Mittwoch, 30. November 2016

Von Verführern verstrickt

Martin Ferber hat in der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen am 29.11. einen Kommentar veröffentlicht zu Berichten über Radikalisierungsmethoden des IS:


Martin Ferber schreibt:
"So ist der IS [...] längst dabei, die virtuelle Welt zu erobern und mit Apps, Videos und über Facebook verbreitete Botschaften Jugendliche zu ködern."
Er stellt die Frage, was man dagegen tun könne und verweist auf das Fehlen von Patentrezepten. Er umreißt das Problemfeld:
"Jugendliche, in der Pubertät ohnehin labil und auf der Suche nach Orientierung, sind aus vielfältigen Gründen anfällig für Kräfte, die ihnen Halt, Orientierung oder auch ein klares Feindbild liefern."
Martin Ferber sieht als ein Lösungselement die politische Bildung, die er als "richtig und wichtig" bezeichnet. Da dies nicht ausreiche, müsse "die gesamte Gesellschaft, also wir alle, offensiver unsere Werte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Offenheit vertreten und als Lebensmodell verteidigen."
Ja, zum Einen müssen Fakten und Wissen vermittelt werden, wie unser Gesellschaftsmodell funktioniert. Zum Anderen müssen diese Funktionsweisen vorgelebt werden. Nur: Wird dies im gegenwärtigen Bildungsumfeld funktionieren? Eine Schule, die das Aufzählen von Bundespräsidenten in der richtigen Reihenfolge mit der Notes 1 belohnt? Ein solches Wissen wird für Jugendliche kaum attraktiv sein, wenn sie nach sich selbst, ihrem Sinn, ihrem Selbstwert und ihrer Selbstwirksamkeit suchen. Es wird auch nicht reichen, wenn wir (Erwachsenen?) unsere Werte offensiver verteidigen, weil es genau diese Werte sind, gegen die Islamisten erfolgreich propagieren.
Es muss in Bildung investiert werden. Nicht allein in Fakten- und Methodenbildung. Es muss in die Persönlichkeitsbildung und -entwicklung investiert werden. Nur wer sich selbst als wertvoll ansieht, wer seine Vorzüge kennt und von seinen Grenzen nicht als Mangel ansieht, wer sich Veränderungen zutraut und diese umsetzen aber auch Fehlschläge verkraften kann, wer sein Selbst aus seinem Inneren nähren kann und nicht hauptsächlich von externer Zustimmung abhängig ist, wer sich einen gefestigten Wertekanon entwickelt hat und schließlich wer sich als Teil einer Gemeinschaft ansieht ohne seine Identität für die Gemeinschaft aufzugeben, wird gefeit sein vor den Verführern des IS. An die Gemeinschaft geht der Appell, diese Werte vorzuleben und den Raum zu schaffen, dass jeder diese Entwicklung meistern kann.

Samstag, 26. November 2016

Letter to Erdogan

Die Augsburger Allgemeine hat am 26.11. einen Kommentar von Winfried Züfle veröffentlicht:


Winfried Züfle schreibt:
"Europa muss vor Erdogan nicht zittern. Wenn in der Türkei etwas falsch läuft, darf und muss dies auch künftig angeprangert werden."
Richtig. Deshalb ergänzend ein offener Brief an Erdogan:

Mr. Erdogan,

you threatened Europe. You want to open Turkish borders and let refugees go to Europe. You think Europe will understand this as an sign of your strength and power.
What Europe is understanding:
  • You had to handle a coup in July 2016. The coup failed due to your reaction and the resistance of democratic Turkish people.
  • It's the right of the Turkish state to prosecute the responsible persons. The prosecution of the responsible persons require a reasoning with no room for doubt - take this as a core element of our understanding of a modern state. You did not deliver that reasoning. You aver the responsibility of Mr. Gülen and his movement but you did not proof it.
  • It's the right of the Turkish state to search all responsible persons in order of prosecution. Europe is able to believe that many people may be involved in the coup. Europe is in doubt to believe the huge number of people you pretend to be guilty. You did not proof their personal duty.
  • It's the right of the Turkish state to develop as the state and it's people desire. It's the right of the state's leader to try to influence the people to make them follow him. Europe calls this Democracy. Democracy is not just a name, it requires to be executed every day.
  • It's the right of the democratic leader to influence the people. A strong leader will convince. A strong leader is able to handle divergent points of view. To inhibit the divergent points of view is not democratic. As long as you repress opposition, newspapers, tv stations and so on you do not behave as a democratic leader.
  • It's the right of the Turkish state to punish the guilty. Europe does not see death penalty as a valid punishment. Death punishment has massive moral and legal hazards. It took decades to understand this. Therefore Europe will never allow a state to be an European member which executes death penalty. Only a weak leader needs this kind of demonstration of his imaginary strength.
  • It's the right of the Turkish state to get information about the persons involved in the coup. Europe does not see torture as a way to go to gather valid information.
  • It's the right of the Turkish state to protect itself. Europe does not understand bombs as a reasonible protection. Not for the Turkish state, not for the PKK. Bombing without war is terror. Terror is not a democratic method to handle conflicts. It's words and the idea of compromise.
  • It's the right of the Turkish state to reach out for easy travelling for it's people. But it's the right of the other states to set some restrictions.
  • It's daily business in politics to offer and require. It's the right of the Turkish state to require something for something it offers. You offered closed borders, you got paid. Democrats differ between requirement and threat. Opening borders is a threat. Refugees are no weapon.
  • It's the right of the representatives of the Turkish state to demand respect. But there is a difference between the appointment of the representative and the person. The more erratic the person seems the less Europe will be able the deal with that person.
  • It's the right of the Turkish state to try to get politically closer to a specific region. But this requires a minimum of common sense. Europe sees Democracy as one basic element, humanity another. Even if Europe may not be perfect in fulfilling it's own requirements it's valid to require that from new potential European members.
  • It's the right of the Turkish state to go to West or East. Even and would be OK. But you should keep in mind the possible reactions of the West and the East. A strong leader is able to anticipate these reactions and make advantageous decisions for all involved parties.
European doors are wide open for everybody sharing a basic set of common sense. As long as you do not proof sharing this set the door is not wide open for you. But it keeps open to enable you to show and enable Europe to see your current set. Europe is very patient with you. Don't destroy what grew up for years. A destroyer is newer a strong leader.

