Ich finde es erschütternd, wie schnell Vertreter unseres demokratischen, freiheitlichen Rechtsstaates willens sind, demokratische, freiheitliche und rechtsstaatliche Grundfeste aufzugeben.

Freitag, 10. März 2017

Von Schwachen und Starken

Die Augsburger Allgemeine berichtet am 10.3. vom Fortgang der Nazivergleiche und der Diskussion um Auftrittsverbote zwischen Deutschland und der Türkei:


Der Bericht titelt von fehlender Einsicht der türkischen Regierung und berichtet von der Ankündigung des türkischen Außenministers Cavusoglu, weitere Wahlkampfauftritte absolvieren zu wollen vor dem Hintergrund scharfer Kritik an und "Absagen von Auftritten der Vertreter des türkischen Regierungslagers, die in Deutschland für die Annahme der Verfassungsänderungen mit umfassenden Machtbefugnissen für Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan beim Referendum am 16. April werben wollen".
Die Empörung in Deutschland kristallisiert an zwei Punkten. Zum Einen am Nazi-Vergleich selbst, über den der Außenminister Cavusoglu im Bericht zitiert wird:
"'Wir sagen nicht, dass die aktuelle Regierung Nazi ist. Aber ob man will oder nicht, ihre Praktiken erinnern uns an die Praktiken dieser Epoche damals.'"
Zum Anderen an der bisherigen Reaktion der deutschen Regierung, die beispielsweise so beschrieben werden:
"'Diese Vergleiche der Bundesrepublik Deutschland mit dem Nationalsozialismus müssen aufhören', sagt die Kanzlerin an die Adresse der türkischen Regierung. Sie betont die Grundsätzlichkeit des Streites: Er betreffe Presse-, Rede- und Versammlungsfreiheit in der Türkei. 'All das legt die ganze Bundesregierung in all ihren Gesprächen wieder und wieder auf den Tisch.'."
Die Empörung führt auch in der Bevölkerung zu einer klaren Positionierung:
"Laut ARD-Deutschlandtrend lehnen die Bürger die Auftritte türkischer Politiker nahezu geschlossen ab. 91 Prozent gaben in der Umfrage an, dass sie derartige Veranstaltungen nicht gut finden."
Nur darum geht es nicht. Eine Demokratie lebt auch davon, Dinge zu akzeptieren, die man nicht gut findet. "Gut finden" ist kein Argument, es mag als Zusammenfassung durchgehen. Um Entscheidungen zu treffen, braucht es Argumente:
  • Es ist keine deutsch-türkische Angelegenheit, wie der Bericht mit Hinweisen auf die Schweiz und die Niederlande zeigt. Eine allein deutsche Reaktion geht am Problem vorbei. Bereits vor drei Tagen habe ich darauf hingewiesen, dass Europa insgesamt eine Antwort finden muss.
  • Bei Donald Trump und seinem Muslim Ban gab es große Aufregung, weil er sich gegen sieben vorwiegend muslimische Länder richtete. Wie will man nun einen "Wahlkampf Bann" nur für türkische Politiker argumentieren? Schlimmer sogar: Derzeit werden ja nur Verbote für Auftritte der Regierungspartei AKP diskutiert, nicht Verbote für Oppositionsparteien.
  • Vor dem Hintergrund der demokratischen Grundwerte scheint es zumindest fragwürdig, Wähler - nämlich die in Deutschland lebenden Türken - von der Meinungsbildung über die anstehende Wahl auszuschließen.
  • Eine Entscheidung für ein Verbot erfordert unbedingt, die Wirkungen abzuschätzen. Insbesondere ist zu überlegen, ob ein Verbot erstens die Propaganda der AKP in Deutschland verhindern kann und zweitens, ob es zu einer Befriedung der Türken in Deutschland beitragen kann. Letzteres wird immer wieder als Argument für ein Verbot gebracht, weil sich pro-AKP und contra-AKP eingestellte Türken zunehmend unversöhnlicher gegenüberstehen würden. Ich glaube nicht, dass ein Verbot die Propaganda in Deutschland verhindern wird. TV, Internet etc. sind reichweitenstarke Alternativen. Und wenn weiterhin die Idee des Erdogan verbreitet werden kann, wird es auch keine Befriedung innerhalb der gespaltenen Türken in Deutschland geben.
  • Die türkische Regierung fühlt sich im Recht, wie die Zitate und die Wiederholungen der Nazi-Vergleiche zeigen. Der Bericht trägt den Titel "Von Einsicht keine Spur". Wer sich im Recht fühlt, wird kaum Einsicht zeigen, wenn die angeblichen Feinde des türkischen Volkes widersprechen.
  • Die türkische Regierung fühlt sich stark, Erdogan glaubt, vor Kraft bereits über Wasser gehen zu können. Trotz eines Verbotes wird er seine Stärke zeigen wollen, ein Verbot also mit allen möglichen Tricks und Winkelzügen umgehen.
Ein Verbot mag die deutsche Volksseele beruhigen, wird aber nicht inhaltlich wirken. Was mich nachdenklich stimmt ist die fantasielose Reaktion bei deutschen Politikern. Die Nazi-Vergleiche müssen aufhören, sage die Kanzlerin. Im Kindergarten würde man sagen: "Du darfst nicht das Förmchen wegnehmen". Andreas Scheuer fordert den Abbruch der Beitrittsverhandlungen, im Kindergarten heißt das "In die Ecke mit Dir!".
Ein paar Denkanstöße für eine fantasievollere Reaktion:
  • Erdogan wähnt sich stark. Dabei fürchtet er, sein Referendum im April zu verlieren, weil die Zustimmung in der Türkei nicht so groß ist, wie er sich es erhofft. Er baut auf die stärkere Zustimmung der Türken in Deutschland, die aber von der Rechtsänderung nichts haben. Warum gibt es keine Aktivitäten, die Erdogan vor diesem Hintergrund als schwach entlarven? Als jemand, dem es um das eigene Ego-Ziel geht und der dabei Millionen von Wählern instrumentalisiert?
  • Nach dem Bericht ist der türkische Wahlkampf in Deutschland nach "Artikel 94/A des von der Regierungspartei AKP unter Erdogan 2008 eingeführten Wahlgesetzes" unzulässig. Auch wenn nicht beschrieben sei, wer das überwachen soll und wie Strafen aussehen können, wäre eine Klage vor einem türkischen Gericht ein deutliches Zeichen.
  • Wenn Deutschland ein Naziland sei, wie die türkische Regierung behauptet, könnte das Auswärtige Amt eine Reisewarnung aussprechen: die Türkei ist unsicher, Deutsche müssten mit Anfeindungen rechnen. Das würde dem Tourismus in der Türkei schaden und die Türkei dort treffen, wo sie derzeit ohnehin geschwächt ist.
  • Es ist doch erstaunlich, wie stark die in Deutschland lebenden Türken noch mit der Türkei verbunden sind. Wie konnte es über Jahre und Jahrzehnte nicht gelingen, sie so an Deutschland zu binden, dass sie sich nicht so leicht vor den Karren Erdogans spannen lassen?
Erdogan wird nicht aufhören, ihm fehlt die dafür notwendige Einsichtsfähigkeit. Er wird weitergehen, bis das Referendum abgeschlossen ist. Solange nach Verboten zu rufen oder sich halbherzig die Nazi-Vergleiche zu verbitten, hilft nur Erdogan. Der Mann hat Angst, sein Referendum zu verlieren und pfeift deshalb mit viel heißer Luft Nazi-Vergleiche.

