Sonntag, 25. September 2016

Mit Machtkalkül zum Sieg der AfD

Am 24.9. hat die Augsburger Allgemeine einen Leitartikel von Walter Roller veröffentlicht zum Streit in der Union:


Walter Roller schreibt:
"Noch ist nicht klar, wie sich der mit scharfen CSU-Attacken angeheizte Großkonflikt ohne Sieger und Verlierer beilegen lässt. Aber es sieht nun immerhin so aus, als ob das schiere Machtkalkül eine Wiederannäherung bewirken könnte."
Der Streit innerhalb der Union ist ein Großkonflikt, weil er - angeheizt durch die CSU - kaum noch Raum lässt für die Wahrnehmung anderer Politikfelder als die Flüchtlingspolitik. Die CSU hat nicht die Flüchtlingspolitik zum dominanten Thema gemacht, aber sie ist auf diesen Zug aufgesprungen. Mit der AfD als Lokführer ist der Zug nun schneller und unlenkbarer unterwegs, als es der Union lieb ist. Seehofer gibt den Heizer.
Walter Roller schreibt:
"Weder der im Niedergang befindlichen CDU noch der um die Macht in Bayern bangenden CSU kann ja an einer Fortführung der selbstzerstörerischen Fehde oder gar an einem Ende der Union gelegen sein."
Eine Fortführung der Fehde macht keinen Sinn, richtig. Allerdings: die Union als ein in die Unendlichkeit existentes Gebilde zu sehen, ist zu eng. Denn warum sollen die beiden Parteien sich nicht auseinanderleben, wenn sich ihre politischen Inhalte und Ansichten zunehmend unterscheiden? Das wäre zumindest konsequent. Andererseits wird das "schiere Machtkalkül" dafür sorgen, dass eine Scheidung nicht unmittelbar bevor steht.
Walter Roller schreibt über die Ursachen:
"Der Schwächeanfall der CDU ist - wie die Krise der SPD - nicht nur der von einer Mehrheit des Volkes abgelehnten Flüchtlingspolitik geschuldet. Der Erosionsprozess dieser Volksparteien hat sich seit Jahren angekündigt und hat - wie in ganz Europa - auch mit dem Frust über die politische Klasse und der Verunsicherung infolge der rasanten Globalisierung zu tun."
Richtig, die nachlassende Wählerzustimmung ist ein Prozess, der seit Jahren in Gang ist. Allerdings stehen die von Walter Roller genannten Gründe Flüchtlingspolitik, Frust über die politische Klasse und Globalisierungsängste nicht nebeneinander. Die Globalisierung sorgt für mehr Wettbewerb, mehr Akteure, neue Märkte. Mit Smartphone und Internet für alle werden neue Geschäftsmodelle möglich. Mit der Digitalisierung der Fertigung werden Abläufe automatisierbar, für die früher Hände gebraucht wurden. Fähigkeiten, die bisher gefragt waren, werden weniger nachgefragt. Lebensentwürfe wanken, Zukunftsängste entstehen. Manch einer träumt von einem Früher, in dem alles besser war.
Mit der Europäischen Union und dem Zusammenwachsen der einzelnen Länder in Europa hat sich ein Gebilde entwickelt, das zum Symbol werden konnte. Symbol für die Globalisierung, weil die Verzahnung zwischen Ländern enger wird. Symbol für die Abgehobenheit politischer Eliten, weil sie dem Zusammenwachsen das Wort redeten und weil sie sich an manchen Stellen ungeschickt verhalten haben. Jeder schimpft auf Europa, weil es sich um die Gurkenkrümmung kümmert, nicht um den kleinen Mann. Erstens haben diese beiden Dinge nichts miteinander zu tun und zweitens wollten wirtschaftliche Akteure in der EU eine Vorschrift zur Gurkenkrümmung. Die AfD war in ihren Anfängen eine europakritische Partei, sie gab der Europaskepsis Stimme und Gesicht.
Mit der Flüchtlingspolitik entstand nun ein weiteres Feld, das weltpolitische Vorgänge nach Deutschland spülte. Die AfD erkannte rasch, welches Potential hier schlummert.
Walter Roller behauptet:
"Merkel ist die Kontrolle über die Masseneinwanderung entglitten."
Nein. Die Politik hat trotz der sich klar abzeichnenden Entwicklungen im Nahen Osten und in Afrika nicht rechtzeitig Vorsorge getroffen. Weder wurde ein wirksames Mittel entwickelt, um Schleppern das Handwerk zu legen. Noch wurde Europa darauf vorbereitet, europäische Werte trotz aufwühlender Konflikte in der Nachbarschaft hoch zu halten. Und was heißt "Masseneinwanderung"? Es kamen keine Einwanderer. Es kamen Asylantragsteller. Manche stellten den Antrag erfolgreich, andere nicht. Es waren Antragsteller dabei, denen die Aussichtslosigkeit des Antrages hätte klar sein können. Dennoch passt die Vokabel "Masseneinwanderung" nicht.
Walter Roller behauptet:
"Die von einem hohen moralischen Podest herab exerzierte, die Spaltung der Gesellschaft in Kauf nehmende Politik der offenen Grenzen mit all ihren Risiken hat den Menschen mehr zugemutet, als sie an Veränderung und Unsicherheit ertragen können."
Was heißt "von einem hohen moralischen Podest herab"? Warum spaltet er? Die da oben, auf dem Podest, moralisch überhöht. Die da unten, die es nicht mehr ertragen können.
Walter Roller fragt:
"Ob es genügt, um das Vertrauen verunsicherter, von sehr realen Ängsten geplagten Wählern zurückzugewinnen? Nein. Dazu bedarf es schon eines glasklaren Signals dafür, dass Merkel verstanden hat und tatsächlich bereit ist, ihren Kurs in Einklang zu bringen mit der begrenzten Aufnahme- und Integrationskraft des Landes."
Was heißt "reale Ängste"? Islamisierung des Abendlandes? Schweinefleischverbot? Was heißt "begrenzte Aufnahme- und Integrationskraft"? Natürlich, wer sich so wie Walter Roller gegen die Flüchtlingspolitik stemmt, hat keine Kraft mehr für die Aufnahme und Integration. Er schafft es nur noch zu Allgemeinplätzen:
"Auch das Asylrecht verpflichtet nicht dazu, die Tür für alle offen zu halten."
Ja, selbstverständlich. Eine Unterscheidung in Asyl und reguläre Zuwanderung wäre allerdings hilfreich und würde eine ernsthafte Diskussion ermöglichen. Wer nur von Obergrenze, begrenzter Aufnahmekapazität, vom Untergang der Kultur fabuliert, ist bereits auf die AfD hereingefallen. Denn die sieht auch nur im Dichtmachen die Lösung. Das braucht kein Europa, das ist Nationalstaat par excellence. Die harte Kante liest sich so:
"Wo die 'Obergrenze' liegt, muss ausgehandelt werden. Entscheidend ist, dass angesichts bevorstehender neuer Migrationswellen der Wille zur Begrenzung erkennbar und Vorsorge getroffen wird."
Doch Vorsicht bei der Verhandlung der Lage der Obergrenze. Wenn sie bei von der CSU geforderten 200 000 liegt, wird es nur 400 Jahre dauern, bis in Deutschland doppelt so viele Menschen leben wie heute! Realangst Überforderung! Realangst Untergang des Abendlandes!
Angesichts bevorstehender neuer Migrationswellen empfehle ich beispielsweise die Lektüre des Aufsatzes von Georg Soros auf Project Syndicate:
"First, the EU must take in a substantial number of refugees directly from front-line countries in a secure and orderly manner. This would be far more acceptable to the public than the current disorder. [...]
Second, the EU must regain control of its borders. There is little that alienates and scares publics more than scenes of chaos.
Third, the EU needs to find sufficient funds to finance a comprehensive migration policy. [...]
Fourth, the EU must build common mechanisms for protecting borders, determining asylum claims, and relocating refugees. A single European asylum process would remove the incentives for asylum shopping and rebuild trust among member states.
Fifth, a voluntary matching mechanism for relocating refugees is needed. [...]
Sixth, the EU must offer far greater support to countries that host refugees, and it must be more generous in its approach to Africa. [...]
The final pillar is the eventual creation of a welcoming environment for economic migrants. [...]"
Das liest sich als stimmiges Gesamtkonzept, das sich an den europäischen Werten orientiert, nur gemeinsam umgesetzt werden kann und wirksam erscheint, ohne bloß auf die Symptome zu schielen.
Walter Roller wagt eine Prognose:
"Wenn Merkel diesen Schritt tut und Seehofer sein 200 000er-Dogma zum Richtwert ummünzt, dann sollte sich die Union auf einen Kurs verständigen können."
Mag sein, dass dies zu einem gemeinsamen Kurs führt, geboren aus Machtkalkül. Aber es wäre nicht ohne Sieger und Verlierer. Verloren hätten europäische Werte, gewonnen hätte die AfD. Und Walter Roller merkt es nicht.