Regards
Stefan Deutzmann

Mittwoch, 23. November 2016

Bremser Trump

Jürgen Marks hat in der Augsburger Allgemeinen am 23.11. einen Leitartikel zu den Auswirkungen der angekündigten Wirtschaftspolitik Trumps auf Bayern veröffentlicht:


Jürgen Marks schreibt:
"Trump kann den weltweiten Handel also nicht stoppen. Aber er wird die angestrebten internationalen Verträge in den Müll werfen. Zumindest sieht es danach aus."
Trump wird den weltweiten Handel nicht stoppen. Er kann es auch nicht. Das Vertragswerk TTP wurde über viele Jahre verhandelt und gestaltet. Das eigentliche Ziel von TTP war dabei nicht der Freihandel. Der Freihandel war das Mittel zum Zweck. Der Zweck zielte auf China und seine aufkommende Dominanz. TTP sollte verhindern, dass vor allem asiatische Staaten eine aus US-Sicht zu enge Bindung an China entwickeln. Mit der Aufkündigung von TTP werden sich die asiatischen Staaten nach Alternativen umsehen und vielleicht sich China annähern. Den möglichen Schaden hieraus werden die USA wohl erst dann ausbaden müssen, wenn Trump nicht mehr im Amt ist.
Für Europa relevanter ist TTIP. Jürgen Marks schreibt hierzu:
"Denn neben dem Stopp des TPP-Abkommens hat auch das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen TTIP keine Chance mehr auf Umsetzung. Das sollte niemanden überraschen. Auch in Deutschland überwog zuletzt die Ablehnung. Verbraucher wollten keine amerikanischen Chlorhühnchen oder Hormonfleisch auf dem Teller. Zudem fürchteten sich viele Menschen vor der Aufweichung von Verbraucherschutz und Arbeitnehmerrechten."
Die deutschen Verbraucher waren und sind stark gegen das Abkommen, getrieben von symbolträchtigen Chlorhühnern. Der Verhandlungsmodus sowie die ursprünglich vorgesehenen Investitionsgerichte taten ein Übriges. Dem gegenüber standen behauptete BIP-Gewinne und andere Argumente, die von den Chlorhühnern überflügelt wurden. Hierzu schreibt Jürgen Marks:
"Diese internationalen Abkommen hatten das Ziel, dem globalen Handel einen Turboantrieb einzubauen. Doch die Geschäfte haben bislang auch ohne die Verträge funktioniert. Bayerisch-Schwaben brauchte kein TTIP, um eine exportstarke Region zu werden."
Ja, der Erfolg der Region kam auch ohne TTIP zu Stande. Allerdings gibt es immer wieder Klagen über Dauern von Genehmigungen, über die Kompliziertheit bestimmter Ex- und Importvorgänge etc. Der Erfolg der Region zeigt, wie wichtig der internationale Handel ist und wie viel Kraft in ihm steckt. Mehr Kraft, als Trump hat.
Zum Ausblick auf die nächsten Jahre schreibt Jürgen Marks:
"Worauf es jetzt ankommt, ist, wie hoch Trump die Schutzwälle tatsächlich zieht, um amerikanische Industrien zu schützen. Denkbar sind Strafzölle und andere Importhindernisse. [...] Wie die Unterhaltungsindustrie könnte die Regierung Trump die amerikanischen Auto-Hersteller und Zulieferer schützen wollen, die heute gerne Hochtechnologie aus Schwaben und Oberbayern importieren. Statt des erhofften TTIP-Turbos könnte die heimische Industrie es also bald mit US-Bremsern zu tun bekommen. Das ist die reale Gefahr für die Geschäfte und unsere Arbeitsplätze."
Welche "reale Gefahr für die Geschäfte und unsere Arbeitsplätze" wird sich erst abschätzen lassen, wenn Trump seinen Allgemeinplätzen genauere Umsetzungsabsichten hinzufügt. Ich bin vor allem gespannt, wie Trump seine Ankündigung, die Fertigung nach USA zurück zu holen, wahr machen will. Es sind ja nicht nur die Arbeitsplätze in andere Länder und Kontinente gewandert, sondern auch die dafür notwendigen Maschinen und das Fertigungs-Know-How. Kann in den USA überhaupt jemand Touch-Screens für Handies bauen in den benötigten Mengen und Qualitäten? Trump müsste also Fertigungsmöglichkeiten schaffen. In genau diesem Feld ist Deutschland stark: Maschinenbauer, Roboterbauer etc. Trump könnte deshalb gerade wegen seiner America-First-Strategie für lokale Sonderkonjunkturen sorgen. Wenn er schnell genug wieder aus dem Amt scheidet, dürfte sich der Schaden überhaupt in Grenzen halten. Darum besteht Hoffnung "für die Geschäfte und unsere Arbeitsplätze".

