Freitag, 28. April 2017

BKA, das Bundeskriminalisierungsamt

Die Augsburger Allgemeine berichtet in ihrer Ausgabe vom 28.4. unter dem Titel "Wenn Polizisten zu Opfern werden" über das Sicherheitspaket, das gestern im Bundestag verabschiedet wurde:


Als erstes ins Auge springt der in die Irre führende Titel. Das Sicherheitspaket umfasst mehr, als der Titel vermuten lässt. Im Plenarprotokoll 18/231 findet sich das Thema unter TOP 7. Das andere hier interessierende Thema ist unter TOP 6 behandelt worden.
Der Bericht stellt richtig dar, was im Bundestag verabschiedet wurde. Mit seinem Titel und dem Bild setzt der Artikel jedoch einen Anker, der beim Leser eine positive Einstellung zu den Gesetzesänderungen auszulösen vermag. Diese Einstellung bleibt erhalten auch bei den Themen, die nichts mehr mit der Überschrift und dem Bild zu tun haben. Die behandelten Gesetze hätten einen kritischeren Bericht verdient, in dem auch Kritiker der Gesetze erwähnt werden. Besser noch wäre ein kritischer Kommentar gewesen, der hilft, das Thema besser einzuordnen. Deshalb ein paar Anmerkungen von mir.

Stärkung des Schutzes von Vollstreckungsbeamten und Rettungskräften

Christian Lange, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz, eröffnete seine Rede mit einer Begründung für das Gesetz:
"Die Dringlichkeit dieses Gesetzgebungsvorhabens unterstreicht die Polizeiliche Kriminalstatistik für das Jahr 2016. Im vergangenen Jahr wurden über 71000 Polizeivollzugsbeamtinnen und -vollzugsbeamte Opfer von Gewaltdelikten: 2016 sind damit 6345 Polizeivollzugsbeamtinnen und -vollzugsbeamte mehr Opfer solcher vollendeter Gewaltdelikte geworden. Das ist ein Anstieg um 11,2 Prozent."
Der AZ-Bericht bringt ein Beispiel, in dem eine Menge "vereint und geschlossen" die unformierten Beamten attackiert hätte. Die Kriminalstatistik bestätigt die Aussagen von Christian Lange. Allerdings sind nach der Statistik für 2016 insgesamt über 1 Mio. Vollstreckungsbeamte, Rettungsdienst- und Feuerwehrkräfte Opfer von Straftaten geworden. Auf Seite 37 der Statistik sind die Straftaten aufgeschlüsselt. Darunter finden sich Mord, Totschlag, Körperverletzung, Bedrohung, räuberische Erpressung und Widerstand gegen Vollzugsbeamte. Jede dieser Straftaten ist bereits strafbewehrt. Was kann also eine Strafverschärfung nützen? Sie "ergänzt die Strafvorschrift der unterlassenen Hilfeleistung in §323c StGB" und soll die schützen, "die Hilfe leisten oder Hilfe leisten wollen".
Ganz richtig ist dies nicht, weil sich auch im TOP 6 dazu etwas findet:
"Gleich  beschließen wir das BKA-Gesetz. Im Anschluss beschließen wir die Änderungen der §§113 und 114 des Strafgesetzbuches. Damit werden wir die Strafen bei Angriffen auf Polizeibeamte und Rettungskräfte bei jeder Diensthandlung erhöhen – ein wichtiger Schritt und ein Zeichen für alle, die Tag und Nacht ihren Kopf für unsere Sicherheit hinhalten."
In der Plenarsitzung waren sich alle einig, dass die Beamten und Helfer geschützt werden müssen. Allerdings wurden Fragen aufgeworfen, wie hier vollzogen werden soll. Das wird schwierig, wenn sich ein Mob zusammenfindet, der zahlenmäßig stark überlegen Polizisten oder Sanitäter angreift. Es wird auch schwierig, Gaffer bei Autobahnunfällen zur Rechenschaft zu ziehen.
Man wird sehen, ob das Gesetz seine intendierte Wirkung entfalten wird und es zukünftig zu weniger Übergriffen auf Helfer kommt. Ich zweifele daran. Erstens geschehen solche Taten oft unter Alkoholeinfluss, aus einer Gruppendynamik heraus, aus Sensationslust etc. Im Jahr 2015 wurde auf der Grundlage einer Studie des LKA eine Verschärfung des Strafrechts gefordert, weil Jugendliche vermehrt Polizeibeamte angegriffen haben. Ich habe schon damals nicht an die Wirkung schärferer Strafen geglaubt. Zweitens würde eine Abschreckungswirkung darauf fußen, dass die Täter tatsächlich überführt werden. Die Kriminalstatistik 2016 weist beispielsweise für die Tatgruppe "Widerstand" eine Aufklärungsquote von über 97% aus. Die hohe Aufklärungsquote hat dennoch nicht verhindert, dass die Zahl der Widerstandsstraftaten von 2015 auf 2016 um 11% gestiegen ist.
Wegen meiner Zweifel scheint mit das Gesetz eher ein symbolischer Akt, weniger eine echte Hilfe für die Opfer zu sein. "Heute ist ein guter Tag für die Sicherheit in Deutschland" wird Thomas de Maizière im Bericht zitiert. Man wird sehen.

BKA mit neuen Möglichkeiten

Das wesentlich kritischere Thema der Plenarsitzung war die unter TOP 6 behandelte Neustrukturierung des Bundeskriminalamtgesetzes. In seiner Rede in der Plenarsitzung behauptet Thomas de Maizière:
"Aber es geht um weit mehr als um die Neustrukturierung eines Gesetzes. Es geht um nichts weniger als die Zukunft deutscher Polizeiarbeit. [...] die Anforderungen aus der europäischen Datenschutzrichtlinie für die Zusammenarbeit im Polizei- und Justizbereich umzusetzen. Ich habe mich früh dazu bekannt, diese anspruchsvolle Aufgabe nicht sozusagen minimalinvasiv vorzunehmen, sondern als richtige Chance zu nutzen. Der Gesetzentwurf setzt natürlich alle Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils um, aber steckt die Aufgaben weiter."
Die Änderung mache "den Weg frei für eine moderne polizeiliche IT-Infrastruktur, eine Infrastruktur, die das Fundament für gute, rechtsstaatliche Polizeiarbeit auf einem neuen Niveau darstellt". Und weiter:
"Jede Polizistin, jeder Polizist soll sämtliche Informationen phänomenübergreifend zusammenführen und nutzen können, die sie oder er braucht und wenn sie oder er dazu berechtigt ist. Eine Unterteilung des Informationsaufkommens in verschiedene Datentöpfe wird überflüssig."
Das klingt plausibel. Es ist tatsächlich kaum einzusehen, warum innerhalb Deutschlands polizeiliche Informationen in verschiedenen Strukturen auf verschiedenen Systemen verarbeitet werden. In einem Redebeitrag von Martina Renner gibt es erste Kritik:
"Der Gesetzentwurf folgt dem bekannten Muster: Ihr Erzfeind ist eigentlich der Datenschutz. Das sieht man insbesondere an den Regelungen zum Datenpooling: Einmal erhobene Daten können fast ohne besondere Voraussetzungen weiter genutzt, auf Vorrat gehalten und im Ergebnis noch Jahrzehnte später verwertet werden. Nach Verhältnismäßigkeit und Zweckbindung fragt hier niemand mehr."
Die entsprechende Regelung ist in §18 (3) des Gesetzes beschrieben:
"Das Bundeskriminalamt kann personenbezogene Daten weiterverarbeiten, um festzustellen, ob die betreffenden Personen  die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllen. Die Daten dürfen ausschließlich zu diesem Zweck weiterverarbeitet werden und sind im Informationssystem gesondert zu speichern. Die Daten sind nach Abschluss der Prüfung, spätestens jedoch nach zwölf Monaten zu löschen, soweit nicht festgestellt wurde, dass die betreffende Person die Voraussetzungen nach Absatz 1 erfüllt."
Für bestimmte Personen können also Daten länger als 12 Monate gespeichert werden. Das sind zum Einen Verurteilte, Beschuldigte und Verdächtige. Es sind aber auch sog. "Anlasspersonen", also "Personen, bei denen Anlass zur Weiterverarbeitung der Daten besteht, weil tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die betroffenen Personen in naher Zukunft Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen werden."
Mit dem Gesetz werden Datenbestände zusammengeführt. Die Daten können so lange gespeichert werden, wie Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass jemand in Zukunft Straftaten begehen könnte. Das öffnet der Beliebigkeit Tür und Tor. In der Stellungnahme von Prof. Dr. Matthias Bäcker zum Gesetzentwurf heißt es deshalb:
"Die geplanten Ermächtigungen zur Weiterarbeitung erhobener Daten in § 16 Abs. 1, § 18 und § 19 BKAG-E weisen grundlegende konzeptionelle Defizite auf. Der Gehalt dieser Normen ist in wesentlichen Punkten unklar. Je nach Interpretation geben sie die Bevorratung erhobener Daten und deren weitere Nutzung in verfassungswidrig großem Ausmaß frei, sie könnten jedoch - gerade umgekehrt - auch zu einer verfassungsrechtlich nicht erforderlichen und kaum praktikablen Einschränkung der Informationsverwaltung bei dem Bundeskriminalamt führen."
Eine Einschätzung, das ernstliche Zweifel an der Qualität des Gesetzentwurfs aufkommen lässt. Auch in der Plenarsitzung findet dies seinen Niederschlag. Werden die Daten in einem System vereinigt, werden sie verknüpfbar. Damit werde der "zentrale Grundsatz der Zweckbindung von Informationen und Daten [...] in pauschaler Weise aufgehoben". Das Gesetz wird so zum feuchten Traum jedes Ermittlers, das BKA mutiert als Zentralstelle für das neue System zu einem Bundeskriminalisierungsamt. Dazu die Einschätzung der Bundesbeauftragten für den Datenschutz und Informationsfreiheit:
"Weiterhin kritisch gesehen werden muss aber der geplante Informationsverbund der Polizeibehörden. Hier gespeicherte Daten können künftig umfassender verknüpft werden, weil sie nicht mehr an einen bestimmten Zweck gebunden sind. Gleichzeitig fehlen Regeln für Datenabgleiche und zur Nutzung von Big Data-Methoden durch die Sicherheitsbehörden. Und auch in Zukunft werden gespeicherte Daten nach einem Freispruch nicht automatisch gelöscht."
Der schlechte Qualitätseindruck verstärkt sich nach einem Blick in die Stellungnahme des Bundesrates zum Gesetzentwurf. Die Kritik zielt nicht auf den Inhalt, sondern auf die Begründung, warum die Systemänderung notwendig sei:
"Die Ausführungen dazu beginnen im Urteil erst ab Rn. 284 beziehungsweise Rn. 287. Die Ausführungen des BVerfG in Rn. 281 können damit nicht - wie beabsichtigt - zur Fundierung des neuen Systems herangezogen werden"
Oben hatte ich Thomas de Maizière zitiert, der die Anforderungen des Urteils des Verfassungsgerichts vom 20. April 2016 vollständig umgesetzt sieht. Der Bundesrat vertritt hingegen die Ansicht, das Urteil sei gar nicht anwendbar als Begründung für die Gesetzesänderung.
Der Gesetzesentwurf steht zu Recht unter heftiger Kritik und ich teile die Einschätzung von Martina Renner:
"Das alles bringt kein Mehr an Sicherheit, nur ein Mehr an Überwachung. Das alles führt zur Preisgabe des Datenschutzes und des Schutzes der Privatsphäre."
Nachdem die Union seit langem und nun auch die SPD im Wahlkampf auf Sicherheit fokussieren und sich nun einig sind beim Beschluss solcher Gesetze:

Wahlkampf! Mir graut's vor dir.