Mittwoch, 21. September 2016

Die leitende Kultur der CSU

In der Augsburger Allgemeinen berichtet Uli Bachmeier am 21.9. über eine Umfrage im Auftrag der CSU:


Die CSU sehe sich "in der Debatte um die Flüchtlingspolitik durch eine Umfrage bestätigt". Die CSU selbst hat in einem "Topaktuell" Details zu den Ergebnissen geliefert:
"Die Bevölkerung weist der CSU mit großem Abstand die höchste Kompetenz bei Sicherheit und Ordnung zu und bestätigt unsere Positionen mit hoher Zustimmung:
87 % der Bevölkerung sprechen sich für die Leitkultur als Maßstab bei der Integration aus. 67 % wollen die Leitkultur in der Bayerischen Verfassung verankern.
62 % erachten die Einführung einer Obergrenze von 200.000 als notwendig.
81 % sind gegen die Verschleierung von Frauen mit einer Burka.
98 % erwarten von Migranten, dass sie die deutsche Sprache lernen.
75 % sind gegen den Verzicht von Schweinfleisch in Schulen, Kantinen und Kitas.
69 % erachten den Schutz der deutschen Binnengrenzen als notwendig.
72 % wollen den Einsatz der Bundeswehr im Inneren bei akuter Bedrohungslage und zur Grenzsicherung."
Das klingt beeindruckend. Allerdings lässt sich die Güte der Ergebnisse nicht bewerten, da die Fragestellungen dazu nicht bekannt sind. Auf der Seite der CSU finden sich diese ebenso wenig wie auf der Seite des Umfrageinstituts "policy matters". Die Zusammenstellung der Fragen ist schon beeindruckend, das ist eine wirklich - oder wirrklich? - interessante Mischung: Schweinefleisch und Leitkultur, Bundeswehr und Burka. Spracherwerb ist klarerweise notwendig. Eine Akzeptanz der hiesigen Gepflogenheiten auch, wobei eine vollständige Übernahme der hiesigen Leitkultur übertrieben ist. Denn das führt zu dem, was Nicolas Sarkozy nach einem Bericht der Print-AZ gesagt hat:
"Wir geben uns nicht mehr mit einer Integration zufrieden, die nicht funktioniert, wir verlangen die Assimilation. Sobald jemand Franzose wird, sind die Gallier seine Vorfahren."
Da hoffe ich doch auf wilden Protest der Hüter der deutschen Leitkultur! Neue Vorfahren durch neue Staatsbürgerschaft, das geht gar nicht.
Trotz der Fragwürdigkeit der Ergebnisdarstellung und der Unklarheit bezüglich der Fragestellungen schlussfolgert die CSU in dem "Topaktuell":
"Humanität: Wir haben von Anfang an Humanität bewiesen. Parteichef Seehofer betonte: 'Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus haben in der CSU keinen Platz.'"
Gut so. Aber ein bisschen an der Islam- und Identitätsangst schüren geht immer. Drum auch die Leitkultur betonen, das Schweinefleisch nicht verbieten lassen. Darüber muss man sich aber nicht wundern, wenn man die Highlights von Horst Seehofers Spiegel-Interview auf der CSU-Seite liest:
"Der CSU-Chef verwies beim Thema Asyl auf die bestehende Rechtslage und bekräftigte, dass eine Obergrenze mit dem Grundgesetz vereinbar wäre: 'Dass jeder, der an der Grenze erscheint und Asyl begehrt, aufgenommen werden muss, entspricht nicht unserer Verfassungslage. Und wenn jemand aus einem sicheren Herkunftsstaat kommt, können wir ihn umgehend zurückführen.' Seehofer: 'Die Obergrenze würde funktionieren, im Einklang mit dem Grundgesetz.'"
Das nenne ich schlagende Logik: Weil nicht jeder, der Asyl begehrt, auch aufgenommen werden muss (richtig, nicht jedem Antrag wird stattgegeben), funktioniert die Obergrenze. Klar, wenn mit erreichen der Obergrenze nur noch Bewerber aus sicheren Herkunftsstaaten kommen. Ich bin gespannt, wie Horst Seehofer das organisiert. Respekt vorab.