Montag, 14. November 2016

Auf vages Grün zusteuern

Die Augsburger Allgemeine hat in der Printausgabe vom 14.11. einen Leitartikel von Rudi Wais veröffentlicht zur Parteiveranstaltung der Grünen in Münster:


Rudi Wais stellt die Spannbreite der Sichtweisen auf Steuern im Allgemeinen und eine Vermögenssteuer im Besonderen dar:
"Steuern sind für ihn (Winfried Kretschmann, Anm.) Mittel zum Zweck, um Schulen und Schwimmbäder zu finanzieren, um Beamte zu bezahlen, die Straßen in Schuss zu halten, Flüchtlinge zu integrieren oder die Renten zu sichern."
"Der klassenkämpferische Ton, mit dem die Partei in Münster die V-Frage (Vermögensteuerfrage, Anm.) diskutiert hat, erinnert fatal an die verkorkste Kampagne des letzten Wahlkampfes [...]"
Er nennt die "linken Reflexe bei den Grünen stärker als die ökonomische Vernunft" und zeigt auf, warum es bisher mit einer Vermögensteuer nicht geklappt hat:
"Zu schwierig ist die Abgrenzung zwischen Privat- und Betriebsvermögen, zu kompliziert die Bewertung von Immobilien, zu groß die Gefahr, Unternehmen an die Substanz zu gehen, zu gering auf der Ertrag mit geschätzten sechst bis acht Milliarden Euro im Jahr."
Diese Aufzählung kann ergänzt werden um weitere Fälle, wo eine Vermögensteuer fragwürdig wird wie selbst genutzte Immobilien mit hohem Wert, Vermögen ohne laufende Erträge etc. Rudi Wais nennt Alternativen, um "Reiche" zu besteuern:
"über einen höheren Spitzensteuersatz, über das Schließen von Steuerschlupflöchern oder das Abschaffen der Abgeltungssteuer"
Das alles gibt einen Hinweis, welches Vorurteil die "linken Reflexe" wahrscheinlich auslöst: Superreiche sind Personen, die über Kapitalerträge ein arbeitsloses Einkommen erzielen. Dabei sollten sie beitragen, Arbeitslosen ein Einkommen zu ermöglichen und andere staatliche Aufgaben zu finanzieren. Sie sollten für ihre Zins-, Dividenden- und Mieteinnahmen einen angemessenen Steuerbeitrag leisten. Dafür soll die Substanz, das Vermögen besteuert werden. Oder: weil es nicht gelingt, ein als gerecht empfundenes System der Einkommensbesteuerung zu schaffen, wird als Notbehelf eine Vermögensteuer gefordert.
Das wird die Grünen nicht weiterbringen "mit dem Anspruch, die Dinge grundlegend zu verändern". Es ist gerade nicht die alternative Herangehensweise an politische Fragen, die der Anspruch sein sollte. Sie grenzen sich damit nicht durch vernunftgeleitete Antworten von der aktuellen Mode emotionsgeleiteter Antworten ab. Mit der von Rudi Wais genannten diffusen Aussage bezüglich der Frage, wer die Superreichen seien, sind sie alles andere als ein Gegenentwurf. Sie benennen nicht - nicht einmal diffus - was die Gerechtigkeit sei, die sie mit einer Vermögensteuer zu erreichen vorgeben. Sie fordern konkret genug die Vermögensteuer, um linke Klientel abzuholen. Sie bleiben diffus genug, um sowohl für Rot als auch für Schwarz eine Koalitionsoption zu bleiben - und im Endeffekt jedenfalls einen ihrer Flügel zu verprellen. Sie werden in Details so konkret, dass sie sich dem Vorwurf des Besserwisserwahlkampfes aussetzen.
Rechtspopulisten haben Erfolg auch deswegen, weil sie dem angeblich tatenlosen Politikergewäsch konkrete Handlungen entgegen setzen: Ausweisungen, Verbote, Mauern, den starken Mann. Momentan scheint es so, als ob die Grünen es vielen Recht, dafür kaum etwas richtig machen wollen. Dabei wären die Grünen als die "Partei, die sich gerne für ihre Liberalität feiert" prädestiniert für kreativere Lösungen.

Samstag, 12. November 2016

Walter Rollers Weg gegen Populisten

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen am 12.11. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er Entwicklungen und Schlussfolgerungen aus dem Aufstieg von Populisten aufzeigt:


Walter Roller fragt, ob "ein Mann wie Donald Trump auch in Deutschland an die Spitze gelangen" könne und gibt auf den ersten Blick die Antwort: Nein. Doch er wagt einen zweiten Blick:
"Auf den zweiten Blick zeigt sich: Wir sollten uns nicht zu sicher wähnen. Es gibt zwar keinen Grund, nun in Alarmismus zu verfallen oder gar die Gefahr einer Zerstörung der westlichen Werteordnung an die Wand zu malen. Aber Trumps Sieg ist ein Warnsignal, dass die liberale, pluralistische Demokratie keine Ewigkeitsgarantie besitzt. Sie muss stets aufs Neue verteidigt und so gestaltet werden, dass sie das Vertrauen der Menschen behält. Geschieht dies nicht, wird populistischen 'Bewegungen' auch in scheinbar gefestigten Demokratien ein fruchtbarer Boden bereitet."
Richtig. Eine funktionierende Demokratie besteht nicht einfach so, sie muss verteidigt und erarbeitet werden. Walter Roller bringt aktuelle Beispiele von Akteuren und populistischen Bewegungen: Le Pen in Frankreich, AfD in Deutschland, Trump in den USA. Es lassen sich weitere anführen: Ungarn, Österreich, Polen, Türkei, Philippinen.
Walter Roller setzt seine Analyse fort:
"Doch es gärt in allen westlichen Gesellschaften. Überall hat sich viel Verdruss aufgestaut, der sich in einer Revolte gegen das 'System' und gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten Bahn bricht. Viele der sogenannten kleinen Leute fühlen sich zurückgelassen und abgehängt. Es ist nicht die Angst vor wirtschaftlichem Abstieg und Jobverlust allein, die den Populisten Zulauf beschert. Hinzu kommen die Angst vor Überfremdung durch massive Einwanderung und das Unbehagen an dem rasanten soziokulturellen Wandel, der mit einer Verächtlichmachung traditioneller Lebensformen durch linksliberale, privilegierte Eliten einhergeht.
Aus all dem - und dem Misstrauen in das 'Establishment' und die Institutionen - rührt der Erfolg der Populisten her."
Wirtschaftliche Entwicklungen im Kontext der Globalisierung und dem zunehmenden Einsatz von Maschinen und vor allem Computern gefährden manche Planung des Berufslebens. In manchen Branchen mag eine starke Gewerkschaft Entwicklungen vielleicht bremsen können, aufhalten lassen sie sich nicht. Deshalb entstehende Ängste sind verständlich. Walter Roller benennt "die Angst vor Überfremdung durch massive Einwanderung" und "Unbehagen mit dem soziokulturellen Wandel" als weitere Gründe. Hier vermischt er Dinge: Der wirtschaftliche und soziokulturelle Wandel sind Entwicklungen, die quasi von selbst entstanden sind durch Technisierung, Computerisierung, Logistikmöglichkeiten, Kostenüberlegungen in Unternehmen, Aufstiegswünschen in allen Ländern der Welt etc. Sie führen zu einem Wegfall von europäischen Standortvorteilen und zum Entstehen von Standortvorteilen in anderen Weltgegenden. Solchen Entwicklungen stehen Staaten teilweise machtlos gegenüber oder sie würden viel Einsatz erfordern. Die "Angst vor Überfremdung" ist jedoch keine solche Von-Selbst-Entwicklung. Würde "massive Einwanderung" als Bereicherung empfunden, gäbe es diese Angst nicht. Diese Angst ist gemacht, zumindest mehr gemacht als manche Abstiegsängste. Gemacht von Bewegungen, die das Angstmachen besser beherrschen als "das 'Establishment' und die Institutionen" das Entwickeln und Realisieren von guten Lösungen je könnten.
Walter Roller schreibt:
"Die Demokratie ist noch nicht in Gefahr. Doch unsere Politiker sollten anfangen, das Problem ernst zu nehmen."
Richtig, Populisten sind noch keine Gefahr für die Demokratie. Sie sind Teil der Demokratie und nutzen demokratische Mechanismen für ihre Belange. Für die Bewertung der Gefahr für die Demokratie reicht es jedoch nicht, nur auf das Phänomen des Populismus zu blicken. Es ist zu untersuchen, wie die Populisten demokratische Mechanismen (aus)nutzen und mit welchem Erfolg. Ein paar Beispiele:
  1. Art. 3 des Grundgesetzes verbietet Bevorzugungen oder Benachteiligungen wegen Rasse, Herkunft, Glaube etc. Doch genau hier setzen Populisten an, weil sie in "Uns" und "Die Anderen" unterteilen. Die Gefahr für die Demokratie entsteht, wenn durch diese Unterteilung eine Benachteiligung der anderen gerechtfertigt wird und sich als Selbstverständlichkeit etabliert. Nicht jede Ungleichbehandlung ist eine Benachteiligung, aber es ist genau zu schauen, wo sie zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung wird.
  2. Art. 5 des Grundgesetzes definiert die Meinungs- und Pressefreiheit. Verschiedene Meinungen sind demokratisch, mögen sie sich inhaltlich noch so sehr widersprechen. Die Gefahr für die Demokratie entsteht, wenn beispielsweise die Presse in Bausch und Bogen als Lügenpresse bezeichnet wird und eben nicht mehr die Möglichkeit des Art. 5 genutzt wird, sich "sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten". Nicht jede Information aus einer einseitigen Quelle ist eine Demokratiegefahr, aber wer sich in seiner politischen Willensbildung vom politischen Geschehen abkoppelt, gefährdet seine Demokratiefähigkeit.
  3. Walter Roller lehnt die "[t]örichte und falsche Wählerbeschimpfung nach der Art, es stimmten ja nur deklassierte, ausländerfeindliche und nicht hinreichend 'aufgeklärte' Leute für die Populisten" ab. Richtig, Wählerbeschimpfung ist falsch. Allerdings dürfen Erkenntnisse über Schwerpunkte im politischen Verhalten von bestimmten Wählergruppen nicht ignoriert werden. Erst gestern habe ich auf solche Schwerpunkte bei der US-Präsidentenwahl hingewiesen. Würden solche Erkenntnisse ignoriert, könnten nicht die richtigen Lehren gezogen werden und ergriffene Maßnahmen würden unter ihren Wirkmöglichkeiten bleiben. Das wäre eine Gefahr für die Demokratie. Walter Roller schreibt selbst, "die Menschen brauchen das Gefühl, mit ihren Sorgen ernst genommen zu werden." Das klappt nur, wenn die Politik die Sorgen der Menschen zielgenau kennt.
  4. Demokratie lebt von Mehrheiten. Allerdings wäre es fatal, jede Mehrheitsentscheidung bereits als demokratisch gute Entscheidung einzustufen. Leider tut dies Walter Roller: "Die gegen eine große Mehrheit betriebene, das Land spaltende Flüchtlingspolitik Merkels war ein Paradebeispiel für die Missachtung der realen Stimmung im Volk." Wenn bei jeder politischen Entscheidung die reale Stimmung im Volk das Ergebnis bestimmen und zweifelsohne zu einem guten Ergebnis führen würde, wäre die Einführung der Todesstrafe in der Türkei genauso legitimierbar wie der Erste Weltkrieg, wie Karl Kraus in Die letzten Tage der Menschheit eindrucksvoll darlegt. Die Gefahr für die Demokratie besteht darin, die Möglichkeit von Fehlentscheidungen durch Stimmungen im Volk zu unterschätzen.
Deshalb nochmals Walter Roller Forderung:
"Die Demokratie ist noch nicht in Gefahr. Doch unsere Politiker sollten anfangen, das Problem ernst zu nehmen."
Er sollte nicht nur an die Politiker appellieren. Demokratien als Herrschaftsformen, "in denen Macht und Regierung vom Volk" erfordern auch vom Volk, die Demokratie ernst zu nehmen. Wenn das Volk den Populisten und ihren simplen Heilsversprechen glaubt, wenn das Volk nicht die Bürde der Willensbildung als Weit- und Breitsicht erfordernde Arbeit akzeptiert, wenn das Volk Stimmungen nachläuft und Fakten ignoriert, wenn das Volk sich von geschickten Akteuren über Inhaltslosigkeit hinwegtäuschen lässt, dann ist die Demokratie in Gefahr. Walter Roller unterschätzt die Gefahr. Wachsamkeit ist bereits heute nötig.