Donnerstag, 27. April 2017

Ausgeladener Außenminister

Winfried Züfle hat in der Augsburger Allgemeinen vom 27.4. einen Leitartikel veröffentlicht, nachdem der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu ein Treffen mit dem deutschen Außenminister Sigmar Gabriel kurzfristig absagte:


Winfried Züfle beschreibt die Situation Israels als "Demokratie, die einzige im Nahen Osten", die sich in einer Ausnahmesituation befinde, weil Israel "sich gegenüber äußeren Feinden behaupten muss". Aus dieser Situation heraus "erwächst ein Freund-Feind-Denken", das von "der immer stärker werdenden politischen Rechten in den vergangenen Jahren massiv befeuert wurde". Die aktuelle Regierung Israels setzt sich konservativen, nationalreligiösen und ultraorthodoxen Parteien zusammen. Diese Regierung setzt einen auf Kurs der militärischen Stärke, zu dem auch die Besiedelung besetzter Gebiete gehört. Militärische Stärke mag angesichts der äußeren Feinde verständlich sein. Die seit vielen Jahren stattfindende Besiedelung besetzter Gebiete hingegen nicht. Denn dazu sagt die UN-Resolution 242 von 1967:
"Der Sicherheitsrat, mit dem Ausdruck seiner anhaltenden Besorgnis über die ernste Situation im Nahen Osten, unter Betonung der Unzulässigkeit des Gebietserwerbs durch Krieg und der Notwendigkeit, auf einen gerechten und dauerhaften Frieden hinzuarbeiten, in dem jeder Staat der Region in Sicherheit leben kann, [...] erklärt, dass die Verwirklichung der Grundsätze der Charta die Schaffung eines gerechten und dauerhaften Friedens im Nahen Osten verlangt, der die Anwendung der beiden folgenden Grundsätze einschließen sollte: i) Rückzug  der  israelischen  Streitkräfte  aus  (den) Gebieten, die während des jüngsten Konflikts besetzt wurden"
Weiter beschreibt die UN-Resolution 2334 von 2016:
"The Security Council, [...] Condemning all measures aimed at altering the demographic composition, character and status of the Palestinian Territory occupied since 1967, including East Jerusalem, including, inter  alia, the construction and expansion of settlements, transfer of Israeli settlers, confiscation of land, demolition of homes and displacement of Palestinian civilians, in violation of international humanitarian law and relevant resolutions"
Das ist eindeutig. Jede Maßnahme, die die demografische Struktur in den seit 1967 besetzten Palästinensergebieten ändert, wird verurteilt. Das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs behandelt in seinem Artikel 8 Kriegsverbrechen:
  • Art. 8 2. a) bezeichnet "schwere Verletzungen der Genfer Abkommen vom 12. August 1949" als Kriegsverbrechen und führt in iv) beispielhaft aus: "Aneignung von Gut in grossem Ausmass, die durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigt" ist
  • Art. 8 2. b) bezeichnet "andere schwere Verstösse gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche" auch als Kriegsverbrechen und nennt in xvi) "die Plünderung einer Stadt oder Ansiedlung, selbst wenn sie im Sturm genommen wurde"
Die israelische Politik ist also insofern rechtswidrig, als sie gegen Resolutionen des US-Sicherheitsrates verstößt und auch nicht mit notwendigen Maßnahmen im Rahmen eines bewaffneten Konflikts exkulpiert werden kann.
In der gleichen Ausgabe der Augsburger Allgemeinen findet sich ein Interview mit Arye Sharuz Shalicar zum gleichen Thema:


Manche der im Interview getroffenen Aussagen kann ich nicht unkommentiert lassen und mit diesen Kommentaren komme ich Winfried Züfle in seiner Argumentation zur Hilfe.
Arye Sharuz Shalicar sagt:
"Jeder Politiker, der aus Deutschland nach Israel kommt, fordert mit den immer gleichen stereotypen Sätzen die Zwei-Staaten-Lösung. Die wollen wir Israelis auch, aber viele Deutsche verstehen nicht, dass man diese Lösung nicht erzwingen kann. Dazu muss man Vertrauen aufbauen, sich wieder näher kommen – und dazu braucht man verlässliche Partner auf der anderen, der palästinensischen Seite."
Das ist richtig, mit Zwang und ohne Vertrauen zwischen den beteiligten Parteien wird sich keine Lösung finden lassen. Er beschreibt es selbst als etwas, in dem "sich linke wie rechte Parteien in Israel einig" seien:
"Sie wollen hier in Frieden leben - mit den Palästinensern, mit den Syrern, mit dem Libanon und auch mit dem Iran."
Eine Möglichkeit dazu böte die Zwei-Staaten-Lösung. Die Unmöglichkeit einer Alternative in einem gemeinsamen israelisch-palästinensischen Staat argumentiert Winfried Züfle sehr plausibel. Für die Zwei-Staaten-Lösung gebe es keinen "verlässliche[n] Partner auf der anderen, der palästinensischen Seite". Mag sein. Rechtswidrige Handlungen in besetzten Gebieten sind jedoch kaum als vertrauensbildende Maßnahmen einzustufen.
Arye Sharuz Shalicar sagt weiter:
"Die beiden Organisationen jedoch, die Sigmar Gabriel am Dienstag besucht hat, bauen kein Vertrauen auf, sondern säen nur neues Misstrauen."
Das kann man aus der Sicht der israelischen Regierung verstehen, da sich die beiden Organisationen als regierungskritisch verstehen. Selbst angenommen, die Organisationen würden übertreiben, böte dann nicht der Kontakt zu Gabriel und das anschließende Gespräch mit Netanjahu die Möglichkeit, dies aufzudecken?
"'Breaking the silence' und 'Betselem' sind politische Gruppierungen, die ihr Geld aus dem Ausland bekommen und dort ein Israel-Bild zeichnen, das nicht der Realität entspricht, nämlich das eines Unrechtsstaates, der die Palästinenser im Westjordanland terrorisiert."
Das Argument, eine Organisation sei aus dem Ausland bezahlt und deshalb verdächtig, vielleicht sogar Agent fremder Mächte, kenne ich eher von Russland oder der Türkei. Beides sind Staaten, die es mit Rechtsstaat und Demokratie nicht arg ernst nehmen.
"Die israelische Regierung hat kein Problem damit, wenn ausländische Gäste Regierungskritiker wie Oppositionschef Jitzhak Herzog oder die frühere Außenministerin Tzipi Livni treffen."
Auch das kenne ich von rechtsstaatlich und demokratisch ausbaufähigen Staaten, die Staatsgästen vorschreiben wollen, was der Regierung genehme Oppositionelle sind und welche nicht.
"Die Oppositionellen, mit denen Herr Gabriel sich verabredet hat, haben sich allerdings nur als Menschenrechtsorganisationen verkleidet, sie haben keine Bedeutung und sollten deshalb auch für andere Staaten keine Bedeutung haben."
Warum dann die Absage des Termins mit dem Außenminister? Wenn die Organisationen so bedeutungslos wären, wäre die Absage ein zu großes Geschütz gegen einen viel zu kleinen Spatzen. Das wäre so, als würde der chinesische Präsident ein Treffen absagen, weil sich der Staatsgast nach einem umgefallenen Sack Reis umdreht. 
"In Israel selbst nimmt diese Propaganda, die im Übrigen auch den Antisemitismus schürt, mit Ausnahmen einiger extremer Linker niemand wahr."
Antisemitisch wäre sie, wenn sie "Verhaltensweisen, die den als Juden wahrgenommenen Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Eigenschaften unterstellen" würde, wie ich im letzten Blogeintrag zum Antisemitismusbericht der Bundesregierung dargestellt habe. Der Bericht hat explizit auf die Grauzone zwischen Kritik und Antisemitismus hingewiesen. Im Übrigen und um mich zu wiederholen: Wäre es dann nicht besser gewesen, Netanjahu hätte sich mit Gabriel getroffen und eventuell verzerrte Sichten auf die Lage vor Ort gerade gezogen?
"Sich jetzt bedingungslos auf eine Zwei-Staaten-Lösung einzulassen wäre politischer Selbstmord, weil die Hamas aus dem Gaza-Streifen sofort das Westjordanland überrennen und auf Israel zu marschieren würde."
In Anbetracht der militärischen Überlegenheit scheint mir das Überrennen nicht sehr realistisch. Dennoch könnten Angriffe nicht ausgeschlossen werden. Deshalb verlangt oder erwartet auch niemand, "[s]ich jetzt bedingungslos auf eine Zwei-Staaten-Lösung einzulassen".
Gestern hatte Winfried Züfle in einem Kommentar in der Printausgabe der AZ über "Netanjahus Bärendienst" geschrieben:
"Premierminister Benjamin Netanjahu hat mit der Gesprächsverweigerung gegenüber Bundesaußenminister Sigmar Gabriel sich, seiner Regierung und seinem Land einen Bärendienst erwiesen."
Nicht nur das, er hat sich als Tanzbär der Scharfmacher in der israelischen Regierung behandeln lassen.

Dienstag, 25. April 2017

Antisemitismusbericht der Bundesregierung

Bernhard Junginger hat in der Augsburger Allgemeinen vom 25.4. den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus kommentiert:


Bernhard Junginger schreibt:
"Juden in Deutschland fühlen sich zunehmend bedroht, vor allem von jungen Muslimen. [...] Übergriffe, ob mit Worten, Fäusten oder Waffen sind in keiner Weise akzeptabel und auch durch vermeintlich religiöse Gründe nicht zu rechtfertigen. [...] Gleichzeitig verbietet es sich, den Antisemitismus, den manche Muslime hegen, zur Rechtfertigung pauschaler Islamkritik heranzuziehen."
Das ist alles richtig. Allerdings ist der Bericht über 300 Seiten lang. Von Muslimen ausgehender Antisemitismus ist nicht der einzige Befund, weshalb der Kommentar arg einseitig daher kommt. Ich nehme dies zum Anlass, ein paar weitere Befunde darzustellen.

Der Bericht des Expertenkreises

Über die Veröffentlichung des Berichtes hat auch der Deutsche Bundestag berichtet. Der Bericht in seiner Vorabversion ist als Drucksache 18/11970 veröffentlicht.

