Samstag, 26. März 2016

Rentenversicherung und Familienlasten

In der Augsburger Allgemeinen vom 27.8. wird berichtet über eine Untersuchung der Bertelsmann Stiftung, die bei der Sozialversicherung von Personen mit bzw. ohne Kindern eine Gerechtigkeitslücke identifiziert. Zu dem Thema hat Michael Pohl einen Kommentar verfasst:


Es verwundert nicht, dass Familienverbände als Interessensvertretung versuchen, Vorteile für ihre Klientel zu erreichen. Allerdings sind in der Studie zwei Fragen angelegt, deren Antwort spannend sein dürfte.

Soziale Versicherung?

Die Klage dreht sich um die Kranken- und Rentenversicherung. Im Artikel wird der Präsident des Deutschen Familienverbandes zitiert, der es für skandalös hält, dass ein "vierfacher Vater die gleichen Beiträge [...] einzahlt wie ein gleichverdienender Versicherter, der ohne Nachwuchs lebt". Den
Skandal vermag ich nicht zu erkennen.
Zum Einen handelt es sich um eine Versicherung. Das Wesen einer Versicherung ist es, Beiträge einzuzahlen und im Schadensfall Leistungen zu bekommen. Bei der Krankenversicherung ist der Begriff Schadensfall klar, bei der Rentenversicherung irreleitend. Umgekehrt besagt das Prinzip: Wer
Leistungen beziehen will, muss vorher Beiträge geleistet haben. Bei der Krankenversicherung mit echtem Versicherungscharakter richtet sich die Leistungshöhe nach der Höhe des Schadens, der Krankheitskosten. Bei der Rentenversicherung ist - wenn man so will - der Schaden das Ende des
Erwerbslebens und eine am Einkommen orientierte Leistung plausibel.
Zum anderen ist die Versicherung sozial. Das Sozialprinzip realisiert sich beispielsweise durch die Nichtgewichtung des Schadensrisikos. Die Beiträge hängen von der Einkommenshöhe ab, nicht jedoch vom Risikoverhalten. Die Familienmitversicherung ist ein weiteres Beispiel für den sozialen Charakter.
Die Studie rechnet hingegen eine Art Investition (vgl. Seite 32):
"Auf der Basis vergleichsweise stark stilisierter Berechnungen kommt er zu einem externen Effekt in Höhe von 175.000 DM (ca. 89.500 Euro; Barwert für  das Jahr 1997), den ein durchschnittliches Kind im Rahmen des gesetzlichen Rentensystems an andere Versicherte mit sich bringt. Gestützt auf realitätsnähere Annahmen und detailliertere Fortschreibungen von Ist-Daten – etwa für Löhne, Beitragssätze und das Rentenniveau – legten Werding und Hofmann (2005) eine neue Berechnung vor. Für ein durchschnittliches Kind ermitteln sie dabei einen externen Effekt im Rahmen des Rentensystems in Höhe von 139.300 Euro (Barwert für das Jahr 2000). Daneben errechnen sie auch analoge Effekte im Rahmen aller anderen Zweige der Sozialversicherung, insbesondere der Kranken- und Pflegeversicherung, beziehen daneben auch Einkommen- und Verbrauchsteuerzahlungen des Kindes ein und berücksichtigen im Gegenzug die dem Kind unmittelbar zurechenbaren, steuerfinanzierten Leistungen in Form öffentlich finanzierter Kinderbetreuung und Bildung, familienpolitischer Leistungen sowie staatliche Leistungen ('öffentliche Güter'), die allen Bürgern lebenslang zugutekommen. Als Netto-Effekt dieser umfassenden 'fiskalischen Bilanz' eines neu geborenen Kindes ergibt sich dabei ein Überschuss der Beitrags- und Steuerzahlungen über die zu erwartenden Leistungen, das heißt eine fiskalische Externalität im Rahmen des gesamten Steuer-Transfer-Systems in Höhe von 76.900 Euro (erneut berechnet als Barwert für das Jahr 2000)."
Mir ist unklar, warum eine Versicherung eine Leistung erbringen muss, die sicher höher ist als die eingezahlten Beiträge.
Im Artikel wird Bezug genommen auf die Pflegeversicherung und den erhöhten Beitrag für Kinderlose. Beim Pflegefall handelt sich um eine tatsächliche Versicherungsleistung. Durch eigene Kinder steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Pflege durch Familienangehörige wahrgenommen wird und damit eine geringere Versicherungsleistung beansprucht wird. So lässt sich eine Beitragsdifferenz argumentieren. Die erhöhten Beiträge Kinderloser sind ein Abgehen von der oben genannten Sozialkomponente, nach der Beiträge nicht vom Risiko abhängen. Es handelt sich mithin um eine Strafe, nicht um ein Goodie für Versicherte mit Kindern.
Zudem: Wenn Familien mit Kindern eine Besserstellung bekommen sollen wegen ihrer Verdienste um das Versicherungssystem, wo soll die Grenze gezogen werden? Nichtraucher beispielsweise oder Normalgewichtige oder Sporttreibende leisten ebenfalls einen Beitrag. Sie gehen sorgsam mit sich um und reduzieren so das Risiko des Versicherungsfalles (v.a. in der Krankenversicherung). Warum werden diese Personen nicht ebenfalls entlastet? In der Rentenversicherung müssten sie belastet werden, weil sie auf Grund ihrer gesünderen Lebensweise wahrscheinlich länger leben und länger Leistungen beziehen.