Freitag, 11. November 2016

Trumps Demokratielehren

Die Augsburger Allgemeine bringt in ihrer Ausgabe vom 11.11. eine Vielzahl von Leserbriefen zum Ausgang der Präsidentenwahl in den USA:


Mittels einer Wahl wurde ein Mann zum Präsidenten gewählt, dessen Siegchancen vor der Wahl als eher gering prognostiziert wurden. Darüber freut sich Ruth Heichele:
"Hurra, hurra, welch eine Freude. Und was für eine Klatsche für Wichtigtuer und Besserwisser wie Herrn Röttgen, Frau von der Leyen und viele Medienschaffende. [...] Die Menschen haben die Etablierten satt, satt, satt, die den Willen der Menschen missachten und gegen deren Interessen handeln."
Ruth Heichele freut sich nicht, dass bestimmte Lösungen gewonnen haben, sie freut sich nur über die Klatsche. Ist das eine demokratische Haltung, wenn das der Demokratie inhärente Ziel der Gerechtigkeit als Schadenfreude zum Ausdruck kommt? Nein. Ruth Heichele unterstreicht das noch durch den Titel "Trump-Hasser". Wie soll auf dem Niveau eine demokratische Abwägung von Alternativen stattfinden können?
Norbert Epp schreibt:
"Wie konnte es zu diesem Ergebnis kommen? Ganz einfach. Da hat ein Volk sein Recht zur freien Wahl seines künftigen Präsidenten wahrgenommen."
Hans Bersenkowitsch schreibt:
"Da haben sich all die linkspopulistischen Kommentatoren zu früh gefreut! So funktioniert Demokratie! Die Mehrheit des Volkes bestimmt!"
Mir graut vor einem solchen Demokratieverständnis. Wenn die "Mehrheit des Volkes bestimmt", ist das nicht der demokratische Ausgleich der Interessen, das ist nicht gerecht. Die Minderheit zu überbügeln ist etwas, was der demokratische Diskurs vor einer demokratischen Entscheidung verhindern sollte. Die Schreiber sollten sich vor Augen halten, dass Trump nicht die Mehrheit der Stimmen bekommen hat, wie beispielsweise die New York Times zeigt. Er hat nicht die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich, nicht mal die Mehrheit der Wähler. Er hat keine 50% erreicht. Er hat "nur" die Mehrheit der Wahlmänner auf sich vereinigen können. Gewonnen hat er zweifelsohne, von der Mehrheit des Volkes zu reden ist falsch. Auch hat nicht des Mehrheit des "Volkes" entschieden, weil das Volk nicht einheitlich und gleichmäßig ist. In der ganzen Schadenfreude gehen solche Feinheiten als irrelevant unter. Ein paar Details zur Homogenität bzw. Inhomogenität finden sich beispielsweise auf Statista:
  • Trump lag bei Männern vorne
  • Clinton lag bei Jüngeren (bis 24 Jahre) vorne
  • Trump lag auf dem Land vorne
  • Clinton lag bei höher Gebildeten vorne
Wenn man dies überspitzt zusammenfasst, haben die alten doofen Redneck-Landeier nun den Präsidenten, den sie verdienen - die anderen aber auch. Heinz Schönberger schreibt:
"Keine Krokodilstränen weinen. Jedem Volk den Präsidenten, den es verdient."
Auch hier Schadenfreude, nicht wegen des Denkzettels für das Establishments, sondern wegen einer vielleicht falschen Wahl. Die Güte des Wahlergebnisses wird sich erst in Jahren weisen, wenn Trump seine Politik hat realisieren können und die Resultate dieser Politik offenbar werden.
Jürgen Brecht schreibt:
"Eine Politik der offenen Grenzen, wie sie die deutsche Regierung praktiziert, ist grundfalsch. Donald Trump hatte das wiederholt eindeutig geäußert."
Hat Trump wirklich über deutsche Politik gesprochen in seinem America-first-Ansatz? Wohl kaum. Er hat über spezifisch amerikanische Themen gesprochen, von der Abweisung von Muslimen, von der Ausweisung von Mexikanern, vielleicht noch davon, keine Flüchtlinge aus Syrien aufzunehmen, weil sie vor Ort bleiben sollten. Das ist mindestens verwirrend, wenn europäische Werte propagiert werden, dann aber den Ansichten eines US-Amerikaners zugejubelt wird. Dass es hier große Differenzen gibt - Krankenversicherung als ein Beispiel - wird ignoriert.
Martin Waltinger schreibt:
"Mehr und mehr läuft weltweit das Wahlvolk rechtspopulistischen Rattenfängern hinterher. [...] Pöbler, Demokratiegegner und Antihumanisten wie Pegida und die AfD in Deutschland und ihre Pendants in den Industrienationen haben massiv Zulauf... Man möchte diesen Menschen weltweit zurufen: 'Leute, ihr habt ein Hirn im Kopf. Benutzt es!'"
Rechtspopulisten sind derzeit en vogue, weil sie eine heile Welt von gestern für das Morgen versprechen oder weil sie die eigenen Leute vor den Fremden zu schützen vorgeben. In Südamerika beispielsweise können auch Linkspopulisten Erfolge verbuchen. Den Populisten gelingt es immerhin, Nichtwähler zu aktivieren - ein demokratisches Plus. Aber: die Leute sollten sich nicht von der Oberfläche der Populisten blenden lassen, sie sollten nicht jeder einfachen Lösung hinterher laufen. Sie müssen unter die Oberfläche schauen, sie müssen die Qualität der Lösungen am Kern ihrer Werte und den Wirkungen bemessen. Beispiel Freihandel: Was nützt es, billig im Ausland hergestellte Produkte zu verbieten, wenn sie im Inland hergestellt deutlich teurer würden? Was nützt es, im Inland Produkte herstellen zu wollen, wenn es im Inland keine Arbeiter gibt, die sie herstellen wollen oder können? Ist es fair, im Ausland Arbeitsplätze zu vernichten, weil man die Produkte nicht mehr importieren möchte? Ist es fair, im Ausland zu produzieren, weil dort die Umweltvorschriften nicht so streng sind? Wem nützt es, wenn inländische Jugendliche laufend ihr Selbst ausdrücken können, indem sie in ausländischen Handelsketten billigst hergestellte Kleidung günstig kaufen können? Wer freut sich über günstiges Schweinefleisch, für das Soja aus Brasilien verfüttert wird? Als ob es für diese und weitere Fragen in diesem Zusammenhang nur die eine Antwort "Weg mit dem Freihandel" gäbe.
Die Wahl zeigt vor allem, dass es notwendig ist, sich auf den Wert der Demokratie zu besinnen und sich das gerechte und faire Miteinander in der Demokratie bewusst zu machen. Sonst begraben wir, was wir bewahren wollten.