Begriffsbestimmung

Der Bericht konstatiert, eine "allgemein gültige Definition von 'Antisemitismus' existier[e] nicht" und verwendet deshalb, aufbauend auf einer Arbeitsdefinition, die folgende Definition:
"Sammelbezeichnung für alle Einstellungen und Verhaltensweisen, die den als Juden wahrgenommenen Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Eigenschaften unterstellen"
Weiter wird beispielhaft erläutert:
"Ergibt sich die Abneigung gegen eine jüdische Person aus deren Zuordnung zur jüdischen Religionsgruppe, ist hingegen von einer antisemitischen Haltung auszugehen."
Es werden zwei Arten von Antisemitismus angegeben:
"Diese latenten Formen des Antisemitismus (diffuse Aversionen bis hin zu Ressentiments und Vorbehalten, Anm.) unterscheiden sich von manifesten Einstellungen, die eine bewusste Auffassung widerspiegeln und in entsprechenden Äußerungen privat oder im öffentlichen Raum geäußert werden."
Hinsichtlich der Äußerung von Antisemitismus in Handlungen wird festgestellt:
"Derartige Einstellungen können, müssen aber keine Folgen in Form von konkreten Handlungen haben."
Es werden mehrere Formen des Antisemitismus erläutert:
  • Religiöser Antisemitismus
  • Sozialer Antisemitismus, bei dem ein besonderer sozialer Status der Juden in der Gesellschaft das Grundmotiv sei
  • Politischer Antisemitismus, bei dem die Vorstellung vorherrsche, die "Juden seien ein homogenes Kollektiv mit einflussreicher sozialer Macht, das sich in politischer Absicht zu gemeinsamem Handeln zusammengeschlossen hat"
  • Nationalistischer Antisemitismus, bei dem Juden "als eine ethnisch, kulturell oder sozial nicht zur jeweiligen Nation gehörende Minderheit betrachtet" werden
  • Rassistischer Antisemitismus, der "alle Juden von Natur aus negativ bewertet und sie weder durch die Abkehr von ihrer Religion noch durch ein anderes Verhalten dieser Bewertung entgehen können"
  • Als moderne Form wird der sekundäre Antisemitismus genannt, der unterstellt, "dass die öffentliche Auseinandersetzung mit der massenhaften Ermordung der Juden im Nationalsozialismus nur der Diffamierung der nationalen Identität der Deutschen, der Gewährung von Wiedergutmachungszahlungen an Israel und der Legitimation der israelischen Politik im Nahen Osten diene"
Die Autoren sind sich einer Grauzone bewusst, die sich vor allem im Bereich zwischen Israelkritik und Antisemitismus findet. Die Unterscheidung sei schwierig und von der Motivseite her nicht zu klären. Sie empfehlen deshalb:
"Stattdessen sollte das Bewusstsein im Zentrum stehen, dass kritische Äußerungen zu Israel unter Umständen sowohl als kritische Positionierung als auch als Antisemitismus verstanden werden können. Es kommt daher darauf an, wer, was, wann sagt und ob die Kritik ohne Zuschreibungen an ein unterstelltes jüdisches Kollektiv erfolgt oder ob im Sinne einer 'Umwegkommunikation' Israel nur an die Stelle 'der Juden' quasi als Legitimierung antisemitischer Einstellungen tritt."

Erfasste antisemitische Vorfälle

Zahlen über antisemitische Vorfälle sind dem Bericht zu Folge abhängig davon, wer sie erhebt. In einer Tabelle auf Seite 39 werden die Fälle der polizeilichen und NGO-Auswertungen gegenübergestellt. Während die polizeiliche Statistik nur Straftaten erfasst, erfassen NGO auch "nicht angezeigte Vorfälle, die unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen".
Im Kapitel III.4 des Berichts wird die Demografie der Straftäter dargestellt und so zusammengefasst:
"Die Auswertungen der antisemitischen Straftaten nach dem Alter und der Geschlechtszugehörigkeit ergeben ein klares Bild. Die meisten der ermittelten antisemitischen Straftaten werden aus dem nach wie vor männlich dominierten rechtsextremen Spektrum heraus begangen. Entsprechend ist daher mit einem höheren Anteil männlicher Täter zu rechnen. Es sind denn auch die Altersgruppen der 14-24-Jährigen, die mit über 2000 männlichen Tätern in der Zeit von 2001-2013 den höchsten Anteil stellen."
Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass Bernhard Junginger in seinem Kommentar einen einseitigen Schwerpunkt setzt.

Wahrnehmung in der Bevölkerung

Der Bericht zeigt in der Einleitung des Kapitels IV zur antisemitischen Einstellung der Bevölkerung:
"In einer repräsentativen Umfrage der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2013 waren 77 Prozent der Deutschen der Auffassung, nur eine geringe Zahl der Bundesbürger bzw. kaum jemand in Deutschland sei negativ gegenüber Juden eingestellt. Während nur 19 Prozent den Antisemitismus als weitverbreitet einschätzen, zeigt die Befragung von Juden in Deutschland 2016 eine völlig andere Einschätzung: hier halten 76 Prozent den Antisemitismus in Deutschland für ein eher bzw. sehr großes Problem, von dem zudem 78 Prozent meinen, er habe in den letzten fünf Jahren etwas bzw. stark zugenommen. Während Antisemitismus also von weiten Teilen der deutschen Bevölkerung in der Regel weit von sich gewiesen wird, beklagen gleichzeitig 77 Prozent: 'In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer und Juden sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden.'"
Im weiteren Verlauf des Kapitels werden einzelne Fragen und das Antwortverhalten darauf dargestellt. Ein paar Beispiele in der gleichen Formulierung wie im Bericht dargestellt:
  • Auch heute noch ist der Einfluss der Juden zu groß.
  • Die Juden arbeiten mehr als andere Menschen mit üblen Tricks, um das zu erreichen, was sie wollen.
  • Durch ihr Verhalten sind Juden an ihren Verfolgungen mitschuldig.
  • Viele Juden versuchen, aus der Vergangenheit des Dritten Reiches heute ihren Vorteil zu ziehen.
  • Ich ärgere mich darüber, dass den Deutschen auch heute noch die Verbrechen an den Juden vorgehalten werden.
  • Bei der Politik, die Israel macht, kann ich gut verstehen, dass man etwas gegen Juden hat.
  • Durch die israelische Politik werden mir die Juden immer unsympathischer.
  • Israel führt einen Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser.
Es ist leicht zu erkennen, dass eine stärkere Zustimmung zu den Aussagen zu einer höheren Einstufung bzgl. einer antisemitischen Einstellung einhergeht. Der Bericht hat auch untersucht, wie sich Antisemitismus mit der Bildung ändert, und stellt fest:
"Allein der Faktor Bildung hat nach wie vor einen deutlichen Einfluss auf die Übernahme antisemitischer Einstellungen. Die Zustimmung zu den drei Dimensionen des Antisemitismus fällt umso höher aus, je niedriger die formale Schuldbildung ist. Dabei macht offenbar ein hohes Bildungsniveau den entscheidenden Unterschied, da die Differenzen sowohl zwischen den 'hohen' und 'niedrigen' als auch zwischen den 'hohen' und 'mittleren' Bildungsgruppen hochsignifikant sind [...]."
Wo Bernhard Junginger "staatliche Nachsicht" als fehl am Platze sieht und "Härte" fordert, zeigt der Bericht, dass das kaum zur Lösung führen wird. Wie so oft: It's the education, stupid! Auch bei der sozialen Schichtung des Antisemitismus zeigt sich ein solches Bild:
"Sowohl bei der subjektiven (definiert über die Selbsteinstufung) als auch der objektiven Schichtzugehörigkeit (definiert über Bildung, Einkommen und Beruf) zeichnet sich ab: Befragte der sozialen Mitte sind auch auf mittlerem Niveau antisemitisch. Diejenigen, die sich selbst einer unteren Position in der Gesellschaft zuordnen, über wenig Bildung, Einkommen oder einen Beruf mit niedrigem Status verfügen, tendieren am stärksten zum traditionellen Antisemitismus, während die Befragten, die sich selbst 'oben' verorten, die schwächste Zustimmung zeigen." 

Religion

Für christliche Religionsangehörige weist der Bericht aus:
"Hingegen spielt die bloße christliche Religionszugehörigkeit und das Ausmaß an Religiosität für das Ausmaß an Antisemitismus in der breiten Bevölkerung in Deutschland keine besondere Rolle. Vereinzelt ergeben sich einige höhere Zustimmungswerte, aber kein klares Muster."
Für Muslime ist die Datenlage nicht so klar:
"Trotz des von vielen Seiten als dringlich erachteten Problems fehlt es bisher in Deutschland an einer repräsentativen Befragung unter der muslimischen Bevölkerung. Es gibt jedoch eine Reihe von Studien, die zumindest gewisse Anhaltspunkte zur Beantwortung der Frage der Verbreitung und zu den Ursachen antisemitischer Einstellungen in dieser Bevölkerungsgruppe bieten."
Der Bericht warnt davor, allein aus der muslimischen Religionszugehörigkeit vorschnell Schlüsse zu ziehen:
"Der Faktor 'muslimische Religionszugehörigkeit' ist mit einer Reihe von anderen Variablen konfundiert, die nicht immer auseinandergehalten werden, was aber gerade mit Blick auf Schlussfolgerungen für Prävention und Intervention von Bedeutung sein kann – weniger in Bezug auf die Zielgruppe, an die sich die Intervention richtet, sondern vielmehr über welche Wege sie geht und welche Themen sie aufgreift."
Jugendliche sind in Studien untersucht worden mit dem Ergebnis:
"Zusammenfassend konstatieren diese Studien, dass antiisraelische Äußerungen, die dann auf alle Juden generalisiert werden, unter den Jugendlichen gebräuchlich sind. Der Nahostkonflikt wird als die Hauptquelle für antisemitische Äußerungen angesehen, wobei die Jugendlichen dabei auf eine imaginierte muslimische oder ethnische Kollektividentität zurückgreifen, um sich selbst zu versichern, dass es eine von allen Muslimen geteilte Ablehnung von Juden gebe und dass dies demnach eine 'normale Haltung' sei."
Eine repräsentative Umfrage türkischstämmiger in Deutschland stellt Vorbehalte gegenüber Juden fest, allerdings auch gegenüber Atheisten:
"Noch negativer als gegenüber Juden war die Haltung zu Atheisten: 27 Prozent wählten hier die Kategorien sehr oder eher negativ (49 Prozent sehr oder eher positiv, wiederum hohe 24 Prozent die Vorgaben 'weiß nicht/keine Antwort')."
Zur Altersstruktur bei Muslimen stellt der Bericht fest:
"Außerdem sind junge Muslime nicht antisemitischer als ältere Nichtmuslime. Offenbar haben junge Muslime die positive Entwicklung der letzten Jahrzehnte hin zu weniger Antisemitismus nicht oder noch nicht – und das ist eine ganz wesentliche Frage – nachvollzogen. Dies wirft Fragen an die Prävention auf, z. B. inwieweit junge Muslime, die häufig nicht als dazugehöriger Teil der deutschen Gesellschaft verstanden und adressiert werden, sich von bestehenden Präventionsanstrengungen angesprochen fühlen bzw. von diesen angesprochen werden"
Hier erneut der Hinweis, dass die im Kommentar von Bernhard Junginger geforderte "Härte" wenig bewegen dürfte.
Der Bericht verweist auf eine Studie, in der antisemitische Einstellungen unter nach Europa zugewanderten muslimischen Migranten untersucht wurden, und stellt fest:
"Deutlich wird, dass Antisemitismus – gemessen mit dem verwendeten Index – unter der muslimischen Bevölkerung im Vergleich zur Gesamtbevölkerung deutlich höher ausgeprägt ist. Der durchschnittliche Index Score unter den Muslimen betrug in den sechs Ländern für dieses Sample 55 Prozent. Die ADL führt dieses Ergebnis primär auf die Religion zurück, doch zeigt die ADL-Studie selbst, dass die Herkunftsregion wahrscheinlich entscheidender ist."
Im Kapitel X.3.6 wird die Lage so dargestellt:
"Zusammenfassend legen die Befunde ein vergleichsweise hohes Maß an antisemitischen Einstellungen und große Wissenslücken unter Geflüchteten aus arabischen und nordafrikanischen Ländern bzw. Ländern des Nahen und Mittleren Ostens nahe. Zugleich besteht ein großes Interesse an Information über den Holocaust."
Bernhard Junginger adressiert Muslime. Er könnte falsch liegen, wenn er vor allem auf die Religion als Ursache oder Auslöser abzielt.