Dienstag, 20. September 2016

Merkel erklärt sich

Die Augsburger Allgemeine hat am 20.9. einen Leitartikel von Walter Roller zu den Wahlergebnissen der CDU veröffentlicht:


Walter Roller beschreibt zutreffend das Wahljahr 2016:
"Die CDU ist die große Verliererin des Wahljahres 2016. Sie hat fünf Landtagswahlen mit Pauken und Trompeten verloren. Die einst große, stolze Volkspartei CDU ist im Sinkflug; die Wähler laufen ihr in Scharen davon. Auch die SPD hat überall massive Stimmenverluste erlitten und steckt bundesweit im Dauertief. Doch die Soziademokratie hat es 2016 immerhin geschafft, ihre Machtposition in den Ländern zu behaupten. Die SPD ist an 13 von 16 Regierungen beteiligt, die Union nur noch an sieben."
Nutznießer ist die AfD. Walter Roller weißt auf den Haupttreiber dieser Entwicklung hin:
"Aber es besteht kein Zweifel daran, dass die Niederlagen der CDU in erster Linie mit der Flüchtlingspolitik Merkels und den dadurch ausgelösten Vertrauenseinbußen zu tun haben. Der staatliche Kontrollverlust im Zuge der Masseneinwanderung war Wasser auf die Mühlen der rechtspopulistischen AfD, die nun in zehn Parlamenten sitzt und den Protest kanalisiert."
Die AfD kanalisiert einen Protest, der die Flüchtlinge als Kristallisationspunkt missbraucht. In der gleichen Ausgabe der AZ wird über die Aussagen Merkels berichtet, mit denen sie ihre bisherige Politik bewertet. In diesem Bericht wird in der Printausgabe eine Grafik gezeigt zu Ansichten von allen Wählern und von Wählern der AfD im Besonderen:


83% der AfD-Wähler haben Angst vor der Anzahl der Flüchtlinge und ebenfalls 83% sind der Meinung, für die Flüchtlinge würde mehr getan als für die einheimische Bevölkerung. Bei der FPÖ, dem großen Vorbild der AfD, tönte es Anfang 2016 so:
"Wenn Sozialminister Stöger sein Amt als 'Lebensaufgabe' sehe und es sein Ziel sei, dass in seiner Amtszeit die Arbeitslosigkeit sinken solle, dann müsse er sofort an die Arbeit gehen und sich in erster Linie um die Österreicher kümmern. 'Die eigenen Leute müssen nun im Fokus seiner Ministertätigkeit stehen und daher braucht es in Bälde einen Plan, wie Österreichs Sozialsystem und der Arbeitsmarkt vor dem Ansturm an Asylwerbern geschützt werden kann – das ist gleich einmal die erste Hausaufgabe, die der neue Sozialminister in den nächsten Wochen erledigen muss', forderte der FPÖ-Sozialsprecher."
Es geht vor allem um die Angst, die Flüchtlinge würden etwas bekommen, was eigentlich den eigenen Leuten, den Einheimischen zustünde. Interessant in diesem Zusammenhang ist der zweite Teil der Grafik: 72% der Wechsler zur AfD gaben an, dies wegen der Flüchtlinge getan zu haben und 28% wegen der sozialen Gerechtigkeit. Wenn es wirklich um die-Flüchtlinge-nehmen-mir-etwas ginge, wäre da nicht die soziale Gerechtigkeit das lohnendere Thema? Das ist in etwa so, als ob man zur Anti-TTIP-Demo führe und dort mit dem in Asien hergestellten Smartphone eines amerikanischen Herstellers Selfies macht, die über in den USA entwickelte soziale Medien weltweit verbreitet werden. Es verfestigt sich der Eindruck, dass die Flüchtlinge als willkommene Projektionsfläche für alles Mögliche herhalten müssen. Die AfD poliert diese Fläche mit Inbrunst und offensichtlichem Erfolg. Die CSU greift teilweise auch schon in die (FPÖ)Trickkiste. Andreas Scheuer fabuliert von Senegalesen, die man nicht mehr loswerde und zieht damit den Unmut auf sich, was ihn dazu bringt, von einem Missverständnis zu reden. Aber gesagt wurde es und damit der Eindruck vermittelt, die CSU stünde für die harte Linie.
Walter Roller schreibt:
"Angela Merkel hat einen beträchtlichen Teil der konservativen Stammkundschaft vergrault und läuft Gefahr, auf Dauer mehr Wähler zu verlieren, als sie in der Mitte hinzugewinnen kann."
Da taucht die Frage auf, ob Merkel die CDU mehr in die Mitte geführt hat. Oder ob die Wähleransichten mehr zu den Extremen, zu den Rändern tendieren als früher. Manche Politik Merkels ist ein Indiz für ihre Bewegung zur Mitte. Andererseits gibt es tatsächlich einen Wandel in den Ansichten der Wähler hin zu den Rändern, der zum Teil verständlich (Beispiel: Sylvester in Köln), zum Teil populistisch angetrieben ist.
Walter Roller schlussfolgert:
"Merkels kämpferischer Auftritt nach dem Berlin-Desaster lässt drei Schlussfolgerungen zu. Erstens: Die Kanzlerin will es 2017 noch einmal wissen. Zweitens: Sie will ihre Flüchtlingspolitik fortan besser erklären. Drittens: Sie scheint nun bereit, das von der CSU geforderte 'Signal' für eine nachhaltige Begrenzung und Steuerung der Zuwanderung zu liefern."
Die zweite Schlussfolgerung, nach der Merkel ihre Politik besser erklären will, ergibt sich auch aus der Rede Merkels. Das ist sicher nötig und wird schwierig werden, weil diese Erklärungen naturgemäß leisere Töne sein werden als das Geschrei der AfD und der CSU. Schwierig zudem, weil Erklärungen eher auf den Kopf zielen, die AfD vor allem auf den Bauch. Sich Gehör zu verschaffen mit ihren Erklärungen wird für Merkel eine große Herausforderung werden.
Die dritte Schlussfolgerung, nach der Merkel bereit zu sein scheint für ein Signal an die CSU, wird genau zu beobachten sein. Weniger auf der Seite der Senderin, mehr auf der Seite der Empfänger. Die Empfänger scheinen taub zu sein, sofern im Signal nicht das Wort "Obergrenze" vorkommt. Diese Taubheit verhindert wahrscheinlich auch die Wahrnehmung der rechtlichen, menschenrechtlichen und moralischen Grenzen dieser Forderung. Wo viele eine Sturheit Merkels sehen, sehe ich vor allem eine Weigerung, der vermeintlichen Themenführerschaft der AfD zu folgen. Dass das nichts bringt, haben die letzten Wahlen gezeigt, bei denen die AfD trotzdem erfolgreich war. Es täte auch der CSU gut, nicht auf die AfD herein zu fallen. Die Wiener SPD war im letzten Wahlkampf genau deshalb erfolgreich, weil der Oberbürgermeister Häupl sich klar von der FPÖ und ihren Forderungen distanziert hat. So geht klare Kante, nicht in einer vermeintlich harten Linie gegen Flüchtlinge und Asylbewerber.