Abgeltung familiärer Leistung?

Zur Abgeltung familiärer Leistungen sagt die Studie auf Seite 16:
"Unabhängig davon, ob das Gericht in dieser Sache in absehbarer Zeit entscheidet oder ob es das Verfahren aussetzt und einen Vorlagebeschluss trifft, wird sich wohl bald auch das Bundesverfassungsgericht wieder damit befassen müssen, welche Bedeutung elterliche Betreuungs- und Erziehungsleistungen bzw. unter förderlichen Bedingungen aufwachsende, gut ausgebildete Kinder für die umlagefinanzierten Sozialversicherungen haben."
Hier verbirgt sich ein kritischer Punkt. Denn einerseits fußt die Argumentation vom Wert von Kindern für das Gesamtsystem auf Einzahlungen in das System. Das Zitat zeigt, wie voraussetzungsstark das Argument ist: "unter förderlichen Bedingungen aufwachsende, gut ausgebildete Kinder" werden angeführt. Was ist aber, wenn ein Kind die in es gesetzten Erwartungen nicht erfüllt? Was ist, wenn es krankheitsbedingt kein Einkommen erzielt? Was ist, wenn es auf Grund von Bedingungen im Elternhaus in die Kriminalität abgleitet und die Gesellschaft Geld kostet durch Gefängnis, Therapien etc.? Wer so eng am Geld argumentiert wie der Familienbund und die Studie, muss auch beantworten, welchen Anspruch die Gesellschaft an die Eltern haben wird, wenn diese das Versprechen nicht halten, für das System nützliche Kinder zu haben und für dieses Versprechen Vergünstigungen beansprucht haben.

Fazit

Die Studie stellt auf Seite 18 dar:
"Das Übergewicht der durch staatliche Maßnahmen erzeugten Belastungen von Familien und Kindern gegenüber ihrer Förderung hat weit reichende Folgen. Unmittelbar beeinträchtigt werden dadurch die wirtschaftliche Situation der Familien und damit die Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen. Das trägt dazu bei, dass Kinder in Deutschland derzeit eines der gewichtigsten Armutsrisiken darstellen. Diese Aussicht kann zurückwirken auf die Bereitschaft junger Menschen, Familien zu gründen und weitere Kinder zu haben, obwohl oder eigentlich gerade weil ihre Existenz effektiv allen Mitgliedern der Elterngeneration zu Gute kommt."
Wenn Kinder ein hohes Armutsrisiko bedeuten, dann ist es nicht an der Sozialversicherung, das zu lösen. Das ist eine gesellschaftliche Aufgabe. Welcher Beitrag ist hier von den Kinderlosen zu fordern, die nicht in die Sozialversicherung einzahlen? Und selbstverständlich: Welche Zuwendung bekommen diejenigen, die nicht in die Rentenversicherung einzahlen, die aber Kinder haben, die in die Rentenversicherung einzahlen werden? Wenn diese Personen leer ausgehen, hat das mit sozial nichts mehr zu tun. Michael Kohl hat Recht: Der eigentliche Hebel liegt im Steuerrecht.

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