Wahrnehmung bei den Juden

Der Bericht stellt den bisherigen Ausführungen auch eine Untersuchung der Wahrnehmung des Antisemitismus durch Juden gegenüber:
"Die große Mehrheit der Befragten (76 Prozent) betrachtet Antisemitismus als ein eher großes oder sehr großes Problem in Deutschland und verglichen mit verwandten Phänomenen als ein besonders großes Problem . Allerdings bewerten fast genauso viele Befragte Islamfeindlichkeit und Rassismus als ein eher oder sehr großes Problem (64 Prozent)."
Allerdings gibt es unterschiedliche Sensibilität, was als antisemitisch gilt:
"Während die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung diese Formen des Antisemitismus nicht immer erkennt, zeigt eine große Mehrheit der befragten Jüdinnen und Juden hier eine deutlich höhere Sensibilität. Den Befragten wurde eine Reihe von subtilen Ausdrucksformen des Antisemitismus vorgelegt, die jeweils rund 90 Prozent der Befragten eher oder auf jeden Fall als antisemitisch einstuften (hier wäre es interessant zu eruieren, welche Einstufung von der nichtjüdischen Bevölkerung vorgenommen würde)."
Zu der im Kommentar genannten Gewalt schreibt der Bericht:
"So hat eine Mehrheit der Befragten im vergangenen Jahr Antisemitismus selbst oder bei einer nahestehenden Person erfahren. 61 Prozent der Befragten gaben an, in den letzten zwölf Monaten versteckte Andeutungen erlebt zu haben, 58 Prozent hatten dies bei nahestehenden Person miterlebt. 29 Prozent berichten über verbale Beleidigungen bzw. Belästigungen und 36 Prozent der Befragten hatten diese wiederum über nahestehende Personen mitbekommen. Weitere drei Prozent der Befragten berichten davon, im vergangenen Jahr körperlichen Angriffen ausgesetzt gewesen zu sein, und sogar acht Prozent hatten dies bei nahestehenden Personen erlebt."
Auf die Frage, wie besorgt Personen über einen körperlichen Angriff auf sich selbst oder nahestehende Personen seien, antworteten 45% mit "eher besorgt" oder "sehr besorgt". Zu den Tätern wird festgestellt:
"Als Täter wurden von den Betroffenen überproportional häufig muslimische Personen identifiziert, daneben aber auch links Orientierte, rechts Orientierte und gerade bei den versteckten Andeutungen auch Personen aus der 'Durchschnittsbevölkerung'."
Auf die Frage, ob Antisemitismus auch ohne die Flüchtlinge ein Problem in Deutschland sei, stimmten 84% "eher" oder "voll und ganz" zu.

Religionen im Detail

Der Bericht geht an verschiedenen Stellen explizit auf religionsbezogene Zusammenhänge ein. Bernhard Junginger kommentiert mit Blick auf Muslime. Der Bericht widmet sich in einem eigenen Kapitel dem Salafismus, einer besonders engen Auslegung des Islam, und kommt zu diesem Fazit, das ich ungekürzt zitiere:
"Trotz dieser Hinweise auf antisemitische Grundlagen in der Ideologie des Salafismus und den häufig gegen Juden und jüdische Einrichtungen gerichteten Anschlägen von Salafisten in Europa gehen die Islamismus-Experten Olaf Farschid und Rudolph Ekkehard davon aus, dass es im 'Mainstream-Salafismus' keinen Unterschied im Verhältnis zum Judentum und zum Christentum gibt und damit auch keine 'spezifische antijüdische und in der politischen Konsequenz antizionistische Wahrnehmungen jüdischer Religion'. Beide Religionen, das Judentum umd (Fehler im Original, Anm.) das Christentum, werden als Verfälschungen von der einen göttlichen Wahrheit betrachtet. Judenfeindliche Haltungen seien eher untergeordnet. Farschid und Ekkehard betonen jedoch die Verwendung antisemitischer Stereotype bei salafistischen Bewegungen im Nahen Osten, die eine Traditionslinie einer historischen Feindschaft zwischen Juden und Muslimen zeichnen, die sich vom Frühislam bis zum israelisch-palästinensischen Konflikt hinziehe."
Hinsichtlich Muslimen im Allgemeinen wird festgestellt:
"Seit etwa zehn Jahren stehen Muslime im Fokus der gesellschaftlichen Auseinandersetzung um Antisemitismus in Deutschland. Dabei geraten insbesondere muslimische Verbände und Moscheegemeinden immer wieder unter Antisemitismusverdacht. Imame werden in diesem Zusammenhang v. a. als 'Hassprediger' charakterisiert. Untersuchungen zu antisemitischen Einstellungen in muslimisch geprägten religiösen Milieus, die diese Vermutungen untermauern könnten, gibt es bisher jedoch kaum."
Der Bericht zeigt auch Antisemitismus in christlichen Religionen:
"Demnach sind die nach außen hin vertretenen Positionen der großen Kirchen in Deutschland deutlich anti-antisemitisch. Aufgrund der empirischen Befunde zu antisemitischen Einstellungen in der Gesamtbevölkerung ist jedoch zu vermuten, dass die Positionierung gegen Antisemitismus in der Öffentlichkeit nicht auch zwangsläufig die Vorstellungen der Gemeindebasis widerspiegeln."
Weiter heißt es mit Blick auf eine aktuelle Studie
"Danach schützt der christliche Glaube nicht vor Antisemitismus, Islamfeindlichkeit und Homophobie. Je nach Bibelauslegung kann der Glaube dazu beitragen Vorurteilen entgegenzuwirken oder aber diese zu stützen und zu festigen. Zumeist lassen sich daher in den Gemeinden beide Positionen finden: Offenheit ebenso wie vorurteilsbehaftete Einstellungen gegenüber Juden, Muslimen oder Homosexuellen. Ein interessanter Befund der Studie ist die Unterscheidung zwischen dem Umgang mit Vorurteilen in Großstadtgemeinden und Dorfgemeinden. Für Großstadtgemeinden wird von einer 'intoleranten Kultur der Toleranz' gesprochen. Diese signalisiere nach außen hin eine große Offenheit gegenüber den drei genannten Gruppen, grenze aber nach innen Gemeindemitglieder, die diese Haltung nicht teilen, diskursiv aus. In dörflichen Gemeinden herrsche hingegen eine 'tolerante Kultur der Intoleranz', die insbesondere nach innen Vorurteile toleriere."

Conclusio

Bernhard Junginger bezieht Stellung und lehnt antisemitische Übergriffe in jeglicher Form klar ab. Er lehnt ebenfalls ab, Antisemitismus als Rechtfertigung für Islamkritik heranzuziehen. In beiden Punkten liegt er richtig. Allerdings setzt er einen unglücklichen Schwerpunkt, weil er bereits in der Überschrift auf Muslime abzielt. Der Bericht des Expertenkreises zeigt eindrucksvoll, in welchen Formen und in welcher Verbreitung Antisemitismus auftritt. Der Kommentar ist kein Grund, dass Nicht-Muslime sich zurückzulehnen und zu glauben, Muslime seien das Problem. Antisemitismus geht uns alle an. Härte, Rechtsstaat und Strafen sind kein hilfreiches Mittel. Bildung schon. Mit der angenehmen Nebenwirkung, dass sie auch berufliche Perspektiven eröffnen hilft und so andere gesellschaftliche Probleme mit löst.

Montag, 24. April 2017

Petry Heil

Bernhard Junginger hat in der Augsburger Allgemeinen vom 24.4. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Lage von Frauke Petry nach dem Parteitag der AfD analysiert:


Bernhard Junginger fasst die Vorgänge auf dem Parteitag treffend zusammen:
"Die Chefin der AfD hat die Machtfrage gestellt, und die Delegierten auf dem Kölner Parteitag haben sie gnadenlos abblitzen lassen. Ihr Versuch, den Einfluss des rechtsnationalen Flügels in der rechtspopulistischen Partei rechtzeitig vor der Bundestagswahl zurückzudrängen, um sie für breitere Wählerschichten zu öffnen, ist so heftig nach hinten losgegangen [...] Die Politik bei der AfD bestimmen jetzt endgültig andere. Alexander Gauland etwa, der vor 'Umvolkung' durch Zuwanderung warnt. Und sein Schützling Björn Höcke. Der Thüringer vom ganz rechten Rand hat mit seinen so braunen wie dummen Entgleisungen, etwa, als er das Holocaustmahnmal in Berlin als Denkmal der Schande bezeichnete, das Bild der AfD zuletzt geprägt."
Petry hatte versucht, die Partei für "viele Bürger aus der konservativen Mitte" attraktiver zu machen und ist gescheitert - Bernhard Junginger schreibt, die AfD sei für diese Menschen "endgültig unwählbar". Hoffentlich. Diese Hoffnung lässt sich stützen mit einem Blick nach Frankreich.
In Frankreich fand am gleichen Wochenende die Wahl zum Präsidenten statt. Zwei Kandidaten werden in zwei Wochen in die Stichwahl gehen: Marine Le Pen vom Front National und Emmanuel Macron von En Marche!. Der Front National ist der AfD ähnlich, weil beide in steiler Rechtskurve das politische Rennen fahren. 2011 übernahm Marine Le Pen den Parteivorsitz von ihrem Vater Jean-Marie Le Pen und begann, die Partei mehr zur Mitte hin zu führen. Sie gab sich gemäßigter im Ton, behielt jedoch ihre grundsätzliche Rechtslastigkeit bei. Dadurch wurde die Partei für mehr Menschen wählbar, was sich an den Wahlergebnissen zeigte, die seit 2011 zulegen konnten. Jean-Marie Le Pen schaffte es zwar auch einmal in die Stichwahl zum Präsidentenamt, allerdings im ersten Wahlgang mit etwa 5%-Punkten weniger als Marine. Mit dem frisch gewählten Spitzenduo der AfD, Gauland und Weidl, besteht die Aussicht auf geringeren Wahlerfolg als es mit Petry zu befürchten war.