Samstag, 17. September 2016

Sicherheit für Europa

Die Augsburger Allgemeine hat am 16.9. einen Leitartikel von Walter Roller veröffentlicht zur Sicherheit in Europa:


Walter Roller schreibt viel grundsätzlich Richtiges:
"Unter den vor Verfolgung, Krieg und Armut fliehenden Menschenmassen befanden sich eben auch Kriminelle, islamistische Fanatiker und Gewalttäter, die im Auftrag der Terrormiliz 'Islamistischerer Staat' (IS) gekommen sind.
[...] Es ist wichtig, gegenüber der verunsicherten Bevölkerung immer wieder darauf hinzuweisen, dass die allermeisten muslimischen Flüchtlinge weder mit dem Islamismus sympathisieren noch potentielle Gewalttäter sind."
Besonders freut mich seine Einordnung:
"Niemand, der bei Verstand ist, stellt die Muslime unter 'Generalverdacht'."
Das sollten sich vor allem diejenigen zu Herzen nehmen aus der "verunsicherten Bevölkerung", die hinter jedem Bart, jedem Kopftuch, jeder Mosche eine Terrorgefahr oder den Untergang des Abendlandes sehen. Denn - wie Walter Roller schreibt - solches ist ohne Verstand.
Auch richtig, wenn Walter Roller fordert:
"Aber sie (die Sicherheitsbehörden, Anm.) benötigen hierzu mehr Personal und die Bereitschaft des Gesetzgebers, den Datenaustausch und die Kontrolle der elektronischen Kommunikation zu verbessern. Recht und Moral setzen den Handeln des Rechtsstaats Grenzen."
Selbstverständlich müssen Sicherheitsbehörden Informationen austauschen, um die Sicherheit zu gewährleisten. Der Rechtsstaat muss jedoch auf die Balance zwischen Recht und Moral achten. Insbesondere da der Rechtsstaat selbst rechtsetzend ist, gilt es genau zu schauen, welches Recht sich der Rechtsstaat selbst gibt. Bei der "Kontrolle der elektronischen Kommunikation" kommt der Rechtsstaat schnell an einen Punkt, wo zu viel Recht und zu wenig Moral zum Tragen kommt, wie die Frage von Michael Stifter Anfang des Jahres zeigte.
Ganz dick zu unterstreichen ist Walter Rollers Forderung:
"Der Abwehrkampf gegen den Terror ist nur zu bestehen, wenn ganz Europa fest zusammensteht. Die EU ist in einem erbärmlichen Zustand und hat in der Flüchtlingskrise versagt. Es wäre fatal, wenn sich die Staaten nicht wenigstens in der Frage der inneren Sicherheit zusammenraufen könnten. Handfeste Beschlüsse zur engeren Kooperation und zum wirksamen Schutz der EU-Außengrenzen sind das Mindeste, was man vom Bratislava-Gipfel erwarten darf.
Kommt keine Einigung auf diesem kleinsten gemeinsamen Nenner zustande, dann ist es um die Handlungsfähigkeit und die Zukunft der EU tatsächlich schlecht bestellt."
Ich fürchte, die Erwartung wird enttäuscht werden. Nach Brexit und der Frage der Verteilung von Flüchtlingen wird es in Bratislava zuerst darum gehen, überhaupt zu zeigen, dass es so etwas wie Europa noch gibt. Dennoch ist es nötig, zusammen zu stehen. Denn die Attentate der letzten Monate zeigten, dass die Attentäter über Ländergrenzen hinweg agieren. Und: Grenzkontrollen in der EU helfen wenig, wie die jüngsten Verhaftungen zeigen. Die relevanten Hinweise kamen von anderen Geheimdiensten und Behörden. Die Personen wurden nicht verhaftet, weil sie an der Grenze bei einer Kontrolle aufgefallen wären, sondern wegen der geheimdienstlichen Informationen. Ein großer Hebel gegen den Terror ist die Kooperation. Allerdings wirkt dieser Hebel nur auf der Seite der Symptome, nicht der Ursachen. Das hat er mit dem Schutz der Außengrenzen gemein.

Montag, 12. September 2016

Seehofers nerviger Krieg

Die Augsburger Allgemeine hat in der Printausgabe am 12.9. einen Leitartikel von Uli Bachmeier veröffentlicht zur Situation der CSU im Streit um Merkels Flüchtlingspolitik:


Uli Bachmeier schreibt über Horst Seehofer:
"Das Dilemma hat für ihn eine historische Dimension. Er ist überzeugt, dass der Aufstieg der Rechtspopulisten nur mit einem Kurswechsel der Bundesregierung zu verhindern ist. Sei Kampfwort in diesem Zusammenhang lautet: Obergrenze. Er muss aber zur Kenntnis nehmen, dass die Bundeskanzlerin, auch wenn sie in der Flüchtlingspolitik nun schon mehrfach Korrekturen vorgenommen hat, ein öffentliches Bekenntnis zu einem solchen Kurswechsel verweigert und eine Obergrenze strikt ablehnt."
Merkel tut gut daran, eine Obergrenze abzulehnen. Nicht, weil eine Belastungsgrenze bereits erreicht oder fast erreicht sei. Sondern weil das Asylrecht keine solche Grenze kennt und eine Obergrenze bestenfalls für reguläre Einwanderung anwendbar wäre. Damit ist ein Fixpunkt im seehoferschen Dilemma gesetzt.
Seehofers Dilemma fußt auf der Überzeugung, die AfD nur einbremsen zu können mit einem Kurswechsel der Regierung. Seehofer macht nicht den Eindruck, er wäre mit einem Kurswechsel zufrieden. Er macht den Eindruck, als wäre sein einziger Lösungsansatz, die AfD in der Flüchtlingspolitik rechts zu überholen. Deshalb kommt Uli Bachmeier zum Schluss:
"Es ist ein Krieg der Nerven. Alles ist in Bewegung. Eine Lösung aber nicht in Sicht."
Ich möchte hinzufügen: Krieg der Nervensägen. Die viele Bewegung versucht zu verschleiern, dass keine Lösung in Sicht ist. Seehofer versucht zu verschleiern, dass er mit seinem Kurs so viele Überschneidungen mit der AfD hat, dass die Trennlinie zwischen CSU und AfD an manchen Stellen nicht mehr wahrnehmbar ist. Seehofer sollte überlegen:
  • Er ist in einer Regierung, bei der zwei Parteien einen weniger strikten Kurs in der Flüchtlingsfrage steuern.
  • Er ist auf einem Kurs, bei dem die verfassungsrechtlichen und sonstigen Hürden eine Kollision sehr wahrscheinlich machen.
  • Er stimmt in ein Geschrei ein, das - wenn es von der AfD käme - als Panikmache, Angstmache, als Populismus bezeichnet werden würde.
  • Er wirft Merkel vor, stur zu sein, weil sie nicht auf seine Linie einschwenkt und glaubt aber selbst, mit der eigenen Sturheit im Recht zu sein.
Es geht nicht um Parteiräson, politische Korrektheit oder wer sich als Elefant im Porzellanladen besser durchsetzt. Es geht darum, unter den gegebenen Umständen sinnvolle und produktive Politik zu gestalten, auf deren Ergebnis man stolz sein kann. "Ich denke, der Reden sind genug gewechselt [...] laßt uns nun endlich Thaten seh'n". Deshalb sollte er aufhören, mit seinem ständigen Gestänker zu nerven.

