Sonntag, 25. September 2016

Mit Machtkalkül zum Sieg der AfD

Am 24.9. hat die Augsburger Allgemeine einen Leitartikel von Walter Roller veröffentlicht zum Streit in der Union:


Walter Roller schreibt:
"Noch ist nicht klar, wie sich der mit scharfen CSU-Attacken angeheizte Großkonflikt ohne Sieger und Verlierer beilegen lässt. Aber es sieht nun immerhin so aus, als ob das schiere Machtkalkül eine Wiederannäherung bewirken könnte."
Der Streit innerhalb der Union ist ein Großkonflikt, weil er - angeheizt durch die CSU - kaum noch Raum lässt für die Wahrnehmung anderer Politikfelder als die Flüchtlingspolitik. Die CSU hat nicht die Flüchtlingspolitik zum dominanten Thema gemacht, aber sie ist auf diesen Zug aufgesprungen. Mit der AfD als Lokführer ist der Zug nun schneller und unlenkbarer unterwegs, als es der Union lieb ist. Seehofer gibt den Heizer.
Walter Roller schreibt:
"Weder der im Niedergang befindlichen CDU noch der um die Macht in Bayern bangenden CSU kann ja an einer Fortführung der selbstzerstörerischen Fehde oder gar an einem Ende der Union gelegen sein."
Eine Fortführung der Fehde macht keinen Sinn, richtig. Allerdings: die Union als ein in die Unendlichkeit existentes Gebilde zu sehen, ist zu eng. Denn warum sollen die beiden Parteien sich nicht auseinanderleben, wenn sich ihre politischen Inhalte und Ansichten zunehmend unterscheiden? Das wäre zumindest konsequent. Andererseits wird das "schiere Machtkalkül" dafür sorgen, dass eine Scheidung nicht unmittelbar bevor steht.
Walter Roller schreibt über die Ursachen:
"Der Schwächeanfall der CDU ist - wie die Krise der SPD - nicht nur der von einer Mehrheit des Volkes abgelehnten Flüchtlingspolitik geschuldet. Der Erosionsprozess dieser Volksparteien hat sich seit Jahren angekündigt und hat - wie in ganz Europa - auch mit dem Frust über die politische Klasse und der Verunsicherung infolge der rasanten Globalisierung zu tun."
Richtig, die nachlassende Wählerzustimmung ist ein Prozess, der seit Jahren in Gang ist. Allerdings stehen die von Walter Roller genannten Gründe Flüchtlingspolitik, Frust über die politische Klasse und Globalisierungsängste nicht nebeneinander. Die Globalisierung sorgt für mehr Wettbewerb, mehr Akteure, neue Märkte. Mit Smartphone und Internet für alle werden neue Geschäftsmodelle möglich. Mit der Digitalisierung der Fertigung werden Abläufe automatisierbar, für die früher Hände gebraucht wurden. Fähigkeiten, die bisher gefragt waren, werden weniger nachgefragt. Lebensentwürfe wanken, Zukunftsängste entstehen. Manch einer träumt von einem Früher, in dem alles besser war.
Mit der Europäischen Union und dem Zusammenwachsen der einzelnen Länder in Europa hat sich ein Gebilde entwickelt, das zum Symbol werden konnte. Symbol für die Globalisierung, weil die Verzahnung zwischen Ländern enger wird. Symbol für die Abgehobenheit politischer Eliten, weil sie dem Zusammenwachsen das Wort redeten und weil sie sich an manchen Stellen ungeschickt verhalten haben. Jeder schimpft auf Europa, weil es sich um die Gurkenkrümmung kümmert, nicht um den kleinen Mann. Erstens haben diese beiden Dinge nichts miteinander zu tun und zweitens wollten wirtschaftliche Akteure in der EU eine Vorschrift zur Gurkenkrümmung. Die AfD war in ihren Anfängen eine europakritische Partei, sie gab der Europaskepsis Stimme und Gesicht.
Mit der Flüchtlingspolitik entstand nun ein weiteres Feld, das weltpolitische Vorgänge nach Deutschland spülte. Die AfD erkannte rasch, welches Potential hier schlummert.
Walter Roller behauptet:
"Merkel ist die Kontrolle über die Masseneinwanderung entglitten."
Nein. Die Politik hat trotz der sich klar abzeichnenden Entwicklungen im Nahen Osten und in Afrika nicht rechtzeitig Vorsorge getroffen. Weder wurde ein wirksames Mittel entwickelt, um Schleppern das Handwerk zu legen. Noch wurde Europa darauf vorbereitet, europäische Werte trotz aufwühlender Konflikte in der Nachbarschaft hoch zu halten. Und was heißt "Masseneinwanderung"? Es kamen keine Einwanderer. Es kamen Asylantragsteller. Manche stellten den Antrag erfolgreich, andere nicht. Es waren Antragsteller dabei, denen die Aussichtslosigkeit des Antrages hätte klar sein können. Dennoch passt die Vokabel "Masseneinwanderung" nicht.