Das AfD-Wahlprogramm

Die AfD hatte auf dem Parteitag über einen Leitantrag zum Wahlprogramm zu befinden. In dem Antrag werden nicht nur die politischen Forderungen dargestellt, sondern ggfs. deren Begründung, Grundlage und behauptete Fakten. Ein paar dieser Narrative stelle ich vor, i.d.R. in der Reihenfolge, in der sie im Antrag aufgeführt sind.
"Die Rechtsstaatlichkeit, insbesondere die Gewaltenteilung, muss wiederhergestellt und der Staat seine eigentlichen Kernaufgaben, insbesondere die Innere Sicherheit, wieder gewährleisten können. Mit den Verträgen von Schengen, Maastricht und Lissabon wurde rechtswidrig in die unantastbare Volkssouveränität eingegriffen."
Unklar ist, wann die Gewaltenteilung abgeschafft wurde. Und von wem. Und warum von gewählten Regierungen geschlossene Verträge per se rechtswidrig sein sollen, auch.
"Es gibt weder ein europäisches Staatsvolk, das für ein solches Vorhaben (EU als kontinentaler Staat, Anm.) konstitutiv wäre, noch ist erkennbar, dass sich ein solches auf absehbare Zeit herausbildet."
Naja, nur wenn man Staatsvolk nicht definiert. Für das deutsche Staatsvolk sieht die AfD die Abstammung als relevant:
"Das Geburtsortsprinzip (Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit allein durch Geburt in Deutschland, auch wenn kein Elternteil Deutscher ist) wollen wir wieder aus dem Gesetz streichen und zum Abstammungsprinzip, wie es bis zum Jahr 2000 galt, zurückkehren."
"Heimlicher Souverän in Deutschland ist eine kleine, machtvolle politische Oligarchie, die sich in den bestehenden politischen Parteien ausgebildet hat. [...] Nur das Staatsvolk der Bundesrepublik Deutschland kann durch das Mittel der unmittelbaren Demokratie diesen illegalen Zustand beenden."
Klingt nach Verschwörung. Es sind aber keine jüdischen Weltbeherrscher gemeint, oder?
"Alle Maßnahmen der EZB zur Manipulation des freien Kapitalmarkts müssen eingestellt werden. Eine Politik der künstlich herbeigeführten Null- und Negativzinsen führt zur Zerstörung der zentralen Märkte für Anleihen."
Unklar ist, was keine Manipulation des freien Kapitalmarktes wäre. Die EZB definiert Zinssätze, wie es andere Notenbanken auch tun. Unklar ist auch, wie die Anleihemärkte zerstört wurden, es werden immer noch Anleihen gehandelt.
"Unser Bargeld ist in Gefahr. Mit Unterstützung von Bundesregierung, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank wird seine schleichende Abschaffung vorbereitet. [...] Bargeld ist ein natürliches Bollwerk gegen eine weitere Absenkung der Zinsen bis in den negativen Bereich."
Unklar ist, wie das Bargeld als Bollwerk die Zinssätze hoch halten soll.
"Der erhebliche Anteil von Ausländern gerade bei der Gewalt- und Drogenkriminalität begegnet derzeit nur halbherzigen ausländerrechtlichen Maßnahmen."
Unklar ist, über welche Einzelfälle hinaus ein erheblicher Anteil sein soll. Da die AfD immer mit Abschiebung als "Lösung" hantiert, ist alles andere natürlich halbherzig.
"Zur Entlastung der innerdeutschen Justizvollzugsanstalten, aber auch zur Erhöhung der Abschreckungswirkung des Strafvollzuges sind für ausländische Straftäter durch Vereinbarungen mit ausländischen, möglichst heimatnahen Staaten dort Vollzugsanstalten einzurichten, die den Anforderungen der EMRK entsprechen, unter deutscher Leitung und der Anwendung deutschen Rechts stehen und zu denen jederzeitiger Zugang zu dienstlichen Zwecken ebenso möglich ist wie der Besuch von Angehörigen und Rechtsanwälten. [...]
Die Sicherheitslage verschärft sich vor allem in Ballungsgebieten dramatisch. Eine besondere Rolle hierbei spielen gerade junge Täter, denen derzeit ein geradezu zahnloses Recht gegenübersteht. Erzieherische Erfolge in diesem Segment lassen sich erfahrungsgemäß nur durch sofortige Inhaftierung der Täter schwerer Delikte erreichen."
Sie glauben immer noch an die Abschreckung von Strafen, vielmehr an deren "erzieherische Erfolge". Immerhin: die Todesstrafe wird nicht gefordert.
"Während die europäische Bevölkerung überaltert und schrumpft, explodiert sie in Afrika und in den arabisch-muslimischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens. In Afrika bekommt jede Frau im Durchschnitt 4,5 Kinder. Gleichzeitig nimmt die Kindersterblichkeit dank internationaler Hilfe stark ab. Die Geburtenrate in Europa liegt demgegenüber bei 1,6 und in Deutschland bei 1,4."
Als ob Afrika so einheitlich und das Thema auf einer solch generalisierten Ebene diskutierbar wäre.
"Das hohe Niveau der deutschen Sozialleistungen zieht sowohl aus anderen EU-Staaten als auch aus Drittstaaten zahlreiche Armutszuwanderer an. Hierbei werden die Freizügigkeit in der EU bzw. das Asylrecht missbraucht, um sich Zugang zum Sozialsystem zu verschaffen."
Andere Faktoren blendet die AfD aus, auch wenn sie - wie bereits hier lebende Bekannte - stärker wirken als die Sozialleistungen.
"Wir wollen verhindern, dass sich Muslime bis zum gewaltbereiten Salafismus und Terror radikalisieren."
Christen, Atheisten und andere dürfen sich radikalisieren, oder?
"Islamische Staaten wollen durch den Bau und Betrieb von Moscheen den Islam in Deutschland verbreiten und ihre Macht vergrößern. Sie führen und unterstützen einen Kulturkrieg."
Klingt ja richtig dramatisch.
"Die AfD lehnt es ab, islamischen Organisationen den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu verleihen, weil sie die rechtlichen Voraussetzungen - eine ausreichende Repräsentanz, die Gewähr der Dauer und die Achtung des freiheitlichen Staatskirchenrechts - nicht erfüllen."
Wirklich alle?
"Die dramatische Zunahme der Ehe- und Kinderlosigkeit und das Verschwinden normaler mittelgroßer Familien - von den etablierten Parteien längst als alternativlos hingenommen - sorgen für eine Schrumpfung unserer angestammten Bevölkerung um mehr als 250.000 Personen pro Jahr, mit stark steigender Tendenz."
Das statistische Bundesamt kommt nur auf jährlich 50.000 über die letzten Jahre.
"Gender-Ideologie marginalisiert naturgegebene Unterschiede zwischen den Geschlechtern und stellt geschlechtliche Identität in Frage. Sie will die klassische Familie als Lebensmodell und Rollenbild abschaffen. [...] Die Gender-Ideologie widerspricht sowohl den wissenschaftlichen Erkenntnissen der Biologie und der Entwicklungspsychologie als auch der lebenspraktischen Alltagserfahrung vieler Generationen. [...]
Die 'Gender-Forschung' ist keine seriöse Wissenschaft, sondern folgt der ideologischen Vorgabe, dass das natürliche Geschlecht (Sex) und das soziale Geschlecht (Gender) voneinander völlig unabhängig seien. Ziel ist letztlich die Abschaffung der natürlichen Geschlechterpolarität."
Schimmert da die gleiche Fundierung durch wie bei dem Begriff "Rasse", bei dem auch alles mögliche behauptet wird über Unterschiede? Und betont eine biologisch-genetische Perspektive, währenddessen die psychologisch-soziale ignoriert wird.
"Die sogenannte 'neue Lernkultur', die den klassengeführten Unterricht durch selbstgesteuertes, kompetenzorientiertes Lernen ersetzt, hat zu massivem Leistungsabbau bei den Schülern geführt."
Unklar ist, wie sich der massive Leistungsabbau zeigen und warum das durch die "neue Lernkultur" verursacht sein soll.
"Die AfD bekennt sich zur deutschen Leitkultur. Diese fußt auf den Werten des Christentums, der Antike, des Humanismus und der Aufklärung. [...] Die Ideologie des Multikulturalismus gefährdet alle diese kulturellen Errungenschaften."
Wow, alle diese Werte sind zweifelsfrei deutschen Ursprungs. Zumindest wenn Deutschland bis nach Israel, Griechenland, Frankreich gedacht wird.
"Wir wollen auf breiter Front deregulieren und Bürokratie abbauen. Mit Sorge beobachten wir zu viele und ineffiziente Regulierungen, welche die Entwicklung insbesondere der mittelständischen Unternehmen behindern."
OK, das klingt schon fast nach Mainstream.
"Es gilt die hohe Kinderarmut und die drohende Altersarmut zu bekämpfen. Eine Vielzahl von Arbeitslosen ist in Beschäftigung zu bringen. Die Infrastruktur unseres Landes ist in Teilen heruntergewirtschaftet, ohne dass dies in den öffentlichen Haushalten abgebildet wird. Die Stabilisierung der Sozialsysteme erfordert bei einer schrumpfenden und alternden Bevölkerung besondere Anstrengungen."
Auch dieser Themenkreis ist ein Problemfeld, das sich Politik widmen muss.
"Das Spurengas Kohlenstoffdioxid (CO2) ist kein Schadstoff, sondern eine unverzichtbare Voraussetzung für alles Leben. Die Aussagen des Weltklimarats (IPCC), dass Klimaänderungen vorwiegend menschengemacht seien, sind wissenschaftlich nicht gesichert. Sie basieren allein auf Rechenmodellen, die weder das vergangene noch das aktuelle Klima korrekt beschreiben können."
Augen zu und durch.
"Umweltzonen haben nachweislich nicht zur Reduzierung der Feinstaubemission beigetragen. Sie sind daher abzuschaffen."
Der ADAC zweifelt ebenfalls an der Wirksamkeit, negiert sie aber nicht vollständig und will sie abschaffen, weil sie im Verhältnis zur Wirkung ein zu stark eingreifendes Mittel seien.

Conclusio

An mehreren Stellen orientiert sich das Wahlprogramm an tatsächlich relevanten Problemen. Allerdings werden teilweise irritierende Behauptungen aufgestellt und politische Lösungen im typischen Duktus erhoben (v.a Ausländer und Muslime etc. als Ursache, die es zu bekämpfen gilt). Mit einer Frauke Petry an der Spitze hätte sich das Programm durchaus an die von Bernhard Junginger genannte konservative Mitte verkaufen lassen. Mit Gauland und Konsorten wird das kaum gelingen, da sind die Töne zu eindeutig zu rechts.
Bernhard Junginger schreibt zum Schluss:
"In der Hoffnung, am Ende doch recht zu behalten, klammert sich die gedemütigte Noch-Parteichefin fast trotzig an ihr Amt. Weniger dünnhäutig als ihr Vorgänger Lucke, ist Frauke Petrys Machthunger größer als ihr Stolz."
Wir werden sehen, ob sie ihren Machthunger nach der Bundestagswahl noch mit der AfD stillen will.