Sonntag, 11. September 2016

Das Gespenst Andreas Scheuer

Die Augsburger Allgemeine hat am 10.9. einen Artikel von Uli Bachmeier veröffentlicht zum Streit in der Union und dem Forderungskatalog der CSU:


Ohne hier wiederholen zu wollen, welch gelungene Ideen die CSU geboren hat, brunge ich ein Zitat von Andreas Scheuer:
"Wir distanzieren uns vollständig von der AfD"
Nötig wird er es haben. Die Frage ist nur, warum er sich distanziert. Hat er selbst schon den Eindruck, dass die AfD und seine CSU an einigen Punkten kaum mehr zu unterscheiden sind?

Freitag, 9. September 2016

Vom Klein- und Großreden

Walter Roller hat in der Print-Ausgabe der Augsburger Allgemeinen vom 9.9. einen Leitartikel veröffentlicht zum unionsinternen Streit in der Flüchtlingspolitik und dem Aufstieg der AfD:


Walter Roller ordnet die Aktivitäten der CSU gut ein:
"Richtig ist: Seehofer und seine Schildknappen führen ihre Kampagne gegen die Flüchtlingspolitik Merkels mit Worten und Begriffen ('Herrschaft des Unrechts'), die - wie der jüngste Forderungskatalog auch - das nötige Augenmaß vermissen lassen und gelegentlich an das Vokabular der AfD erinnern. Richtig ist auch: Die ständigen massiven Angriffe auf die Kanzlerin schaden dem Erscheinungsbild der Union und der Großen Koalition."
Zur Frage, wer die AfD groß gemacht habe, schreibt er ebenfalls richtig:
"Aber der grundsätzliche Vorwurf, erst Seehofer habe die AfD groß gemacht, ist falsch [...]"
Allerdings teile ich nicht die Ansicht im weiteren Fortgang des Satzes:
"[...] und zeugt von einer ganz großen Bundestagskoalition, die mit der Masseneinwanderung einhergehenden Probleme kleinzureden."
Der Vorwurf bezeugt keine große Bundestagskoalition. Die AfD schafft ihren Aufstieg selbst, sie braucht keinen Seehofer - auch wenn der gerne hilft. Die AfD ist geschickt im Aufgreifen der Stimmungen und deren Einsatz für die eigenen Ziele. Der Vorwurf an Seehofer, er habe die AfD groß gemacht, ist kein Zeichen für ein Kleinreden der Probleme, sondern ein Großreden Seehofers. Walter Roller schreibt:
"Der Aufstieg der Rechtspopulisten hat mit jener Politik der offenen Grenzen zu tun, die einem großen Teil der Bevölkerung Unbehagen, ja Furcht bereitet."
Nicht nur. Aber auch. Denn die AfD sammelt vor allem bei jenen Punkte und Stimmen, die "denen da oben" grundsätzlich misstrauen. Walter Roller schreibt:
"Die AfD ist eine rechte, teils radikale, Abschottung predigende Partei, die auch vom Unmut über die politischen und wirtschaftlichen Eliten profitiert. Ihr ist weder durch Ausgrenzung und Dämonisierung noch dadurch beizukommen, dass man alle ihre Wähler als 'sozial abgehängt' und nicht ausreichend aufgeklärt abtut."
Richtig, denn Ausgrenzung und Dämonisierung wäre der Beweis für das Selbstverständnis der AfD, dass sie die einzige echte Opposition, die einzige echte Alternative ist. Der Markenkern der AfD ist die Distanzierung von den etablierten Parteien. Die gleiche Wirkung wird erzielt, wenn die AfD-Wähler ausgegrenzt werden, wodurch es schwerer wird, sie vom Wählen der AfD abzubringen.
Das Problem ist nur, dass "eine harte Auseinandersetzung mit der AfD in der Sache", wie Walter Roller fordert, keine Wirksamkeitsgarantie hat. Denn eine solche Auseinandersetzung müsste sachlich, faktenbasiert erfolgen. Doch Fakten sind nicht das Triebmittel, das die Wähler zur AfD treibt. Es sind Ängste, Vorurteile bis hin zu Verschwörungstheorien, Übertreibungen, Emotionales. Zudem: Die Vokabel "Lügenpresse" zeugt von einer grundsätzlichen Ablehnung der Institutionen, die die notwendigen Fakten liefern könnten. Fakten würden also die Adressaten der "harten Auseinandersetzung in der Sache" nicht erreichen. Die von Walter Roller genannte Grenze "des Möglichen und Verkraftbaren" ist kaum ein echter Wegweiser, wie beispielsweise die Diskussion über den Notstand und die Obergrenze in Österreich zeigt. Nur weil einige Flüchtlingsunterkünfte überbelegt sind, nur weil einige Schulen nicht auf syrische Kinder eingerichtet sind, nur weil es längere Wartezeiten auf Ämtern gibt, ist das alles noch kein Notstand. Das alles rechtfertigt noch keine zahlenmäßig definierte Obergrenze.
Einige Hinweise zum Aufstieg der AfD finden sich in der Studie "Generation Mitte 2016" des Instituts für Demoskopie Allensbach. Die folgenden Aspekte sind der Präsentation von Prof. Dr. Renate Köcher entnommen, die die Ergebnisse der Studie zusammenfasst. Im Überblick auf Seite 1 heißt es:
"Das Lebensgefühl der mittleren Generation ist von einer wachsenden Kluft zwischen der persönlichen Situation und Skepsis in Bezug auf die gesellschaftliche Lage und Entwicklung geprägt
Während die eigene Lebensqualität als hoch eingestuft wird und sich immer mehr als Wohlstandsgewinner sehen, wächst die Verunsicherung über die gesellschaftliche Entwicklung
Der Zukunftsoptimismus der mittleren Generation ist gesunken wie auch ihr Sicherheitsgefühl, und zwar sowohl in Bezug auf ihre materiellen Perspektiven wie in Bezug auf innere Sicherheit"
21% der Befragte sehen eine Verschlechterung der eigenen Lebensqualität. 39% berichten von einer verbesserten wirtschaftlichen Lage im Vergleich zu vor fünf Jahren, nur 20% von einer Verschlechterung. Insgesamt 42% sehen ihre soziale Stellung besser als die ihrer Eltern, wobei 52% der Personen mit hohem sozioökonomischen Status und nur 28% derer mit niedrigem Status die Verbesserung sehen. Im Vergleich zu 2015 sehen in 2016 nur noch 43% mit Hoffnung (2015: 57%) und mit starker Zunahme auf 42% (2015: 30%) mit Befürchtungen/Skepsis in die Zukunft. Dabei werden für die nächsten 10 Jahre vor allem die Unterschiede zwischen Arm und Reich, die wirtschaftliche Lage in der Euro-Zone, Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus, Terror, Flüchtlinge und islamischer Einfluss als die relevantesten Faktoren gesehen.
Die innere Sicherheit gerät zunehmend ins Blickfeld. 68% sehen eine Zunahme der Kriminalität. Die Kriminalstatistik 2015 kann das nicht bestätigen. Auch aktuellere Zahlen, die im Hinblick auf sich ändernde Bevölkerungszahlen gewichtet sind, bestätigen die Befürchtungen nicht. Ein Hinweis, dass die "harte Auseinandersetzung in der Sache" schwieriger werden wird, als man es sich wünschen würde.
Ein weiterer Hinweis auf die Schwierigkeiten bei der Auseinandersetzung zeigt sich in der Allensbach-Studie zur Frage nach den Voraussetzungen einer erfolgreichen Integration. Genannt werden auf den Spitzenplätzen mit jeweils über 80% die Integrationsbereitschaft, Gleichheit der Frauenrechte, Deutschkenntnisse und Akzeptanz der deutschen Grundprinzipien. Alles berechtigte Punkte. Allerdings alles auch Punkte, die eine Bringschuld der Zuwanderer beschreiben. Es findet sich kein Hinweis darauf, was Deutschland tun muss (nicht nur sollte!), um erfolgreiche Integration zu schaffen. 63% der Befragten meinen, die Zuwanderer müssen die Bereitschaft haben, unter Deutschen und "nicht zusammen mit anderen Zuwanderern" leben zu wollen. Da ist es nicht hilfreich, ständig das Anderssein der Zuwanderer zu betonen: ihre Kultur, ihre Religion etc. Natürlich gibt es Unterschiede, aber in dem Moment, wo diese Unterschiede als Differenzierungsschema zwischen "denen" und "uns" herausgestellt werden, wird Integration erschwert. Genau hier agiert die AfD. Sie betont die Unterschiedlichkeit, sie baut aus dieser Unterschiedlichkeit ein Argumentationsgebäude. Die Studie schreibt auf Seite 7:
"Die höheren Sozialschichten stehen Zuwanderung wesentlich offener gegenüber als Mittel- und Unterschicht"
Das widerspricht der Behauptung Walter Rollers, "dass man alle ihre Wähler [der AfD, Anm.] als 'sozial abgehängt' und nicht ausreichend aufgeklärt abtut." Natürlich sind nicht alle AfD-Wähler abgehängt, aber eine negative Korrelation zwischen Sozialstatus und AfD-Zustimmung findet sich wiederholt in Studien. Um Walter Rollers Vokabel zu benutzen: Es hilft nichts, diese Korrelation kleinzureden. In der Auseinandersetzung mit der AfD ist es notwendig, die Zielgruppe mit geeigneten Mitteln und Argumenten anzusprechen. Diese Mittel und Argumente müssen andere sein als die, mit denen man höhere Sozialschichten erreichen kann. Und sie werden andere sein, als sie die etablierten Parteien bisher einsetzen. Die AfD ist deshalb erfolgreich, weil sie ihre Zielgruppe mit einer zielgruppenkonformen Sprache erreicht und vorgibt, sie zu verstehen. Gegen diesen Erfolg zu kämpfen ist deshalb schwer, weil ständig behauptet wird, die etablierten Parteien hätten nicht verstanden. Das betont die sprachliche Differenz, das schafft Gruppengefühle, das bindet AfD-Wähler untereinander und schafft Distanz zu den etablierten Parteien.