Dienstag, 8. November 2016

Bescheuertes verschleiert

Die Augsburger Allgemeine hat am 8.11. einen Beitrag von Michael Stifter zur Talkshow von Anne Will veröffentlicht, in der Nora Illi verschleiert IS-Propaganda machen konnte:

 

Michael Stifter schreibt:
"Nora Illi nutzt ihre Bühne. Vollverschleiert und unverhohlen macht sie Propaganda für den Islamischen Staat. Zur besten Sendezeit, im öffentlich-rechtlichen Fernsehen. [...] Am Ende fragen sich viele Zuschauer zu Recht, wie das passieren konnte."
Diese Frage muss gestellt werden. Denn Nora Illi saß im Studio und breitete ihre krude Weltsicht aus:
"Islam hat die Frau ganz viele Rechte und viele Möglichkeiten, sich auszuleben [...] Wir müssen diesen Spagat, dem andere Frauen häufig ausgesetzt sind, zwischen Familien-Frau und Karriere-Frau weniger machen."
"... Verständnis für junge Menschen äußert, die im 'gelobten Syrien für Gerechtigkeit' kämpfen und ihnen auch noch 'Zivilcourage' bescheinigt ..."
"... Krieg in Syrien als 'bitterharte Langzeitprüfung mit ständigen Hochs und Tiefs' bezeichnet"
Diesem Schwadronieren wurde kaum etwas entgegen gesetzt. Michael Schreiner führt aus, Anne Will sei die Sendung entglitten, von einigen Teilnehmern kamen vereinzelte Entgegnungen. Michael Stifter schließt:
"Wer die Schlächter des Islamischen Staates so systematisch verharmlost, wie Illi das tut, darf keine solche Bühne im deutschen Fernsehen bekommen."
Einfach ausschließen sollte man solche Leute nicht. Denn wo soll die Grenze gezogen werden? Klarerweise dann, wenn die Äußerungen staatsanwaltlich zu verfolgen sind. Und vorher? Soll auch Höcke nicht mehr eingeladen werden, wenn er Böcke schießt oder von Storch den Vogel ab? H.-C. Strache von der FPÖ in Österreich fabuliert von Bürgerkrieg wegen der Flüchtlinge und der Migration. Reicht das, um ihn nicht mehr in Talkshows einzuladen? Die blödsinnigen Sprüche sind ja nicht weg, nur weil die Lautsprecher nicht mehr in Talkshows eingeladen werden. Im Gegenteil: Sie werden dann auf Webseiten, auf Facebook und in anderen Medien eine Möglichkeit finden, um ihren Sumpf loszuwerden. Dort wird er unwidersprochen stehenbleiben. Den Weg weist Michael Schreiner:
"Aber dann darf man deren Thesen nicht so unwidersprochen stehen lassen, wie die Moderatorin das an diesem Abend zum Teil tut."
Nicht nur die Moderatorin: Man muss auch Gäste einladen, die rhetorisch in der Lage sind, der Propaganda und Verharmlosung Paroli zu bieten und nicht nur solche, die mit dem Thema Berührungspunkte haben und die teilweise - verständlicherweise - emotional nicht in der Lage sind, den abgebrühten Irrsinn in die Schranken zu weisen. Höcke, Petry, Illi und Konsorten werden sich nicht umstimmen lassen in Talkshows. Es verursacht Ohrenschmerz, ihnen zuzuhören und Hirnschmerz, ihren Argumenten zu folgen. Aber man kann die Schwäche ihrer "Argumente" aufzeigen. Die Gelegenheit sollte genutzt werden.