Mittwoch, 19. April 2017

Zeit für Steuerreform

Martin Ferber kommentiert in der Augsburger Allgemeinen vom 19.4. einen Bericht in der gleichen Ausgabe über die Steuerbelastung in Deutschland:


Martin Ferber schreibt:
"Längst müssen nicht mehr nur die Topverdiener den höchsten Steuersatz zahlen, sondern auch Bürger, die als Normalverdiener gelten."
Er weist darauf hin, dass innerhalb von zehn Jahren die Grenze für den Spitzensteuersatz vom Doppelten auf das Eineinhalbfache des Durchschnittseinkommens gefallen sei. Angesichts des Unwillens der Regierung, von der "stetig sprudelnden Einnahmequelle" etwas an die Bürger zurückzugeben, fordert er eine echte Steuerreform, bei der der Grenzwert für den Spitzensteuersatz "deutlich nach oben angehoben" und in der Folge jährlich angepasst werden müsse.
Dieser Forderung muss ich mich anschließen. Allerdings bin ich im Zweifel, ob die Politik den Mut und die Kraft aufbringt zu einer echten Steuerreform. Dazu zwei Gründe:

  1. Einnahmen erfreuen die Budgetverantwortlichen, weil sie dadurch einen größeren Spielraum haben und zudem die Verwaltung von und Verantwortung für die Budgets bei gut gefüllten Töpfen wesentlich einfacher ist.
  2. Eine echte Steuerreform ist ein breit zu diskutierendes Feld. Einfacher ist es, für die eigene politische Klientel zielgruppenkonforme "Geschenke" zu versprechen. Damit lässt sich im Wahlkampf wunderbar wuchern.
Eine Facette des Feldes "Steuerreform" habe ich vor etwa einer Woche angesprochen, als ich Steuerlast einerseits und staatliche Leistungen andererseits diskutiert habe. Denn daraus ergibt sich überhaupt die Manöveriermasse für eine Reform. Sollen die staatlichen Ausgaben gleich hoch bleiben, kann eine Steuerreform nur umverteilen.
Heute beschränke ich mich auf die Einnahmenseite. Die Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln liefert einige Aufschlüsse für Überlegungen zur Steuergerechtigkeit. Dazu wurden die Einkommen in zehn Klassen eingeteilt, die sich so staffeln:


Die gelbe Spalte "Dezilgrenze" gibt jeweils die Obergrenze an, bis zu dem Einkommen in die jeweilige Gruppe gehören. Als Einkommen werden sog. "Haushaltsbruttoäquivalenzeinkommen" verwendet, bei der die erhobenen Haushaltseinkommen auf Ein-Personen-Haushalte heruntergerechnet werden. Die höchste Gruppe beginnt danach bei einem Monatseinkommen von 5.393€, also einem Jahreseinkommen von knapp 65.000€. Die zweithöchste Gruppe beginnt bei einem Monatseinkommen von 4.216€, das sind gut 50.000€ im Jahr. Das sind Größenordnungen, unter denen ich noch nicht die von Martin Ferber genannten "Topverdiener" einordne, sondern die "Leistungsträger", durchaus gut verdienende und hart arbeitende Fachkräfte.
Die Studie zeigt, wie hoch die Belastung dieser Gruppen mit Steuern (betrachtet wurden Einkommen-, Mehrwert- und Versicherungssteuer) und Sozialabgaben ist:


Die Grafik zeigt deutlich, wie mit höherem Einkommen die Belastung durch die Einkommensteuer steigt (grüne Säulen). Die abnehmende Belastung mit Mehrwert- und Versicherungssteuer hat mit dem Konsumanteil des verfügbaren Einkommens zu tun, die Abnahme bei den Sozialabgaben mit den Beitragsbemessungsgrenzen.
Für Überlegungen zur Gerechtigkeit bei der Einkommensteuer kann diese Passage aus der Studie herangezogen werden:
"Die Hälfte der Haushalte mit den geringsten Äquivalenzeinkommen (also alle Haushalte bis 2.481€ pro Monat, Anm.) trägt lediglich 7 Prozent zum Aufkommen der Einkommensteuer einschließlich Solidaritätszuschlag bei. Der Anteil dieser Gruppe am Mehrwertsteueraufkommen ist mit 38 Prozent dagegen deutlich höher. Werden alle Steuerarten zusammengerechnet, beträgt der Anteil dieser Haushalte 18 Prozent.
Die oberen 30 Prozent der Einkommensverteilung bestreiten etwa 80 Prozent der Einkommensteuereinnahmen und 42 Prozent der Mehrwertsteuereinnahmen. Dies macht etwa zwei Drittel der gezahlten Steuern aus. Dabei erwirtschaftet diese Gruppe etwa 55 Prozent der gesamten Haushaltseinkommen."
Wenn die Hälfte der Haushalte mit dem geringsten Einkommen nur 7%, die oberen 30% der Haushalte jedoch 80% der Einnahmen aus der Einkommensteuer generieren, sollte Behauptungen der Politik, aus Gründen der Steuergerechtigkeit sollten untere Einkommen ent- und obere Einkommen belastet werden, mit Vorsicht begegnet werden. Denn solche Behauptungen kommen meist ohne ausreichend genaue Abgrenzung daher, was unter oberen oder unteren Einkommen zu verstehen sei.
Für eine echte Steuerreform ist es deshalb unabdingbar, endlich ein Ziel für die Steuergerechtigkeit zu formulieren. Denn inzwischen wird der Begriff inflationär gebraucht: Es sei gerecht, kleine Einkommen zu entlasten. Es sei gerecht, höhere Einkommen stärker zu belasten. Es sei nicht gerecht, wenn von einem steigenden Einkommen der Staat sich einen zunehmenden Anteil holt. Kalte Progression sei ungerecht. Millionäre tragen zu wenig bei. Jeder dreht und wendet sich seine Steuergerechtigkeit so, wie es die Zielgruppe verlangt. Deshalb: Was ist Steuergerechtigkeit?
Wenn das geklärt ist, dann kann über die Struktur des Steuertarifes diskutiert und Antworten auf Fragen wie nach dem Eingangs- und Spitzensteuersatz gegeben werden. Doch für eine Steuerreform, die den Namen echt verdient, wäre das zu kurz gesprungen. Vor fast 15 Jahren erlangte Friedrich Merz "Berühmtheit", als er den Anspruch formulierte, jeder Bürger solle seine Steuererklärung auf einem Bierdeckel machen können. Auf die Steuergerechtigkeit übertragen: Ist es gerecht, wenn das Steuerrecht so kompliziert ist, dass es sich nur Gutverdiener leisten können, mittels Steuerberatern ihre Steuerlast zu gestalten und Klein- oder Normalverdiener diese Möglichkeit versagt bleibt? Davon sind wir meilenweit entfernt
Martin Ferber schreibt:
"Eine echte Steuerreform müsste mehr bieten, als nur ein bisschen an den Stellschrauben des Steuerrechts zu drehen und den 'Soli' in zehn Jahren abzubauen."
Richtig. Ich gehe jedoch weiter als Martin Ferber. Es ist nicht genug für eine echte Steuerreform, den Grenzwert für den Spitzensteuersatz anzuheben und jährlich anzupassen, der Tarifverlauf gehört insgesamt diskutiert. Zudem gehören die Absetzmöglichkeiten untersucht, was davon wirklich nötig und was tatsächlich in der Einkommensteuer gut aufgehoben ist. Und schließlich Kuriositäten im Steuerrecht entfernt, wie beispielsweise die überraschende Steuerzahlung auf die betriebliche Altersvorsorge, über die die Sendung "Die Anstalt" am 4. April berichtet hat und die im Faktencheck nachgelesen werden kann. Sonst sind es nur wieder gedrehte Stellschrauben, aber keine Reform.

Dienstag, 18. April 2017

Sultan und Europa

Winfried Züfle kommentiert in einem Leitartikel am 18.4. in der Augsburger Allgemeinen den Ausgang des türkischen Referendums zur Verfassungsänderung:


Winfried Züfle schreibt bereits im Titel, ein Sultan passe nicht zu Europa und behauptet:
"Die Türken stimmten nicht nur über eine neue Verfassung ab, die ihr Land grundlegend verändert - hin zu einer Ein-Personen-Herrschaft. Sie hatten auch zu entscheiden, ob sie den Weg nach Europa abbrechen wollen."

Abstimmung über Europa?

War es eine Abstimmung über den Weg nach Europa? Formal war es eine Abstimmung über Änderungen in der türkischen Verfassung, die im Leitartikel angerissen werden und die die Türkische Gemeinde in Deutschland so zusammenfasst:

"1. Der Präsident wird nicht mehr nur Staats- sondern auch Regierungschef. [...]
2. Das Prinzip der Überparteilichkeit des Präsidentenamtes wird abgeschafft. [...]
3. Der Präsident entscheidet alleine über Ernennung und Absetzung seiner Stellvertreter. Er ist außerdem für alle Minister zuständig, [...]
4. Der Präsident erhält weitreichende Gesetzgebungskompetenzen. Per Dekret kann der Präsident neue Gesetze erlassen [...]
5. Das Prinzip des Misstrauensvotums wird abgeschafft. Anfragen des Parlaments können nur noch schriftlich [...] eingereicht werden [...]
6. Der Präsident kann das Parlament nach Belieben auflösen.
7. Der Justizminister wird direkt vom Präsidenten ernannt, wobei der Justizminister als Vorsitzender auch die Funktion des Hohen Rats der Richter und Staatsanwälte innehat.
8. Der Präsident wählt weitere sechs der insgesamt dreizehn Mitglieder des Hohen Rates. [...]"

Aus unserer europäischen Sicht ist das demokratisch bedenklich, wobei einzelne Punkte sich auch in westlichen Verfassungen finden. Dass der Präsident das Parlament auflösen kann, kennen wir beispielsweise aus Österreich. Dekrete liefert Donald Trump in den USA zu Hauf, die Justiz gebietet ihm Einhalt. In der Türkei könnte dies zukünftig das Parlament zumindest theoretisch durch ein eigenes "Gegengesetz". Daraus lässt sich noch nicht ableiten, es wäre eine Entscheidung für oder gegen Europa gewesen.
Wenn es wirklich eine Abstimmung über "den Weg nach Europa" gewesen wäre, müsste das irgendeine Rolle gespielt haben im Wahlkampf. Der Wahlkampf war ausgerichtet an der Größe der Türkei, Europa war eine Randnotiz. Erdogan pries sich als Garant dieser Größe, der Europa als den schwarzen Peter darstellte. Es ging darum, Erdogan in die Lage zu versetzen, die Türkei "great again" zu machen. Eine Abstimmung über Europa vermag ich nicht zu sehen, sie lässt sich jedoch leicht hineininterpretieren.
In Deutschland haben über 60% der abgegebenen Stimmen für die Verfassungsänderung gestimmt. Es wirkt wenig plausibel, darin ein Zeichen gegen Europa zu sehen, weil die Änderungen kaum Auswirkungen auf die in Deutschland lebenden Türken haben werden. Für wesentlich plausibler halte ich auch hier das Motiv der "großen Türkei von Erdogans Gnaden".

Wie demokratisch ist das Ergebnis?