Dienstag, 6. September 2016

Walter Rollers Albtraumbeschreibung

Die Augsburger Allgemeine hat am 6.9. einen Leitartikel von Walter Roller veröffentlicht zum Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern:


Walter Roller hat Recht, wenn er das Ergebnis als Debakel, ja Albtraum beschreibt:
"Der Weg der AfD in den Bundestag ist geebnet. Damit wird jener Albtraum wahr, der die Union seit den Zeiten von Kohl und Strauß umtreibt: Rechts von der Union macht sich eine demokratisch legitimierte Partei breit, die das angestammte national-konservative Wählerreservoir von CDU und CSU dauerhaft anzapft."
Andererseits ist das ein Vorgang, der Parteien am linken Spektrum ebenso traf und - wenn man so will - als Zeitgeist auch in anderen Ländern auftritt:
"Nun widerfährt der Union, was der SPD auf der linken Seite mit den Grünen und der Linkspartei passiert ist. Nun ereignet sich auch in Deutschland, was in vielen Ländern Europas längst eingetreten ist: Eine populistische, dezidiert rechte, mit einfachen Parolen operierende Partei wird zur parlamentarischen Konstante."
Das Phänomen des populistisch erstarkenden politischen Randes tritt auch außerhalb Europas auf, wie Donald Trump in den USA oder Rodrigo Duterte auf den Philippinen beweisen. Walter Roller verortet für Deutschland die Verantwortung bei Angela Merkel:
"Selbstverständlich hat der Siegeszug der AfD auch mit dem angestauten Frust vieler Wähler über die politische Klasse, die EU und soziale Probleme zu tun. Und natürlich fühlt sich ein Teil der konservativen Klientel in der CDU schon länger nicht mehr daheim. Aber es war und ist die Flüchtlingspolitik Merkels, die der AfD Auftrieb verschafft. Ehe die Kanzlerin hunderttausende Muslime einreisen ließ, war die AfD so gut wie erledigt. Deren Erfolge sind die Folge des massiven Vertrauensverlustes, den die Kanzlerin mit ihrer Politik der offenen Grenzen bis weit in die bürgerliche Mitte hinein erlitten hat."
Darin stecken viele Hinweise auf die Gründe für das Erstarken einer Partei rechts der Union. Schon allein, wenn sich ein Teil der konservativen Klientel in der CDU nicht mehr daheim fühlt, ist das eine Einladung für geschickt agierende Parteien, diese neue Heimat anzubieten. Dazu kommt der "Frust über die politische Klasse, die EU und soziale Probleme". Das zeigt aber auch die breite der Motivation, Protest wählen zu wollen. Frust über die politische Klasse trifft alle etablierten Parteien und wird von der AfD meisterlich bedient. Sie ist eine junge Partei, sie wird von allen etablierten Parteien gemieden und kann sich so hervorragend gegen das Establischment positionieren. Sie ist nicht so radikal wie die NPD und damit für breitere Schichten kein Belzebub. Die EU taugt generell als Zielscheibe für die Idee, national Probleme besser lösen zu können bzw. Probleme erst verursacht zu haben. Soziale Probleme sind teilweise verursacht durch Entwicklungen, die sich einer Politik entziehen: Globalisierung, Digitalisierung und die dadurch ausgelösten Änderungen im Arbeits- und Privatleben sind nicht verhinderbar und schüren Ängste.
Die Flüchtlinge sind ja nicht eine wirkliche Gefahr für den deutschen Sozialstaat, die Finanzen und die Gemeinschaft. Einzelne Gefährder unter den Flüchtlingen ändern daran nichts. Aber sie geben als Gesamtheit einen wunderbaren Sündenbock, der mit religiöser Garnitur die Bühne betreten hat: Sie saugen den Sozialstaat aus, nehmen Arbeitsplätze weg, vergewaltigen Frauen, fressen Kinder und unterwerfen ganz Europa unter ihre mittelalterliche Kultur. Merkels "Wir schaffen das" war der Auslöser, um den Scheinwerfer auf Merkel zu richten und sie als Projektionsfläche für alle Kritik an der Politik und nicht nur Merkels Politik zu inszenieren. Weder hat Merkel fehlerfrei Politik betrieben noch ist sie Schuld an allem, was der Bevölkerung nicht passt. Die AfD war nicht erfolgreich, weil sie für Mecklenburg-Vorpommern ein politisch tragfähiges Angebot gemacht hätte. Sie hat - bei großzügiger Betrachtung - Bundespolitik gemacht. Sie schafft, was andere Parteien nicht schaffen: ihre Politik zu verkaufen. Die einfachen Botschaften sind schnell gehört und leicht verstanden. Sie erreichen auch diejenigen, denen etablierte Politik zu schwierig oder fruchtlos ist; Wahlforscher sprechen von aktivierten Nichtwählern. Sie bieten einfache Erklärungs- und Lösungskonzepte und behaupten, ohne das langwierige politische Abwägen auszukommen. Sie benennen einen Schuldigen.
Walter Roller schreibt:
"Der Kanzlerin bleibt also noch Zeit, um die drohende Niederlage 2017 zu verhindern und – das ist die zwingende Voraussetzung hierfür – die Kontrolle über die Zuwanderung zurückzugewinnen."
Wenn Zuwanderung - insbesondere ohne die notwendige Unterscheidung in die Ursachen "Flucht" und "andere Ursachen" - das einzige Thema ist, mit dem der Bundestagswahlkampf geführt wird, wirft das ein dunkles Licht auf den Zustand der hiesigen Demokratie. Die Bundestagswahl stellt das Ruder für die nächsten Jahre in der Umwelt-, Sozial- und Wirtschaftspolitik, in der Sicherheitspolitik und einem breiten weiteren Spektrum. Es ist fahrlässig von den Wahlkämpfern, das eine Thema Flüchtlinge so zu exponieren. Und es ist fahrlässig von den Wählern, wenn sie sich nur von diesem einen Thema anlocken ließen.