Freitag, 4. November 2016

Dobrindt schafft es

Die Augsburger Allgemeine berichtet am 4.11. darüber, dass die EU-Kommission den Widerstand gegen die PKW-Maut in Deutschland aufgeben will. Joachim Bomhard kommentiert:


Joachim Bomhard schreibt
"Dass die deutsche Pkw-Maut gegen alle Widerstände kommen würde, haben zuletzt nicht mehr viele geglaubt. Der Zuversicht von Verkehrsminister Alexander Dobrindt hat das nicht geschadet. Vielmehr hat der CSU-Politiker mit den Hauptwidersachern in der EU-Spitze, die mit einigem Recht eine drohende einseitige Benachteiligung ausländischer Nutzer deutscher Straßen ins Feld geführt haben, verhandelt und verhandelt, damit sein Lieblingsprojekt nicht an der europäischen Rechtsprechung scheitert."
Wie nachhaltig die Bedenken der Kommission waren, zeigt eine Pressemitteilung vom 29. September 2016, in der es heißt:
"The European Commission has decided to refer Germany to the Court of Justice of the EU regarding the plan of the German authorities to introduce a road charging scheme for private vehicles (PKW-Maut) which, according to the Commission, is discriminatory.
The German legislation grants vehicles registered in Germany the benefit of a 1:1 deduction of the road charge from their annual vehicle tax bill. This would lead to a 'de facto' exemption from the charge exclusively for the cars registered in Germany."
Daraus lässt sich ableiten, wo die Lösung liegen wird: Eben nicht mehr in einer 1:1-Entlastung über die KFZ-Steuer. Es wird zu einer Änderung der KFZ-Besteuerung kommen, die zu anderen Entlastungsbeträgen führen wird als die Belastung durch die Maut. Im Bericht in der AZ steht dazu:
"Die volle Entlastung, so heißt es aus den Verhandlungskreisen, dürften deshalb wohl nur jene bekommen, die ein umweltfreundliches Fahrzeug fahren, das keine oder nur geringe Schadstoffmengen ausstößt [...]"
Und weiter heißt es:
"Dieser Trick macht aus der zunächst geplanten direkten Kompensation ein Fördermodell von umweltschonenden Gefährten."
Trick, das ist untertrieben. Denn im Koalitionsvertrag wurde in der Präambel auf Seite 9 vereinbart:
"Diesem Ziel dient auch eine Ausweitung der LKW-Maut sowie eine europarechtskonforme PKW-Maut, mit der wir Halter von nicht in Deutschland zugelassenen PKW an der Finanzierung zusätzlicher Ausgaben für das Autobahnnetz beteiligen wollen, ohne im Inland zugelassene Fahrzeuge höher als heute zu belasten."
Auf Seite 40 des Vertrages wird ausgeführt:
"Zur zusätzlichen Finanzierung des Erhalts und des Ausbaus unseres Autobahnnetzes werden wir einen angemessenen Beitrag der Halter von nicht in Deutschland zu-gelassenen PKW erheben (Vignette) mit der Maßgabe, dass kein Fahrzeughalter in Deutschland stärker belastet wird als heute. Die Ausgestaltung wird EU-rechtskonform erfolgen. Ein entsprechendes Gesetz soll im Verlauf des Jahres 2014 verabschiedet werden."
Wenn es nun tatsächlich zu einer Einigung mit der EU kommt über die stärkere Berücksichtigung der Umweltfreundlichkeit der PKW, wird genau zu beobachten sein, ob dabei gegen den Koalitionsvertrag verstoßen werden wird. Wahrscheinlich wird dies das Opfer sein, das gebracht wird, damit Dobrindt das schafft, was Joachim Bomhard so kommentiert:
"Auch wenn die endgültige Einigung [...] aussteht, kann Dobrindt pünktlich zum CSU-Parteitag zumindest vorläufig Vollzug melden."
Hauptsache Vollzug, Wahlversprechen und Koalitionsvertrag hin oder her.

Mittwoch, 2. November 2016

Digitaler Kampf um Wahlen

Jürgen Marks hat in der Augsburger Allgemeinen vom 2.11. einen Leitartikel zur Digitalisierung des Wahlkampfes veröffentlicht:


Jürgen Marks schreibt:
"Wahlkampf war früher eine überschaubare Veranstaltung. [...] Heute ergänzt der immer wuchtigere digitale Wahlkampf die Auseinandersetzung."
Der Wahlkampf geht mit der Zeit. So wie sich das Miteinander ändert und sich neue Kommunikationswege auftun, so wird sich auch der Wahlkampf ändern. Was früher Plakate und Marktplatzstände waren, wurde zu Websites und sind heute Facebook-Auftritte, Twitter-Kanäle, Videobotschaften und Podcasts. Das ist noch nicht der Rückschlag für die politische Kultur. Der Rückschlag ist die Wuchtigkeit der Auseinandersetzung, wie Jürgen Marks schreibt:
"Bislang wird die Diskussion vor allem durch die Hasskommentare bestimmt."
Hasskommentare sind vielleicht und bis an bestimmte Grenzen von der Rede- und Meinungsfreiheit gedeckt. Viele Hasskommentare befinden sich jenseits dieser Grenzen: sie beleidigen, diskriminieren oder rufen zur Gewalt auf. Das hat nichts mehr mit Meinungsfreiheit zu tun, das hat nichts mit politischer Auseinandersetzung zu tun und es hat gar nichts mit Demokratie zu tun. Wer glaubt, mit Hasskommentaren seine berechtigte demokratische Beteiligung an der Politik leben zu können, irrt.
Jürgen Marks schreibt zu den digitalen Werkzeugen im Wahlkampf:
"Im aktuellen amerikanischen Präsidentschafts-Wahlkampf haben beide Kandidaten den Waffenschrank mit neuester Software ausgestattet. Das hinterlistigste Kaliber sind dabei sogenannte 'Social Bots'. Das sind kleine Software-Roboter, die sich automatisch bei Twitter und Facebook zu Wort melden. Kein Nutzer kann diese getürkten Meldungen und Profile von tatsächlichen Meinungen realer Menschen unterscheiden."
Was als "kleine Software-Roboter" bezeichnet wird, sind mit künstlicher Intelligenz ausgestattete Mechanismen, die nach einer Lernphase an Hand echter Äußerungen von Personen neue synthetische Äußerungen generieren können, die wie die originalen Personen klingen. Ein schönes Beispiel - wenn "schön" der passende Begriff ist - ist DeepDrumpf, über das ich Mitte Oktober geschrieben hatte. Jürgen Marks schreibt:
"Mit diesen digitalen Helfern, die in den Wahlkampfzentralen programmiert wurden, versuchen beide Lager, die Stimmung zu manipulieren. Das ist massenhafte Wählertäuschung."
"Doch die eigentliche Gefahr geht auch in Deutschland von den 'Social Bots' aus."
Dazu sind ein paar Ergänzungen nötig. Ein Social-Bot ist noch keine Wählertäuschung, wenn er die Inhalte transportiert, die auch die Originalperson transportiert hätte. Denn sonst müsste jeder Facebook- oder Twitter-Account eines hochrangigen Politikers als Täuschung gelten, bei dem Assistenten die Inhalte schreiben. Würde der Bot Inhalte verfälschen, sollte sich weniger der Wähler getäuscht fühlen als der Politiker sich fragen, ob er die richtigen Werkzeuge einsetzt.
Demokratisch bedenklicher ist, dass es in sozialen Netzen nur gefilterte Informationen gibt. Wo der Wähler früher an Wahlplakaten des politischen Gegners vorbeigeschlendert ist und deren Äußerungen zumindest am Rande mitbekommen hatte, kann sich der Wähler heute in einem einheitlichen Biotop aufhalten. In diese Filterblase dringt der politische Gegner nicht mehr ein, weil er nicht zum Freundeskreis gehört und auch nicht zu den aus Big Data abgeleiteten Interessen. Doch wie soll ein demokratischer Diskurs stattfinden, wenn die Positionen der Diskursteilnehmer nicht bekannt und damit diskutierbar sind? Wer die Inhalte der Filterblase verfasst hat, ist nachrangig.
Jürgen Marks schreibt zur Gefahr für Deutschland, die von den Bots ausgeht:
"Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das [die Gefahr, Anm.] erkannt und kürzlich einen Verzicht auf die Roboter vorgeschlagen. Fast alle Parteien stimmten zu. Mit einer Ausnahme: Die AfD will auf diese schmutzige Waffe setzen. Für einen fairen Wettstreit ist das keine gute Voraussetzung."
Klar will die AfD die Waffe einsetzen, weil sie die Kanäle der Online-Welt intensiver nutzt als die anderen Parteien und bei ihrer Klientel auf offenere Ohren stößt. Unfair ist das nicht, denn es zeigt den Rückstand der anderen Parteien bei der Online-Kommunikation. Jürgen Marks schreibt weiter:
"Denn es wäre unerträglich, wenn uns diese kranke Welt des digitalen Wahlkampfs tatsächlich erreichen würde und irgendwelche Polit-Automaten versuchen, die demokratische Willensbildung zu manipulieren."
Wir werden uns darauf einstellen müssen, ob wir es für unerträglich halten oder nicht. Das wird sich so wenig aufhalten lassen wie Putins Desinformation über Russia Today. Demokratie wird anstrengender, weil viel mehr Sand und Müll vom Gold gewaschen werden muss. Was technisch als geringe Hürde für das Mitmachen erscheint - jede Kundgabe ist nur einen Like-Mausklick entfernt - ist tatsächlich eine hohe geistige Hürde. Demokraten sollten diese Aufgabe aktiv angehen und sich nicht dem unvermeidlichen verweigern.

Chinas Einkaufstour

In der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen vom 2.11. hat Stefan Stahl einen Bericht zum Besuch des Wirtschaftsministers Siegmar Gabriel in China kommentiert:


Hintergrund ist, dass China einerseits nicht mehr nur Werkbank sein will und deshalb zukunftsträchtige Unternehmen aufkauft, andererseits jedoch in China selbst nicht so großzügig umgeht mit den Investitionswünschen von Ausländern. Stefan Stahl nennt das zu Recht fehlende Waffengleichheit.
Es ist auch richtig, wenn die Politik hier den Finger in die Wunde legt. Schade nur, dass dies erst jetzt geschieht, als China in Deutschland auf Einkaufstour geht. Als vor Jahren China begann, im großen Stile Land zu kaufen, wie beispielsweise das Handelsblatt berichtet hatte, war das politische Interesse wesentlich geringer. Schade.