Die OSZE hat einen Bericht zum Referendum veröffentlicht, der demokratisch bedenkliche Aspekte zeigt. Im Newsroom der OSZE findet sich die generelle Einschätzung:
"'On referendum day there were no major problems, except in some regions, however we can only regret the absence of civil society observers in polling stations,' said Cezar Florin Preda, Head of the delegation from the Parliamentary Assembly of the Council of Europe. 'In general, the referendum did not live up to Council of Europe standards. The legal framework was inadequate for the holding of a genuinely democratic process.'"
Daraus ergibt sich die grundsätzliche Frage, wie demokratisch eine getroffene Entscheidung sein kann, wenn sie sich demokratischer Methoden bedient, diese jedoch unsauber anwendet. In Österreich reichten bereits kleine Verfehlungen, um eine Präsidentenwahl für ungültig zu erklären.
Zum Referendum fällt auf, dass die Zustimmung vor allem auf dem Land groß war, in Städten nicht. Winfried Züfle schreibt dazu:
"Das Abstimmungsergebnis bestätigt: Die Lebenswelten in Istanbul, Ankara oder Izmir und im anatolischen Hinterland klaffen weit auseinander, allen wirtschaftlichen Fortschritten zum Trotz. Auch politisch."
Zum Ergebnis bezieht sich Winfried Züfle auf die Abstimmung in Groß Britannien:
"Das Ergebnis erinnert an die Brexit-Entscheidung der Briten. Auch dort betrug die Mehrheit nur 51 Prozent und einige Zehntel."
Betrachtenswerter als das vergleichbar knappe Ergebnis ist die Verteilung der Zustimmung. Auf dem Land war sie hoch, in Städten gering. Oder die USA: die Verteilung der Zustimmung zu Trump lässt sich ebenfalls in einer Stadt-Land-Kategorie einordnen, im Detail überlagert von Industrieentwicklungen. Oder Österreich: Norbert Hofer, der FPÖ-Kandidat zum Präsidentenamt hatte auf dem Land höhere Zustimmung als in den Städten. Sich mit der Feststellung zu begnügen, die Türkei sei "ein zerrissenes Land", reicht nicht. Denn warum gelingt es Wahlkämpfern, auf dem Land mit Themen zu punkten, die in den Städten nicht ziehen? Und was bedeutet dies für die Demokratie? Winfried Züfle schreibt:
"Aber: Selbst wenn die Mehrheit nur eine Stimme ausmacht – sie zählt. Das ist Demokratie. Selbst wenn es ironischerweise darum geht, die Demokratie zu beschädigen."
Nein, das ist nicht die Demokratie. Der Wesensgehalt der Demokratie ist der Ausgleich, die Berücksichtigung aller Interessen. Wenn es eine starke Land-Stadt-Differenz gibt in politischen Entscheidungen, ist es demokratisch bedenklich, wenn das Land die Stadtinteressen (oder umgekehrt) übergehen kann mit dem Argument, mehr Stimmen bekommen zu haben. Für eine Verfassungsänderung in Deutschland braucht es eine Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und -rat. Die Behauptung, eine Stimme reiche zur Mehrheit ist die Diktion der Populisten und ihres Narrativs, sie sprächen für oder seien das Volk. In diese Falle tappt Winfried Züfle.
Nähert man sich der Abstimmung vom knappen Ergebnis her und behält die Vokabel "Populismus" im Hinterkopf, ergibt sich ein anderes Bild. Wie oben ausgeführt war es eine Abstimmung über "Make Turkey great again". Erdogan verstieg sich zu unsäglichen Sprüchen wie Kreuzfahrer, Nazis etc. Hier die arme Türkei, der Größe zustehe, dort die bösen Europäer. Ergodan stilisierte sich als Erlöser, als der starke Mann, der alles lösen kann. Dabei behauptete er, eine Lösung könne es nur geben mit der geänderten Verfassung. Insofern hat Winfried Züfle recht, wenn er sagt, die Demokratie könne sich selbst beschädigen. Allerdings ist Populismus keine Ironie an, sondern Pervertierung der Demokratie. Wie pervertiert Demokratie werden kann, zeigt Winfied Züfle selbst:
"Doch Erdogan scheint es nicht zu genügen, dass er künftig regieren kann wie einst der Sultan im Istanbuler Topkapi-Palast. Kaum war er sich des knappen Sieges im Referendum sicher, setzte er an, die nächste Bastion des Rechtsstaates zu schleifen. Er will die Todesstrafe einführen - notfalls mit einem neuen Referendum."

Die Konsequenzen

Ohne Zweifel ist die Demokratie in der Türkei bereits stark gefährdet: Inhaftierungen von Parlamentariern und von Journalisten sind an der Tagesordnung. Verschwörungstheorien bestimmen politisches Handeln. Winfried Züfle schreibt:
"In der EU jedenfalls hat dieser Herrscher nichts verloren. Die Beitrittsgespräche müssen beendet werden. Das ist die einzig adäquate Antwort."
Ist das wirklich die "einzig adäquate Antwort"? Weiter gefragt: Ist das eine Antwort an den Einzelfall Erdogan oder ist das eine prinzipielle Antwort? Wäre sie prinzipiengeleitet, müsste Europa Viktor Orbán den Stuhl vor die Türe stellen. Oder Polen den Ausschluss androhen. Die EU sollte außenpolitisch keine anderen Maßstäbe anlegen als sie es im Inneren tut, um kein Problem mit ihrer eigenen Glaubwürdigkeit zu erzeugen.
Das ZDF hat einige Reaktionen zusammengetragen. Wo Winfried Züfle sein Pulver möglicher Reaktionen früh verschießen will, meint Elmar Brok:
"Der CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok warnte die Türkei dagegen lediglich vor der Wiedereinführung der Todesstrafe. 'Dann ist der EU-Beitritt der Türkei gescheitert', sagte Brok der 'Welt'. [...]
Der Ausgang des Referendums allein ist für Brok noch kein Grund, die EU-Beitrittsgespräche mit der Türkei offiziell abzubrechen. [...] Er verwies darauf, dass die Beitrittsgespräche seit einem halben Jahr wegen des von Erdogan ausgerufenen Notstands eingefroren seien, 'und jetzt werden sie nicht weitergehen, weil die Bedingungen nicht mehr erfüllt sind'."
Selbst die Einführung der Todesstrafe sollte nicht automatisch zum Abbruch führen. Vor fast genau einem Jahr hat die FAZ berichtet, Hessen wolle die Todesstrafe abschaffen. Nach Artikel 21 (1) war sie noch erlaubt, durch eine Bundesgesetzgebung jedoch nicht anwendbar. Deutschland ist trotz Hessen in die EU gekommen.
Winfried Züfle mahnt direkt im Anschluss an seine Forderung:
"Natürlich darf Europa die Türkei nicht aufgeben."
Elmar Brok meint im ZDF:
"'Mit einem totalen Bruch würden wir uns an der anderen Hälfte der türkischen Bevölkerung versündigen, die mit Nein gestimmt hat', fügte der CDU-Politiker hinzu."
Ja, denn die fast 50% der Wähler, die gegen das Referendum gestimmt haben, sollten eine Hand aus Europa gereicht bekommen. Durch die Türe hindurch, die Winfried Züfle schließen will, wird das nicht möglich sein. Der Sultan passt nicht zu Europa. Sippenhaft auch nicht.

Mittwoch, 12. April 2017

Wohin mit den Steuern?

Rudi Wais kommentiert in der Augsburger Allgemeinen vom 12.4. den Bericht zur Studie der OECD über die hohe Belastung der deutschen Bürger mit Steuern:


Rudi Wais schreibt:
"Deutschland geht es gut, sehr gut sogar - die Dividende des anhaltenden Aufschwungs aber hat bislang alleine der Staat eingestrichen."
Kommt darauf an, was Rudi Wais mit "Dividende" meint. Ein paar geschwinde Blicke auf Veröffentlichungen können Hilfestellung bieten. Das Statistische Bundesamt weist beispielsweise für die durchschnittlichen Konsumausgaben pro Haushalt für die Jahre 2010 bis 2015 eine Zunahme von 2.168 € auf 2.391 € auf, eine Steigerung um etwa 10%. Ich finde, das ist eine Art Dividende. Allerdings sind die kassenmäßigen Steuereinnahmen im gleichen Zeitraum um 26% gestiegen - die staatliche "Dividende" war also bedeutend höher. Andererseits gaben die öffentlichen Haushalte bereits im Jahr 2010 über 626 Mrd. € alleine für die soziale Sicherung aus. Nicht zu vergessen, dass die Bevölkerung in den Jahren 2010 bis 2015 durch eine Steigerung der Zahl der Erwerbstätigen von knapp 41 Mio. Erwerbstätigen auf deutlich über 43 Mio. Erwerbstätigen sehr wohl am Aufschwung partizipiert hat. Es trifft also nicht zu, im Staat den einzigen Profiteur des Aufschwungs zu sehen.
Andererseits zeigt die Studie der OECD die Belastung der Bürger:



Rudi Wais schreibt:
"Zwei Studien, die die Belastung der Deutschen etwas genauer unter die Lupe nehmen, liefern allen Befürwortern einer größeren Lösung (zur Steuersenkung, Anm.) nun neue Argumente."
Darüber lässt sich diskutieren. Denn eine hohe Steuer- und Abgabenbelastung heißt ja nicht per se, dass den Bürgern vom Staat Geld entzogen würde. Der deutsche Staat hat im Durchschnitt pro Bürger im Jahr 2011 fast 14.000€ für Soziales, Sicherheit, Bildung, Kultur etc. ausgegeben. Das ist nicht nichts.
Die Belastung durch staatliche Abgaben kann nur dann sinnvoll bewertet werden, wenn im Gegenzug die Entlastungen sowie der "Konsum" staatlicher Leistungen berücksichtigt werden. Dieser Aspekt hat zwei Facetten:
  1. Wie die Sendung "Die Anstalt" im ZDF vom 4.4. gezeigt hat, ist beispielsweise die deutsche Rente im Vergleich zu einer Rente in Österreich bei etwa gleichem Beitragssatz für den Arbeitnehmer nur die Hälfte. Die genauen Zahlen lassen sich im Faktencheck zur Sendung nachlesen. Rudi Wais nennt den "überdimensionierten Öko-Aufschlag auf den Strompreis" und weist dabei auf ein weiteres Beispiel für fragwürdige Performance des Staates hin. Es lassen sich leicht weitere Beispiele finden, wo zumindest ernsthafte Zweifel an der Effizienz im staatlichen Handeln angebracht sind. Dazu müssen noch nicht einmal die Stilblüten aus dem Schwarzbuch des Bundes der Steuerzahler bemüht werden oder die Jahresberichte des Bundesrechnungshofes.
  2. Der Staat erfüllt Wünsche diverser Lobbygruppen bezüglich staatlicher Zuwendungen. Die Autoindustrie möchte sich die Entwicklung von Elektroautos finanzieren lassen, um dann die Gewinne einzustreichen. Die Atomindustrie möchte die Kosten für die Entsorgung ihrer Kraftwerke loswerden. Der Bürger möchte für die Mehrausgaben durch Kinder "entschädigt" werden und für gute Berufsaussichten Bildungswege gratis beschreiten können. Bauern wollen für den niedrigen Milchpreis, den sie selbst mit- jedoch nicht allein verschuldet haben, einen Ausgleich bekommen. Baukindergeld, Rente mit 63. Wohnen im Grünen und Steuerentlastung, wenn der Arbeitsplatz in der Stadt bleibt und deswegen gependelt werden muss.
Derzeit schwimmt der Staat sprichwörtlich im Geld, die Steuereinnahmen sprudeln. Auf der einen Seite wird nun nach Steuersenkungen gerufen, auf der anderen Seite möchte aber niemand lieb gewonnene Staatsleistungen hergeben. Wie weit das geht, hat die Diskussion um die Flüchtlinge gezeigt, bei der eine (finanzielle) Überforderung des deutschen Staates an die Wand gemalt wurde.
Rudi Wais schreibt von einer "großen Lösung". Diese Lösung darf nicht nur auf die Steuern bzw. eine große Steuerreform beschränkt bleiben. Dazu gehört auch die Frage, wofür der Staat Geld ausgeben soll und wie er das effizient, also möglichst nutzbringend, machen kann. Die große Lösung sollte auch Klarheit verschaffen, was denn Steuergerechtigkeit sei. Denn bisher hat niemand gesagt, wie ein gerechtes Steuersystem konkret aussehen soll: Wieviel mehr sollen Großverdiener bezahlen im Vergleich zu Kleinverdienern? Ist es gerecht, wenn die einen fast 50% Grenzsteuersatz haben, die anderen nur 14%. Warum lässt sich dennoch Stimmung machen gegen "die da oben"?
Wenn jetzt im Wahlkampf von allen Parteien Steuersenkungen, Steuererleichterungen oder Steuerreformen versprochen werden, halte ich dem entgegen: Das wird nur solange gelten, bis eine nachlassende Konjunktur, eine Änderung der Zahlungsverpflichtungen an überstaatliche Institutionen oder sonstige Vorkommnisse Argumente liefern, warum der Staat nun wieder mehr Geld braucht. Im Wahlkampf soll uns Wählern geschenkt werden, was uns später wieder genommen wird. Erst die Tage hat das genau so funktioniert: die Maut. Das Verkehrsministerium kann 260 Mrd. € investieren und schafft es dennoch, die Notwendigkeit einer fragwürdigen Maut zu argumentieren. Deshalb bitte keine Steuergeschenke im Wahlkampf für bestimmte Zielgruppen. Bitte eine große Lösung.