Donnerstag, 9. März 2017

Sparer und Banken in der Zinsfalle?

Die Augsburger Allgemeine berichtet am 9.3. über ein Interview mit dem Präsidenten des Genossenschaftsverbandes Bayern (GVB), Jürgen Gros. Michael Kerler kommentiert dazu in der Printausgabe:


Michael Kerler schreibt von "einem rasanten Umbruch", in dem die Bankenlandschaft sich befinde. Die Branche galt jahrzehntelang "als grundsolide, wenn nicht gar langweilig", weil sie "Geld von den Sparern leihen und an Kreditnehmer ausgeben" als das Hauptgeschäft betriebt. Der Umbruch hat für Michael Kerler zwei Ursachen:
"Ein Teil ist dem digitalen Wandel geschuldet. Kunden kommen immer seltener in die Filialen und betreiben stattdessen Online-Banking. Doch wie ein Beschleuniger wirkt die Politik der Europäischen Zentralbank unter Mario Draghi. Diese hat den Leitzins auf null gesenkt."
Die Situation fasst Michael Kerler so zusammen:
"Sparer wie Banken sitzen in der Zinsfalle."
Dabei kommen die Banken noch gut weg:
"Noch stemmen sich Sparkassen und die meisten Genossenschaftsbanken gegen die Weitergabe von Strafzinsen an Privatkunden."
Michael Kerler stellt sich zu sehr auf die Seite der Banken und macht Banken und Kunden gleichermaßen zu Opfern der EZB. Die EZB und insbesondere Marion Draghi sind für ihn allein schuldig. Ist es wirklich so einfach?

