Sonntag, 4. September 2016

Walter Rollers offene Frage

Die Augsburger Allgemeine hat in der Printausgabe am 3.9. einen Leitarartikel von Walter Roller zu Merkels Flüchtlingspolitik veröffentlicht:


Walter Roller schreibt zutreffend:
"Der Absturz Merkels in der Gunst des Publikums zeigt von dem Vertrauensverlust, den die Kanzlerin erlitten hat. Allzu lange hat Merkel den Eindruck erweckt, als ob sie die Sorgen vor Überfremdung und wachsender Kriminalität nicht wirklich ernst nehme."
Zutreffend zumindest, wenn man "ernst nehmen" als "die Sorgen aufgreifen und hart/restriktiv handeln" versteht. Daran schließt er eine Wertung an:
"Die Probleme und kulturellen Konflikte [...] wurden verniedlicht und kleingeredet."
Woher weiß er das? Woher weiß er, dass sie nicht unterschätzt, sondern absichtlich kleingeredet wurden? In einem Online-Artikel vom 4.9. schreibt die Augsburger Allgemeine:
"In einer Emnid-Umfrage verneinten 76 Prozent der Teilnehmer, dass ihr Leben durch die Neuankömmlinge im vergangenen Jahr verändert worden sei."
Das klingt für mich nicht nach kleingeredet. Walter Roller stellt wiederum richtig fest:
"Die Herausforderung besteht ja nicht nur darin, den bereits Eingetroffenen eine Heimstatt zu verschaffen und sie zugleich auf die Akzeptanz unserer Grundwerte und Regeln zu verpflichten."
Um daran erneut fragwürdig anzuschließen:
"Es geht vor allem auch darum, den Prozess der Zuwanderung künftig so zu steuern, dass die aufnehmende Gesellschaft nicht überfordert wird und bestimmen kann, wer kommen kann und wer nicht."
Würde er doch bloß klar trennen zwischen Zuwanderung und Asyl bzw. Schutz. Bei der Zuwanderung aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen steht es dem Aufnahmeland natürlich zu zu bestimmen, wer kommen kann und wer nicht. Diese Entscheidungsfreiheit hat das Aufnahmeland nicht, wenn es um den Schutz flüchtender geht. Wer seine Verfolgung nachweisen kann, hat beschützt zu werden. Das ist europäische, christlich-abendländische Kultur. Zum Asyl- bzw. Schutzgedanken schreibt Walter Roller:
"Der humanitäre, über jeden moralischen Zweifel erhabene Impuls zu helfen ist das eine;"
Würde er doch bloß nicht immer so tun, als ob die Hilfe für Verfolgte nur moralisch überhöhte Gutmenschen etwas anginge. Er beschädigt damit die christlich-abendländische Kultur. Er schreibt weiter:
"verantwortliche, das Gemeinwohl bedenkende, notfalls auch mit einiger Härte exekutierte Politik ist das andere."
Jörg Meuthen, der Vorsitzende der AfD stieß am 6. Januar 2016 ins gleiche Horn:
"Selbstverständlich hängen die Gewalttaten mit der ungesteuerten Einwanderung aus anderen Kulturkreisen nach Deutschland zusammen. All diejenigen, die bisher verleugnet haben, dass dies unsere Gesellschaft gefährde, werden spätestens jetzt eines besseren belehrt."
Würde Walter Roller doch bloß nicht immer so tun, als ob nur die Asylgegner, die Abschiebefreunde, die Härte-Befürworter das Gemeinwohl im Sinne hätten. Würde er doch bloß nicht immer so tun, als ob das Abschieben von ein paar Kriminellen Ruhe in die sorgenvolle Volksseele brächte. Der Zuzug einiger Tausend Flüchtlinge rechtfertigt auch nicht das Ausrufen des Notstandes, wie es Österreich versucht. Österreichs Caritas-Präsident dazu:
"Aber Österreich ist gut aufgestellt. Ich sehe keinen Notstand, auch dort nicht, wo es um Menschen auf der Flucht geht. Die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze ist keine statische Größe. Die Aufnahmefähigkeit des heimischen Arbeitsmarktes ist abhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes. Die Politik ist an dieser Stelle gefordert, mit Ideen und weniger Bürokratie neue Chancen zu schaffen."
Walter Roller wirft vor:
"Merkels mit einem totalen staatlichen Kontrollverlust einhergehende Politik war keineswegs 'alternativlos' [...]"
Natürlich nicht, es gab andere Möglichkeiten. Würde Walter Roller die Doppelseite in der AZ zur Historie rund um Merkels "Wir schaffen das" vom gleichen Tag gelesen haben, würde mich interessieren, welche gesichtswahrenden Alternativen er sieht.
Der Kontrollverlust entstand, weil die Politik die Entscheidung zur Aufnahme der Flüchtlinge nicht durch entsprechend rasche und zielorientierte Maßnahmen unterstützt hat. Infrastruktur und Personal war nicht vorbereitet auf die Anzahl von Flüchtlingen. Der Kontrollverlust entstand nicht, weil Merkel einen "historischen Fehlgriff" tat.
Walter Roller schreibt weiter:
"Viel schwerer noch als der Aufstieg der rechtspopulistischen AfD und der Ansehensverlust der Volksparteien wiegen die Spaltung der Gesellschaft und der tief sitzende Verdruss vieler, keineswegs nur 'rechter' Bürger darüber, dass diesem Land über Nacht eine grundlegende Veränderung aufgezwungen wurde."
Die "Spaltung der Gesellschaft" wiegt schwer, ja. Aber nicht, weil dem "Land über Nacht eine grundlegende Veränderung aufgezwungen wurde", sondern weil sich der Stil des politischen Diskurses wegbewegt hat von einem demokratischen Streit hin zu rechthaberischem Geschrei. Weil sich eine Art Konsumdemokratie etabliert hat, in der sich manche von vereinfachenden Weltsichten a la AfD einlullen lassen und zu simplen "Lösungen" nicken und sich nur noch ein Teil der Bürger mit der Komplexität politischer Lösungen (ohne Anführungszeichen!) auseinandersetzen mag. Die Folge dieser Entwicklung ist der Aufstieg einer AfD. Der Ansehensverlust der Volksparteien ist weniger eine Folge, mehr eine Ursache: Sie waren nicht in der Lage, ihre Lösungen nahe zu bringen. Leitartikel wie der von Walter Roller ist ein Beispiel für die Vehikel, die die Spaltung der Gesellschaft befeuern.

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