Sonntag, 4. September 2016

Walter Rollers offene Frage

Die Augsburger Allgemeine hat in der Printausgabe am 3.9. einen Leitarartikel von Walter Roller zu Merkels Flüchtlingspolitik veröffentlicht:


Walter Roller schreibt zutreffend:
"Der Absturz Merkels in der Gunst des Publikums zeigt von dem Vertrauensverlust, den die Kanzlerin erlitten hat. Allzu lange hat Merkel den Eindruck erweckt, als ob sie die Sorgen vor Überfremdung und wachsender Kriminalität nicht wirklich ernst nehme."
Zutreffend zumindest, wenn man "ernst nehmen" als "die Sorgen aufgreifen und hart/restriktiv handeln" versteht. Daran schließt er eine Wertung an:
"Die Probleme und kulturellen Konflikte [...] wurden verniedlicht und kleingeredet."
Woher weiß er das? Woher weiß er, dass sie nicht unterschätzt, sondern absichtlich kleingeredet wurden? In einem Online-Artikel vom 4.9. schreibt die Augsburger Allgemeine:
"In einer Emnid-Umfrage verneinten 76 Prozent der Teilnehmer, dass ihr Leben durch die Neuankömmlinge im vergangenen Jahr verändert worden sei."
Das klingt für mich nicht nach kleingeredet. Walter Roller stellt wiederum richtig fest:
"Die Herausforderung besteht ja nicht nur darin, den bereits Eingetroffenen eine Heimstatt zu verschaffen und sie zugleich auf die Akzeptanz unserer Grundwerte und Regeln zu verpflichten."
Um daran erneut fragwürdig anzuschließen:
"Es geht vor allem auch darum, den Prozess der Zuwanderung künftig so zu steuern, dass die aufnehmende Gesellschaft nicht überfordert wird und bestimmen kann, wer kommen kann und wer nicht."
Würde er doch bloß klar trennen zwischen Zuwanderung und Asyl bzw. Schutz. Bei der Zuwanderung aus wirtschaftlichen oder sonstigen Gründen steht es dem Aufnahmeland natürlich zu zu bestimmen, wer kommen kann und wer nicht. Diese Entscheidungsfreiheit hat das Aufnahmeland nicht, wenn es um den Schutz flüchtender geht. Wer seine Verfolgung nachweisen kann, hat beschützt zu werden. Das ist europäische, christlich-abendländische Kultur. Zum Asyl- bzw. Schutzgedanken schreibt Walter Roller:
"Der humanitäre, über jeden moralischen Zweifel erhabene Impuls zu helfen ist das eine;"
Würde er doch bloß nicht immer so tun, als ob die Hilfe für Verfolgte nur moralisch überhöhte Gutmenschen etwas anginge. Er beschädigt damit die christlich-abendländische Kultur. Er schreibt weiter:
"verantwortliche, das Gemeinwohl bedenkende, notfalls auch mit einiger Härte exekutierte Politik ist das andere."
Jörg Meuthen, der Vorsitzende der AfD stieß am 6. Januar 2016 ins gleiche Horn:
"Selbstverständlich hängen die Gewalttaten mit der ungesteuerten Einwanderung aus anderen Kulturkreisen nach Deutschland zusammen. All diejenigen, die bisher verleugnet haben, dass dies unsere Gesellschaft gefährde, werden spätestens jetzt eines besseren belehrt."
Würde Walter Roller doch bloß nicht immer so tun, als ob nur die Asylgegner, die Abschiebefreunde, die Härte-Befürworter das Gemeinwohl im Sinne hätten. Würde er doch bloß nicht immer so tun, als ob das Abschieben von ein paar Kriminellen Ruhe in die sorgenvolle Volksseele brächte. Der Zuzug einiger Tausend Flüchtlinge rechtfertigt auch nicht das Ausrufen des Notstandes, wie es Österreich versucht. Österreichs Caritas-Präsident dazu:
"Aber Österreich ist gut aufgestellt. Ich sehe keinen Notstand, auch dort nicht, wo es um Menschen auf der Flucht geht. Die Zahl der verfügbaren Arbeitsplätze ist keine statische Größe. Die Aufnahmefähigkeit des heimischen Arbeitsmarktes ist abhängig von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes. Die Politik ist an dieser Stelle gefordert, mit Ideen und weniger Bürokratie neue Chancen zu schaffen."
Walter Roller wirft vor:
"Merkels mit einem totalen staatlichen Kontrollverlust einhergehende Politik war keineswegs 'alternativlos' [...]"
Natürlich nicht, es gab andere Möglichkeiten. Würde Walter Roller die Doppelseite in der AZ zur Historie rund um Merkels "Wir schaffen das" vom gleichen Tag gelesen haben, würde mich interessieren, welche gesichtswahrenden Alternativen er sieht.
Der Kontrollverlust entstand, weil die Politik die Entscheidung zur Aufnahme der Flüchtlinge nicht durch entsprechend rasche und zielorientierte Maßnahmen unterstützt hat. Infrastruktur und Personal war nicht vorbereitet auf die Anzahl von Flüchtlingen. Der Kontrollverlust entstand nicht, weil Merkel einen "historischen Fehlgriff" tat.
Walter Roller schreibt weiter:
"Viel schwerer noch als der Aufstieg der rechtspopulistischen AfD und der Ansehensverlust der Volksparteien wiegen die Spaltung der Gesellschaft und der tief sitzende Verdruss vieler, keineswegs nur 'rechter' Bürger darüber, dass diesem Land über Nacht eine grundlegende Veränderung aufgezwungen wurde."
Die "Spaltung der Gesellschaft" wiegt schwer, ja. Aber nicht, weil dem "Land über Nacht eine grundlegende Veränderung aufgezwungen wurde", sondern weil sich der Stil des politischen Diskurses wegbewegt hat von einem demokratischen Streit hin zu rechthaberischem Geschrei. Weil sich eine Art Konsumdemokratie etabliert hat, in der sich manche von vereinfachenden Weltsichten a la AfD einlullen lassen und zu simplen "Lösungen" nicken und sich nur noch ein Teil der Bürger mit der Komplexität politischer Lösungen (ohne Anführungszeichen!) auseinandersetzen mag. Die Folge dieser Entwicklung ist der Aufstieg einer AfD. Der Ansehensverlust der Volksparteien ist weniger eine Folge, mehr eine Ursache: Sie waren nicht in der Lage, ihre Lösungen nahe zu bringen. Leitartikel wie der von Walter Roller ist ein Beispiel für die Vehikel, die die Spaltung der Gesellschaft befeuern.