Walter Roller behauptet:
"Die von einem hohen moralischen Podest herab exerzierte, die Spaltung der Gesellschaft in Kauf nehmende Politik der offenen Grenzen mit all ihren Risiken hat den Menschen mehr zugemutet, als sie an Veränderung und Unsicherheit ertragen können."
Was heißt "von einem hohen moralischen Podest herab"? Warum spaltet er? Die da oben, auf dem Podest, moralisch überhöht. Die da unten, die es nicht mehr ertragen können.
Walter Roller fragt:
"Ob es genügt, um das Vertrauen verunsicherter, von sehr realen Ängsten geplagten Wählern zurückzugewinnen? Nein. Dazu bedarf es schon eines glasklaren Signals dafür, dass Merkel verstanden hat und tatsächlich bereit ist, ihren Kurs in Einklang zu bringen mit der begrenzten Aufnahme- und Integrationskraft des Landes."
Was heißt "reale Ängste"? Islamisierung des Abendlandes? Schweinefleischverbot? Was heißt "begrenzte Aufnahme- und Integrationskraft"? Natürlich, wer sich so wie Walter Roller gegen die Flüchtlingspolitik stemmt, hat keine Kraft mehr für die Aufnahme und Integration. Er schafft es nur noch zu Allgemeinplätzen:
"Auch das Asylrecht verpflichtet nicht dazu, die Tür für alle offen zu halten."
Ja, selbstverständlich. Eine Unterscheidung in Asyl und reguläre Zuwanderung wäre allerdings hilfreich und würde eine ernsthafte Diskussion ermöglichen. Wer nur von Obergrenze, begrenzter Aufnahmekapazität, vom Untergang der Kultur fabuliert, ist bereits auf die AfD hereingefallen. Denn die sieht auch nur im Dichtmachen die Lösung. Das braucht kein Europa, das ist Nationalstaat par excellence. Die harte Kante liest sich so:
"Wo die 'Obergrenze' liegt, muss ausgehandelt werden. Entscheidend ist, dass angesichts bevorstehender neuer Migrationswellen der Wille zur Begrenzung erkennbar und Vorsorge getroffen wird."
Doch Vorsicht bei der Verhandlung der Lage der Obergrenze. Wenn sie bei von der CSU geforderten 200 000 liegt, wird es nur 400 Jahre dauern, bis in Deutschland doppelt so viele Menschen leben wie heute! Realangst Überforderung! Realangst Untergang des Abendlandes!
Angesichts bevorstehender neuer Migrationswellen empfehle ich beispielsweise die Lektüre des Aufsatzes von Georg Soros auf Project Syndicate:
"First, the EU must take in a substantial number of refugees directly from front-line countries in a secure and orderly manner. This would be far more acceptable to the public than the current disorder. [...]
Second, the EU must regain control of its borders. There is little that alienates and scares publics more than scenes of chaos.
Third, the EU needs to find sufficient funds to finance a comprehensive migration policy. [...]
Fourth, the EU must build common mechanisms for protecting borders, determining asylum claims, and relocating refugees. A single European asylum process would remove the incentives for asylum shopping and rebuild trust among member states.
Fifth, a voluntary matching mechanism for relocating refugees is needed. [...]
Sixth, the EU must offer far greater support to countries that host refugees, and it must be more generous in its approach to Africa. [...]
The final pillar is the eventual creation of a welcoming environment for economic migrants. [...]"
Das liest sich als stimmiges Gesamtkonzept, das sich an den europäischen Werten orientiert, nur gemeinsam umgesetzt werden kann und wirksam erscheint, ohne bloß auf die Symptome zu schielen.
Walter Roller wagt eine Prognose:
"Wenn Merkel diesen Schritt tut und Seehofer sein 200 000er-Dogma zum Richtwert ummünzt, dann sollte sich die Union auf einen Kurs verständigen können."
Mag sein, dass dies zu einem gemeinsamen Kurs führt, geboren aus Machtkalkül. Aber es wäre nicht ohne Sieger und Verlierer. Verloren hätten europäische Werte, gewonnen hätte die AfD. Und Walter Roller merkt es nicht.

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