Dienstag, 18. April 2017

Sultan und Europa

Winfried Züfle kommentiert in einem Leitartikel am 18.4. in der Augsburger Allgemeinen den Ausgang des türkischen Referendums zur Verfassungsänderung:


Winfried Züfle schreibt bereits im Titel, ein Sultan passe nicht zu Europa und behauptet:
"Die Türken stimmten nicht nur über eine neue Verfassung ab, die ihr Land grundlegend verändert - hin zu einer Ein-Personen-Herrschaft. Sie hatten auch zu entscheiden, ob sie den Weg nach Europa abbrechen wollen."

Abstimmung über Europa?

War es eine Abstimmung über den Weg nach Europa? Formal war es eine Abstimmung über Änderungen in der türkischen Verfassung, die im Leitartikel angerissen werden und die die Türkische Gemeinde in Deutschland so zusammenfasst:

"1. Der Präsident wird nicht mehr nur Staats- sondern auch Regierungschef. [...]
2. Das Prinzip der Überparteilichkeit des Präsidentenamtes wird abgeschafft. [...]
3. Der Präsident entscheidet alleine über Ernennung und Absetzung seiner Stellvertreter. Er ist außerdem für alle Minister zuständig, [...]
4. Der Präsident erhält weitreichende Gesetzgebungskompetenzen. Per Dekret kann der Präsident neue Gesetze erlassen [...]
5. Das Prinzip des Misstrauensvotums wird abgeschafft. Anfragen des Parlaments können nur noch schriftlich [...] eingereicht werden [...]
6. Der Präsident kann das Parlament nach Belieben auflösen.
7. Der Justizminister wird direkt vom Präsidenten ernannt, wobei der Justizminister als Vorsitzender auch die Funktion des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte innehat.
8. Der Präsident wählt weitere sechs der insgesamt dreizehn Mitglieder des Hohen Rates. [...]"

Aus unserer europäischen Sicht ist das demokratisch bedenklich, wobei einzelne Punkte sich auch in westlichen Verfassungen finden. Dass der Präsident das Parlament auflösen kann, kennen wir beispielsweise aus Österreich. Dekrete liefert Donald Trump in den USA zu Hauf, die Justiz gebietet ihm Einhalt. In der Türkei könnte dies zukünftig das Parlament zumindest theoretisch durch ein eigenes "Gegengesetz". Daraus lässt sich noch nicht ableiten, es wäre eine Entscheidung für oder gegen Europa gewesen.
Wenn es wirklich eine Abstimmung über "den Weg nach Europa" gewesen wäre, müsste das irgendeine Rolle gespielt haben im Wahlkampf. Der Wahlkampf war ausgerichtet an der Größe der Türkei, Europa war eine Randnotiz. Erdogan pries sich als Garant dieser Größe, der Europa als den schwarzen Peter darstellte. Es ging darum, Erdogan in die Lage zu versetzen, die Türkei "great again" zu machen. Eine Abstimmung über Europa vermag ich nicht zu sehen, sie lässt sich jedoch leicht hineininterpretieren.
In Deutschland haben über 60% der abgegebenen Stimmen für die Verfassungsänderung gestimmt. Es wirkt wenig plausibel, darin ein Zeichen gegen Europa zu sehen, weil die Änderungen kaum Auswirkungen auf die in Deutschland lebenden Türken haben werden. Für wesentlich plausibler halte ich auch hier das Motiv der "großen Türkei von Erdogans Gnaden".

Wie demokratisch ist das Ergebnis?