Sonntag, 9. April 2017

Trump in Syrien

Simon Kaminski kommentiert in einem Leitartikel in der Augsburger Allgemeinen vom 8.4. den Angriff der USA auf einen syrischen Luftwaffenstützpunkt:


Simon Kaminski schreibt:
"Mit der Formel 'Gott segne Amerika und die gesamte Welt' endete die Ansprache, mit der er der Nation, aber eben auch der ganzen Welt erklärte, warum er zuvor den Luftschlag gegen einen syrischen Militärstützpunkt angeordnet hatte. Das sind völlig neue Akzente, weit entfernt von der polternd-aggressiven 'America First'-Attitüde."
Die Begründung für den Raketenangriff hat Trump selbst in einem Video beispielsweise auf Twitter veröffentlicht:


Trump spricht von "beautyfull babies", von "very barbaric attack" und meint:
"No child of God should ever suffer such a horror."
Das klingt nach dem bekannten Trump, der sich auf Gott beruft. Simon Kaminski meint, Trump setze neue Akzente, "weit entfernt von der polternd-aggressiven 'America-First'-Attitüde". Nicht ganz, denn Trump sagt in seinem Video:
"It is in this vital national security interest of the Unitd States [...]"
Trump hat sich nicht von America-First abgewendet, wenn er nationale Sicherheitsinteressen betroffen sieht und diese meint verteidigen zu müssen. Der neue Akzent ist, dass Trump bisher den Eindruck vermittelt hat, er wolle sich auf die USA zurückziehen und eben keine bzw. weniger Militäraktionen in aller Welt mehr durchführen. Der Raketenangriff ist deshalb schon eine Richtungsänderung. Vielleicht aber hat Trump auch nur geblinkt.
Simon Kaminski meint, Trump wollte Handlungsfähigkeit und -wille zeigen, und schreibt:
"Gleichzeitig aber ist das Symbolpolitik. Gut gegen die eigene Ohnmacht und das schlechte Gewissen, weggeschaut zu haben."
Wenn man den Giftgasangriff als Anlass glaubt, ist der US-Angriff eine Strafmaßnahme. Strafen haben oft Symbolcharakter, mithin ist das das Wesen von Strafe. Symbolik ist deshalb nicht per se negativ. Die Frage ist, was nach der Strafe kommt. Denn mit Simon Kaminski:
"Die USA werden weder Bodentruppen schicken noch können sie diesen Krieg aus der Luft entscheiden."
Ja. Und nicht zu vergessen, dass die USA gegen den IS bereits aktiv sind. Es bleibt abzuwarten, was die zukünftige Strategie der USA für Syrien ist. Zwei der wohl wichtigsten Mitspieler hierbei sind Assad und Putin. Simon Kaminski schreibt:
"Assad ist kein Gesprächspartner – wirkliche Fortschritte sind nur ohne ihn denkbar. [...] Ebenfalls gilt nach wie vor, dass es keine Lösung des Konfliktes ohne Russland geben wird. Das wissen auch Trumps Berater."
Solange Putin in Assad einen wichtigen Akteur - oder Handpuppe? - für russische Interessen sieht, wird die Hoffnung zerschlagen, der Syrienkonflikt ließe sich lösen, ohne mit Assad zu reden. Im Gegenteil: Assad wird den Konflikt tragen, soweit sein Militär ihn trägt. Dies lässt sich nur abkürzen, wenn mit ihm gesprochen wird, nicht nur über ihn. Im Prinzip sind es zwei Spiele, die gespielt werden: Gegen den Terror, den IS auf dem einen Spielbrett, auf dem anderen Assad und der Aufstand gegen ihn. Gegen den Terror gibt es so etwas wie Kooperation zwischen Russland und den USA. Bei Assad und den von ihm verkörperten russischen Interessen gibt es Differenzen. Deshalb mit Simon Kaminski:
"Es ist unwahrscheinlich, dass der US-Angriff die Lösung des verfahrenen Syrien-Konflikts vorangebracht hat. Die Hoffnung, dass Assad nun erkennt, dass es auch für ihn Grenzen gibt, könnte schnell enttäuscht werden."
Nicht "könnte", sondern "wird". Es gibt kein Indiz dafür, dass nach dem Giftgasangriff Russland von Assad abrücken würde, zumal es derzeit keine unzweifelhaften Beweise für den Angreifer gibt. Genau deshalb wäre es wichtig, eine langfristige Strategie zu entwickeln, um mit Russland im Gespräch zu bleiben und über diesen Weg den Konflikt zu lösen. Vielleicht sind die von Trump genannten nationalen Sicherheitsinteressen ein Kristallisationspunkt für eine solche Strategie. Dem entgegen steht, wie Simon Kaminski schreibt:
"Viel eher ist zu befürchten, dass der sprunghafte US-Präsident gar nicht in der Lage ist, solch eine langfristige Strategie zu verfolgen. Es bleibt dabei, das Berechenbare an Trump ist seine Unberechenbarkeit."

Montag, 3. April 2017

CSU und die Familie

Die Augsburger Allgemeine hat am 3.4. einen Bericht veröffentlicht zu dem Versprechen von Horst Seehofer, nach der Bundestagswahl im September mehr für Familien zu tun:


Bild listet die zur Diskussion stehenden Varianten auf:
"* Einmalige finanzielle Hilfen für junge Paare für Anschaffungen vom Kinderwagen bis zur Babyausstattung
* Ein Kindersplitting mit höheren Steuerfreibeträgen für jedes Kind
* Die Einführung eines Bildungskontos, auf das der Staat bei der Ausbildung Gelder überweist
* Die schrittweise Abschaffung von Kita-Gebühren
* Die Reduzierung von Sozialversicherungsbeiträgen für Familien mit geringen Einkommen."
Die CSU will die Kita-Gebühren abschaffen und schafft es dabei nicht, den Bedarf an Kita-Plätzen zu decken. Seit 2013 haben Eltern einen Anspruch auf einen Betreuungsplatz und das Institut der Deutschen Wirtschaft stellt in einem Artikel vom 30.12.2016 fest, dass fast 230.000 Plätze fehlen. Für Bayern weist die Untersuchung eine Unterdeckung von etwa 33.000 Plätzen aus.
Ich wundere mich, dass die CSU plötzlich ihr Herz für Familien entdeckt. Denn Ende Dezember 2016 hieß es in einem Bericht der Augsburger Allgemeinen noch:
"Der Nachzug von Angehörigen anerkannter Flüchtlinge stellt viele Kommunen nach Einschätzung Singhammers (Bundestagsvizepräsident, CSU; Anm.) vor eine 'außerordentlich große Herausforderung'. 'Irgendwann werden vielleicht nicht mehr genügend Wohnraum, Lehrer und Erzieher vorhanden sein. Wir müssen alles tun, dass die Integrationsfähigkeit gewahrt bleibt', sagte er der dpa."
Die Frankfurter Allgemeine berichtete ebenfalls darüber und betont, dass es vor allem um syrische Flüchtlinge mit einer hohen Anerkennungsquote von 99,9% gehe. Der Bericht titelt mit Singhammers zitierten Worten:
"Familiennachzug größeres Problem als neue Flüchtlinge"
In der Welt wird am 14.10.2015 der CSU-Politiker Hans-Peter Uhl zitiert mit den Worten:
"'Wir müssen den Familiennachzug begrenzen. Dabei will ich keine Personengruppen von vornherein ausschließen, auch nicht die Menschen aus Bürgerkriegsgebieten wie Syrien, die ja ohnehin nur ein zeitlich begrenztes Bleiberecht erhalten', sagte der Innenexperte Hans-Peter Uhl der 'Welt'. Uhl hält die Zahl der Menschen sonst für nicht mehr beherrschbar."
Was gilt denn nun? Sind Familien und Nachwuchs so positiv, dass eine milliardenschwere Förderung angezeigt ist? Oder sind Familien und ihr Nachwuchs ein immens großes Problem? Geht es am Ende vielleicht um die richtigen Familien? Die guten ins Töpfchen, die schlechten in Ausländerwohnheime und Transitzonen?
In einer Veröffentlichung des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend mit dem Titel "Familien mit Migrationshintergrund - Analysen zur Lebenssituation, Erwerbsbeteiligung und Vereinbarkeit von Familie und Beruf" zeigt sich, welche Sozialleistungen von Familien mit bzw. ohne Migrationshintergrund genutzt werden:


Auffällig ist, dass die steuerlichen Förderungen wie Kinderfreibetrag und Splitting von Familien mit Migrationshintergrund deutlich weniger genutzt werden als von Familien ohne diesen Hintergrund. Es ist bestimmt Zufall, dass die CSU mit steuerlichen Mitteln Familien helfen möchte.
Ein anderer Aspekt könnte für die CSU relevant werden, wenn sie im Wahlkampf weiterhin die rechte Flanke absichern und das Terrain nicht der AfD überlassen will. In der Studie des Ministeriums wird ferner gezeigt, dass der Anteil der Mütter mit Migrationshintergrund in jeder angegebenen Altersgruppe höher ist als der Anteil der Mütter ohne diesen Hintergrund:


Das heißt also, dass Familien mit Migrationshintergrund eher von den Wohltaten profitieren werden. Auch ohne höcke'sche Böcke vom "Ausbreitungstyp", über die beispielsweise der Stern berichtet hatte, war die CSU in ihrem Leitantrag für den CSU-Parteitag am 20./21. November 2015 in München der Meinung:
"Es darf keine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme geben.
Integration setzt Fairness und Gerechtigkeit auch gegenüber der Bevölkerung voraus, die schon hier lebt. Die Leistungen der sozialen Sicherungssysteme müssen sich daran messen. Wer schon lange bei uns ist und lange in unsere Sozialsysteme eingezahlt hat, muss am Ende besserstehen als derjenige, der gerade erst ins Land gekommen ist. Durch eine große Kraftanstrengung der Integration muss eine Zuwanderung in unsere Sozialsysteme verhindert werden" 
Wer im Wahlkampf mit dem Familienthema um Stimmen buhlt, gleichzeitig aber den Familiennachzug massiv einschränken will, macht sich unglaubwürdig in seiner Behauptung, die Familie stehe über allem. Aber das ist bestimmt ein Missverständnis meinerseits, da im Eingangs erwähnten AZ-Bericht keine Definition der Familie gegeben wurde. Dort liegt wahrscheinlich der Hund begraben. Das Familienbild der CSU lässt sich erahnen im Kontext der sog. "Homoehe": Homosexuelle könnten keine Familie sein, weil dafür Mann und Frau nötig seien. Dauerhaftigkeit, Beistand, Liebe etc. spielen eine nachrangige Rolle. Vielleicht erfährt der Familienbegriff der CSU für den Wahlkampf eine weitere Einschränkung, um die Widersprüche aufzulösen.