Zahlen über die VR-Banken

Sind die VR-Banken wirklich so arm dran, wie es aus dem Kommentar klingt? Ein wenig Licht in die Frage bringen Blicke in die Berichte der Geschäftsjahre 2014, 2015 und 2016:
  • Anzahl der Banken sank von 287 (Ende 2013) auf 260 (Ende 2016), also um 9%
  • Anzahl der Geschäftsstellen sank von 2.994 (Ende 2013) auf 2.569 (Ende 2016), also um 14%
  • Anzahl der Mitarbeiter: Sie sank von 35.359 (Ende 2013) auf 32.953 (Ende 2016) also um 7%
Diese Zahlen zeigen einen Rückgang. Die Rückgänge sind bereits im Jahresvergleich 2013 und 2014 zu sehen. Im Jahr 2014 waren die Leitzinsen noch nicht auf Null, sie fielen erst im Jahresverlauf so tief. Zur weiteren Beurteilung der Situation der VR-Banken ein paar weitere Zahlen aus den oben genannten Berichten:
  • Bilanzsumme stieg von 141 Mrd. € (Ende 2014) auf 153,3 Mrd. € (Ende 2016), also um 9%
  • Kundengelder, also die von den Sparern den VR-Banken überlassenen Gelder, stiegen von 109,9 Mrd. € (Ende 2014) auf 120 Mrd. € (Ende 2016), also um 9%
  • Ausleihungen stiegen von 83,1 Mrd. € (Ende 2014) auf 91,2 Mrd. €, also um 10%
  • Ergebnis vor Steuern ist im Vergleich der Jahre 2014 und 2016 mit 1,5 Mrd. € unverändert
  • Zinsüberschuss fiel von 3,2 Mrd. € (Ende 2014) auf 3,1 Mrd. €, also um 3%
  • Provisionsüberschuss blieb bei etwa 0,9 Mrd. € praktisch konstant
  • Betriebskosten blieben bei etwa 2,6 Mrd. € praktisch konstant
Diese Zahlen lassen sich so interpretieren:
  • Die VR-Banken haben in den letzten Jahren 7% der Mitarbeiter abgebaut und die Anzahl der Geschäftsstellen um 14% reduziert. Dennoch sind die Betriebskosten etwa gleich geblieben.
  • Der Rückgang des Zinsüberschusses, also aus dem "Hauptgeschäft der Regionalbanken", beträgt lediglich 3%.
  • Der leichte Ertragsrückgang aus dem "Hauptgeschäft" macht sich im Ergebnis vor Steuern nicht bemerkbar, da dieses konstant bleibt.
Aus den Zahlen der VR-Banken lässt sich für diese Bankengruppe nicht ausmachen, dass sie in einer "Zinsfalle" säße, wie Michael Kerler schreibt.

Schuldfrage mal anders

Zinsen und Inflation

Michael Kerler sieht auch die Sparer in der "Zinsfalle", schreibt von realen Verlusten "für das Ersparte und in der Altersvorsorge". Das ist im Vergleich der Sparzinsen einerseits und der Inflationsrate andererseits richtig. Allerdings darf nicht übersehen werden, wie die Inflationsrate sich entwickelt hat:
"Im Jahresdurchschnitt 2015 stiegen die Verbraucherpreise lediglich um 0,3 Prozent, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) berichtete. Die jährliche Inflationsrate ist somit seit 2011 rückläufig."
Erst in den letzten Wochen und Monaten ist sie gestiegen. Stellt man die Verbraucherpreisentwicklung den Leitzinsen gegenüber, zeigt sich, dass bereits in den Jahren 2011 bis 2013 die Leitzinsen niedriger waren als die Inflation. Draghi wurde im November 2011 zum EZB-Präsidenten bestellt.