Donnerstag, 1. September 2016

Blick nach vorn in die Vergangenheit

Die Augsburger Allgemeine veröffentlicht am 1.9. einen Artikel von Michael Stifter:


In dem Artikel kommt auch CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer zu Wort. Merkel beschreibt die aktuelle Flüchtlingssituation auch als Folge von Fehlentscheidungen in den frühen Jahren des Jahrhunderts. Dort wären nicht die notwendigen Entscheidungen getroffen worden, um die vorhersehbare Entwicklung für Europa adäquat zu bearbeiten und die notwendigen Vorbereitungen und Schritte einzuleiten. Weiter wird ausgeführt:
"Merkel hält es für 'völlig verständlich', dass mit der Zahl der Asylbewerber auch die Angst vieler Bürger gewachsen ist. Erst recht seit den Anschlägen durch Flüchtlinge in Bayern. 'Über Gefährdungen müssen wir offen sprechen und konsequent dagegen vorgehen' sagt die CDU-Chefin. Sie stellt aber auch klar, dass 'die ganz große Mehrheit der Flüchtlinge sich vor Gewalt, Mord, Bomben und Terror zu uns in Sicherheit gebracht hat und sich nichts als Ruhe und eine neue Chance zu leben wünscht.'"
Beide Aspekte kann und muss man klar zur Kenntnis nehmen. Auch wenn die Grenzöffnung vor einem Jahr einen starken Anstieg der Flüchtlingszahlen ausgelöst hat und die Grenzöffnung eine menschlich-moralische Entscheidung der Bundeskanzlerin war, gibt es weitere Gründe, die zu den Flüchtlingszahlen und dem Umgang in Europa mit den Flüchtlingen geführt haben. Diese Gründe liegen teilweise Jahre und Jahrzehnte zurück. Und vergessen wir nicht: Die Grenzöffnung erfolgte unter dem Eindruck des grauenhaften Verbrechens, bei dem Schleuser in einem LKW nach dem Grenzübertritt von Ungarn nach Österreich über 70 Menschen ersticken ließen.
Die Analyse Merkels kommentiert Andreas Scheuer so:
"Der ständige Blick zurück und die Rechtfertigungen für Entscheidungen aus der Vergangenheit bringen uns nicht weiter, solange die Spätfolgen immer noch auf dem Tisch liegen".
Wie viele Seelen wohnen ach in seiner Brust? Einerseits wirft er bzw. die CSU Merkel immer wieder vor, falsch entschieden zu haben. Wenn Merkel selbst auf die Entscheidung zurückblickt, kommt der Vorwurf, das bringe niemanden weiter.
Andreas Scheuer wird weiter zitiert:
"Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass Deutschland Deutschland und Bayern Bayern bleibt."
Ja, und "Daham statt Islam" sagte die FPÖ. Was für eine Angst muss Andreas Scheuer haben vor dem Untergang der deutschen Leitkultur. Im November 2015 schrieb er:
"Integration kann nicht bedeuten, dass sich die einheimische Bevölkerung und die Flüchtlinge auf halbem Weg treffen und daraus eine neue Kultur entsteht. Es gibt keine Alternative zur deutschen Leitkultur – Multi-Kulti ist gescheitert."
Warum glaubt er, einige Hundertausend Flüchtlinge würden die Leitkultur aushebeln können? Befürchtet er, dass zukünftig deutsche Frauen scharenweise von deutschen Männern in die Burka gezwungen werden? Hat er ein Kulturverständnis, wie es die CSU im Dezember 2015 mit der "kulturellen Statik" umschrieben hat? Warum hat er keine Angst vor dem Untergang der Leitkultur angesichts amerikanischer Einflüsse wie Facebook? Vielleicht weil Amerikaner keine Burka tragen? Weil sich aus der Islamangst leichter politisches Kapital schlagen lässt?
Ein weiteres Beispiel für das Kulturverständnis Andreas Scheuers findet sich im Artikel:
"Das wird aber nur gelingen, wenn wir die meisten Flüchtlinge schnell in ihre Heimat zurückführen, sobald dort wieder Frieden herrscht“, sagt Scheuer. Diejenigen ohne Bleibeperspektive müssten das Land sofort wieder verlassen."
In einem Rechtsstaat, auf den sich die CSU so gern beruft, ist es nicht so einfach, nur durch die Abwesenheit einer Bleibeperspektive die sofortige Ausreise zu verfügen. Rechtsmittel wie Einsprüche, Berufungen, Revisionen dienen dem Rechtsschutz und sind zentraler Bestandteil eines europäischen Rechtsstaatsverständnisses. Zu diesem Verständnis gehört auch ein Diskriminierungsverbot, das eine unterschiedliche Behandlung von Menschen aus nicht sachgerechten Gründen untersagt. Andreas Scheuer vermittelt mir den Eindruck, er macht sich seine Welt, wie sie ihm gefällt. Er trägt manche Monstranzen vor sich her, aber immer nur in Ausschnitten. Er verkürzt damit die Realwelt unangemessen.