Die OSZE hat einen Bericht zum Referendum veröffentlicht, der demokratisch bedenkliche Aspekte zeigt. Im Newsroom der OSZE findet sich die generelle Einschätzung:
"'On referendum day there were no major problems, except in some regions, however we can only regret the absence of civil society observers in polling stations,' said Cezar Florin Preda, Head of the delegation from the Parliamentary Assembly of the Council of Europe. 'In general, the referendum did not live up to Council of Europe standards. The legal framework was inadequate for the holding of a genuinely democratic process.'"
Daraus ergibt sich die grundsätzliche Frage, wie demokratisch eine getroffene Entscheidung sein kann, wenn sie sich demokratischer Methoden bedient, diese jedoch unsauber anwendet. In Österreich reichten bereits kleine Verfehlungen, um eine Präsidentenwahl für ungültig zu erklären.
Zum Referendum fällt auf, dass die Zustimmung vor allem auf dem Land groß war, in Städten nicht. Winfried Züfle schreibt dazu:
"Das Abstimmungsergebnis bestätigt: Die Lebenswelten in Istanbul, Ankara oder Izmir und im anatolischen Hinterland klaffen weit auseinander, allen wirtschaftlichen Fortschritten zum Trotz. Auch politisch."
Zum Ergebnis bezieht sich Winfried Züfle auf die Abstimmung in Groß Britannien:
"Das Ergebnis erinnert an die Brexit-Entscheidung der Briten. Auch dort betrug die Mehrheit nur 51 Prozent und einige Zehntel."
Betrachtenswerter als das vergleichbar knappe Ergebnis ist die Verteilung der Zustimmung. Auf dem Land war sie hoch, in Städten gering. Oder die USA: die Verteilung der Zustimmung zu Trump lässt sich ebenfalls in einer Stadt-Land-Kategorie einordnen, im Detail überlagert von Industrieentwicklungen. Oder Österreich: Norbert Hofer, der FPÖ-Kandidat zum Präsidentenamt hatte auf dem Land höhere Zustimmung als in den Städten. Sich mit der Feststellung zu begnügen, die Türkei sei "ein zerrissenes Land", reicht nicht. Denn warum gelingt es Wahlkämpfern, auf dem Land mit Themen zu punkten, die in den Städten nicht ziehen? Und was bedeutet dies für die Demokratie? Winfried Züfle schreibt:
"Aber: Selbst wenn die Mehrheit nur eine Stimme ausmacht – sie zählt. Das ist Demokratie. Selbst wenn es ironischerweise darum geht, die Demokratie zu beschädigen."
Nein, das ist nicht die Demokratie. Der Wesensgehalt der Demokratie ist der Ausgleich, die Berücksichtigung aller Interessen. Wenn es eine starke Land-Stadt-Differenz gibt in politischen Entscheidungen, ist es demokratisch bedenklich, wenn das Land die Stadtinteressen (oder umgekehrt) übergehen kann mit dem Argument, mehr Stimmen bekommen zu haben. Für eine Verfassungsänderung in Deutschland braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und -rat. Die Behauptung, eine Stimme reiche zur Mehrheit ist die Diktion der Populisten und ihres Narrativs, sie sprächen für oder seien das Volk. In diese Falle tappt Winfried Züfle.
Nähert man sich der Abstimmung vom knappen Ergebnis her und behält die Vokabel "Populismus" im Hinterkopf, ergibt sich ein anderes Bild. Wie oben ausgeführt war es eine Abstimmung über "Make Turkey great again". Erdogan verstieg sich zu unsäglichen Sprüchen wie Kreuzfahrer, Nazis etc. Hier die arme Türkei, der Größe zustehe, dort die bösen Europäer. Ergodan stilisierte sich als Erlöser, als der starke Mann, der alles lösen kann. Dabei behauptete er, eine Lösung könne es nur geben mit der geänderten Verfassung. Insofern hat Winfried Züfle recht, wenn er sagt, die Demokratie könne sich selbst beschädigen. Allerdings ist Populismus keine Ironie an, sondern Pervertierung der Demokratie. Wie pervertiert Demokratie werden kann, zeigt Winfied Züfle selbst:
"Doch Erdogan scheint es nicht zu genügen, dass er künftig regieren kann wie einst der Sultan im Istanbuler Topkapi-Palast. Kaum war er sich des knappen Sieges im Referendum sicher, setzte er an, die nächste Bastion des Rechtsstaates zu schleifen. Er will die Todesstrafe einführen - notfalls mit einem neuen Referendum."

Die Konsequenzen

Ohne Zweifel ist die Demokratie in der Türkei bereits stark gefährdet: Inhaftierungen von Parlamentariern und von Journalisten sind an der Tagesordnung. Verschwörungstheorien bestimmen politisches Handeln. Winfried Züfle schreibt:
"In der EU jedenfalls hat dieser Herrscher nichts verloren. Die Beitrittsgespräche müssen beendet werden. Das ist die einzig adäquate Antwort."
Ist das wirklich die "einzig adäquate Antwort"? Weiter gefragt: Ist das eine Antwort an den Einzelfall Erdogan oder ist das eine prinzipielle Antwort? Wäre sie prinzipiengeleitet, müsste Europa Viktor Orbán den Stuhl vor die Türe stellen. Oder Polen den Ausschluss androhen. Die EU sollte außenpolitisch keine anderen Maßstäbe anlegen als sie es im Inneren tut, um kein Problem mit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit zu erzeugen.
Das ZDF hat einige Reaktionen zusammengetragen. Wo Winfried Züfle sein Pulver möglicher Reaktionen früh verschießen will, meint Elmar Brok:
"Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok warnte die Türkei dagegen lediglich vor der Wiedereinführung der Todesstrafe. 'Dann ist der EU-Beitritt der Türkei gescheitert', sagte Brok der 'Welt'. [...]
Der Ausgang des Referendums allein ist für Brok noch kein Grund, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei offiziell abzubrechen. [...] Er verwies darauf, dass die Beitrittsgespräche seit einem halben Jahr wegen des von Erdogan ausgerufenen Notstands eingefroren seien, 'und jetzt werden sie nicht weitergehen, weil die Bedingungen nicht mehr erfüllt sind'."
Selbst die Einführung der Todesstrafe sollte nicht automatisch zum Abbruch führen. Vor fast genau einem Jahr hat die FAZ berichtet, Hessen wolle die Todesstrafe abschaffen. Nach Artikel 21 (1) war sie noch erlaubt, durch eine Bundesgesetzgebung jedoch nicht anwendbar. Deutschland ist trotz Hessen in die EU gekommen.
Winfried Züfle mahnt direkt im Anschluss an seine Forderung:
"Natürlich darf Europa die Türkei nicht aufgeben."
Elmar Brok meint im ZDF:
"'Mit einem totalen Bruch würden wir uns an der anderen Hälfte der türkischen Bevölkerung versündigen, die mit Nein gestimmt hat', fügte der CDU-Politiker hinzu."
Ja, denn die fast 50% der Wähler, die gegen das Referendum gestimmt haben, sollten eine Hand aus Europa gereicht bekommen. Durch die Türe hindurch, die Winfried Züfle schließen will, wird das nicht möglich sein. Der Sultan passt nicht zu Europa. Sippenhaft auch nicht.

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