Gebühren

Im oben verlinkten Bericht der AZ heißt es:
"Auch aufgrund der EZB-Politik führt nach Ansicht des Verbandspräsidenten (des GVB Jürgen Gros, Anm.) kein Weg an 'angemessenen Preisen' für Bankdienstleistungen vorbei: 'Dienstleistungen anzubieten kostet Geld. Das gilt in allen Wirtschaftsbereichen, auch für Banken. Das aktuelle Marktumfeld zwingt die Institute dazu, genau zu rechnen und unternehmerisch zu handeln, um die Belastungen aus dem Niedrigzinsumfeld zu verarbeiten.'"
Soso, Draghi soll also Schuld daran sein, dass Banken in der Vergangenheit Dienstleistungen gratis angeboten haben, die in der Durchführung Geld kosten? Natürlich verursacht selbst ein simples Girokonto Kosten für die Bank. Dennoch haben viele Banken Girokonten gratis angeboten, weil damit auf Kundenfang gingen. Immer war damit verbunden die Hoffnung, ein Kunde mit Girokonto würde auch andere Produkte nutzen und die Bank so am Kunden verdienen können. Wie erfolgreich die VR-Banken bei der Kundengewinnung waren, zeigen die o.g. Berichte, nach denen die Mitgliederanzahl von 2,57 Mio. (Ende 2013) auf 2,67 Mio. (Ende 2016) stieg. Es waren Managemententscheidungen der Banken, quersubventionierte Produkte anzubieten. Es hat einen äußerst üblen Beigeschmack, wenn nun versucht wird, die Konsequenzen solcher Managemententscheidungen der EZB-Politik anzulasten.

Self Service und Digitalisierung

Im oben verlinkten Bericht heißt es:
"'Die Kunden signalisieren uns, dass die Banken bestimmte Serviceleistungen nicht mehr in den Filialen vorhalten müssen – sie tätigen ihre Überweisungen lieber von unterwegs mit dem iPhone oder richten Daueraufträge am Wochenende am Computer ein', sagt Gros."
Ja, Banken haben über Jahre hinweg die Kunden entsprechend dressiert und ihnen eingeredet, wie viel bequemer es doch wäre, die Arbeit von Bankmitarbeitern selbst zu erledigen, außerhalb der Geschäftszeit der Bank. Die Dressur hat funktioniert, es werden weniger Geschäftsstellen und Bankmitarbeiter benötigt. Wobei ich zugebe, es ist bequemer, eine Überweisung online zu machen und nicht mit einem Beleg in eine Geschäftsstelle laufen zu müssen. Zugegeben, die sog. Digital Natives werden noch viel mehr online erledigen wollen, wobei das nichts mit der Dressur durch Banken zu tun hat, sondern zum Lifestyle gehört. Das wird eine große Herausforderung für die Banken. Es wird spannend sein zu sehen, ob sie in diesem Fall bessere Managemententscheidungen treffen werden als bei den Gratisprodukten.

Produktstrategie

Im oben verlinkten Bericht heißt es:
"Vor allem für die Sparer ist die Situation bitter, sagt Gros, der seit August 2016 an der Spitze des Verbandes steht. Sie bekommen kaum Zinsen für ihre Geldanlage und müssen zudem die Inflation schlucken, die im Februar auf über zwei Prozent in die Höhe geschnellt ist."
Ja, allerdings scheint das fast schizophren. Banken bieten derzeit (auch wegen der EZB) kaum Zinsen auf Sparguthaben, weswegen Gros sein Bedauern ausdrückt. Dies gilt allerdings nur für Anlageformen mit flexiblem Zins oder Anlagen, die neu geschlossen werden. Wie rücksichtsvoll Banken mit Sparern umgehen zeigen die Kündigungen von gut verzinsten Bausparverträgen. Bedauern findet sich hierbei nicht.
Über Jahrzehnte haben die Banken Produkte angeboten, die mit langen Zinsbindungen daherkommen, Sparbriefe mit über viele Jahre fixierte Zinsen waren üblich. Den Kunden wurde gezeigt, dass ohne Risiko ordentliche Erträge erzielt werden können. Bei der Entwicklung dieser Produkte wurde die Möglichkeit der aktuellen Zinssituation nicht gesehen oder das Risiko unterschätzt. Eindeutig ein Fehler in der Produktentwicklung.
Hinzu kommt, dass Banken bei der Anlageberatung nicht ihre eigenen Interessen vergessen. Sie bieten die Beratung gratis an, verkaufen dafür Produkte, bei denen sie an Provisionen oder laufenden Vergütungen partizipieren (wieder ein fragwürdig konzipiertes Produkt). Wohl aus einer Gemengelage von Riskioaversion der Kunden und einer Beratung der Banken auf risikolose Produkte ist die Sicherheitsorientierung der Sparer entstanden. Was wäre, wenn die Banken ebenso nachhaltig über renditestärkere Anlageformen aufgeklärt hätten, wie sie für Self Service geworben haben? Würden dann nicht mehr Sparer entspannt auf ihre Anlage schauen und sich über Kursgewinne und stattliche Dividenden freuen?

Conclusio

Die von Michael Kerler behauptete Zinsfalle, in der Banken und Sparer sitzen sollen, ist nicht eine Falle. Den Banken macht die aktuelle Zinssituation zu schaffen, sie schaffen es aber dennoch, ordentliche Erträge und Gewinne zu erwirtschaften. Die Falle ist nicht zugeschnappt.
Für Kunden ist die Lage prekärer, weil sie tatsächlich eingeklemmt sind zwischen mageren Zinserträgen, Inflation und drohenden Bankgebühren. Dass Kunden in dieser Falle sitzen, kann nicht Draghi angelastet werden. Es waren Entscheidungen der Bankmanager, aus Gewinnstreben Produkte zu entwickeln und zu vertreiben, die nicht kostentragend konzipiert wurden oder nicht flexibel genug auf ein sich änderndes Umfeld reagieren können. Produkte, die Banken und die Kunden in Schwierigkeiten bringen. Das Bedauern der Banken über die Sparer klingt für mich wie Hohn, die alleinige Schuldzuschreibung an Draghi wie ein großer Winkelzug, um Michael Kerlers Vokabel zu bemühen.

Dienstag, 7. März 2017

Hör mal, wer da hämmert

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 7.3. einen Leitartikel veröffentlicht zu den aus seiner Sicht notwendigen Konsequenzen nach den Nazi-Vergleichen Erdogans:


Walter Roller bezeichnet das Auftreten Erdogans als "wahrer Regierungschef der in Deutschland lebenden Türken". Erdogan spricht die in Deutschland lebenden Türken an, das ist richtig. Allerdings geht es Erdogan nicht darum, die Situation dieser Menschen zu verbessern. Ihm geht es um Wählerstimmen, die er für seinen Staatsumbau in der Türkei braucht. Türken in Deutschland sind Werkzeug, Stimmvieh. Ein "wahrer Regierungschef" würde nicht so agieren.
Walter Roller schreibt:
"Die Bundesregierung hat Erdogans Tiraden hingenommen, weil sie an guten Beziehungen mit Ankara interessiert ist, mit Erdogan im Gespräch bleiben und das Grundrecht auf Meinungs- und Redefreiheit auch dem herrischen Sultan vom Bosporus gewähren wollte."
Vor dem Hintergrund der "zunehmend schärfer gewordenen Attacken Erdogans und [...] seiner Minister" sei "das Maß des Erträglichen weit überschritten." Ohne Zweifel. Walter Roller fordert deshalb "eine glasklare, entschiedene Reaktion":
"[...] und zwar entschiedener, als die mit Samthandschuhen operierende Kanzlerin und ihr Außenminister Gabriel bisher reagiert haben. Wenn alle Appelle, den Ton zu mäßigen und Deutschland nicht zum Schauplatz innertürkischer Richtungskämpfe zu machen, nichts bewirken, dann muss Erdogan eben Konsequenzen zu spüren bekommen. Andernfalls verdichtet sich der Verdacht, dass Berlin sich aus lauter Angst vor einer Aufkündigung des Flüchtlingsdeals durch Erdogan wegduckt, zur Gewissheit."
Hier ist bereits ein Hämmern zu hören. Es richtet sich aber nicht gegen Erdogan, es richtet sich gegen Kanzlerin und Außenminister. Walter Roller hält nichts von "Samthandschuhen", er will grobe lederne Arbeitshandschuhe. Die ganze Motivation der Bundesregierung gegenüber Erdogan verortet Walter Roller in der Angst, der Flüchtlingsdeal könnte aufgekündigt werden. Einen Beweis liefert er nicht, er hämmert unbeirrt seine Behauptung. Die absurden Vergleiche Erdogans gehören nicht nur durch die Bundesregierung beantwortet, die EU insgesamt ist gefordert. Die lässt Walter Roller jedoch außen vor.
Dabei ist es eine wichtige Frage: Wie soll auf Personen reagiert werden, die wie Erdogan den Bogen völlig überspannen? Zur Reaktion über das kommunale Ordnungsrecht meint Walter Roller:
"Auf den ersten Blick wirkt das Argument der Regierung, man wolle aus rechtsstaatlichen Gründen niemanden am Reden hindern und bei Bedarf nur das kommunale Ordnungsrecht anwenden, einleuchtend. Auf den zweiten Blick stellt sich sehr wohl die Frage, warum Deutschland rabiaten ausländischen Wahlkämpfern Tür und Tor öffnen sollte – mitsamt dem wachsenden Risiko schwerer innertürkischer Auseinandersetzungen hierzulande."
Einleuchtend nur auf den ersten Blick, auf den zweiten Blick solle die Versammlungs- und Redefreiheit eingeschränkt werden. Dabei hat das Verfassungsgericht beim NPD-Verbotsantrag klargestellt, eine Demokratie nach unserem Verständnis müsse sogar den eigenen erwiesenen Feinden verfassungsmäßig verbriefte Rechte zubilligen. Welches Gewicht hat dieses Argument, wenn es um andere Staaten geht? Für einen klaren Blick sollte Walter Roller lieber nochmals hinschauen.
Auch das Argument, Erdogan fordere "für sich und seine AKP jene Redefreiheit, die er selbst zu Hause nicht gewährt", zieht nicht. Gerade als demokratischer Staat muss Deutschland anders mit der Redefreiheit umgehen wie Erdogan. Das ist kein Zeichen von Schwäche oder Samthandschuhen, das ist notwendig, um die eigenen Werte zu leben. Walter Roller schreibt:
"Es gibt keinerlei Verpflichtung des deutschen Staates, den Werbefeldzug des Islamisten Erdogan für eine antidemokratische Politik zu dulden."
So pauschal spricht ein Hammer. Wie hält es Walter Roller mit der Redefreiheit, wenn er Themen definiert, über die gesprochen und über die nicht gesprochen werden darf? Wer entscheidet über diese Themen? Wer entscheidet, wer sprechen und dabei zuhören darf? Darf Marine Le Pen in Deutschland über ihre Vorstellung von Frankreich sprechen?
Zum Schluss bringt Walter Roller seine oft wiederholten Vorschläge:
"Und was spricht eigentlich dagegen, die längst zur Farce geratenen EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei formell auszusetzen und die milliardenschwere Zahlung von 'Vorbeitrittshilfen' zu beenden? Es wäre ein sichtbares Zeichen dafür, dass eine Türkei unter der Knute Erdogans in der EU nichts verloren hat [...]"
Immerhin spricht er von aussetzen, nicht (mehr) von abbrechen.
"[...] und es wäre eine Botschaft, die der auf Europas wirtschaftliche Hilfe angewiesene Erdogan womöglich besser versteht als alle Appelle, doch bitte schön zur Besinnung zu kommen."
Hier hofft Walter Roller. Die Frage ist, ob Erdogan diese Botschaft verstehen würde. Nein, wird er nicht. Er glaubt ohnehin, Deutschland sei gegen ihn. Ein rollerscher Hammerschlag wäre für Erdogan ein Beweis. Ein rollerscher Hammerschlag würde Erdogan zu einem Jetzt erst Recht anstacheln. Erdogan ist ein Machtmensch, der Widerstände mit brachialer Gewalt (siehe Verhaftungen, siehe Krieg gegen Kurden, siehe Todesstrafe, siehe Genozid an Armeniern etc.) brechen will. Er wird eine Hammerreaktion zum eigenen Vorteil umdeuten. Er wird andere Wege finden, seine Botschaft an die in Deutschland lebenden Türken zu bringen: Satelliten-Fernsehen, Internet, Kaffeehäuser, Moscheen (über DITIB beispielsweise).
Selbstverständlich hat Deutschland das Recht und die Pflicht, irrsinnige Aussagen zurückzuweisen. Deutschland hat auch das Recht, Grenzen für Wahlkämpfe ausländischer Akteure zu setzen. Bevor mit groblederbewehrten Händen zum Hammer gegriffen wird, sollte jedoch überlegt werden, ob das Werkstück tatsächlich ein Nagel ist. Oder ob es nicht zielführender wäre, mit feinen Handschuhen eine ebensolche Klinge zu führen.