Samstag, 30. Dezember 2017

The same as every year

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 30.12. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er einen Abriss der zukünftig notwendigen Flüchtlingspolitik gibt:


Walter Roller wiederholt zum Ende des Jahres 2017 seine Positionen, die er mehrfach veröffentlicht hat und die ich in meinem Blog zusammengetragen habe. Weiterhin tarnt er als Analyse, was sprachlich und inhaltlich kaum zu unterscheiden ist von den Äußerungen der AfD und CSU. Und weiterhin lässt er die dem Thema angemessene Trennschärfe vermissen, wenn er beispielsweise unter der Überschrift "Flüchtlingspolitik" die "Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung" als "dringlichste politische Aufgabe" anführt.
Walter Roller kennt auch die feinere Klinge, die den Texten innewohnende Schärfe wird dadurch jedoch nicht gemildert. Er benennt die "Masseneinwanderung von Menschen aus der muslimischen und afrikanischen Welt" als die Ursache für die Veränderung des politischen Klimas und die Spaltung der Gesellschaft. Er führt die "Willkommenskultur" als eines der "um die Meinungsführerschaft" ringenden Lager an. Merkels "Einwanderungspolitik" sei eine "großherzige, im europäischen Alleingang vollzogene", die "längst jenen Zusammenhalt [gefährde], auf den jede Gesellschaft angewiesen" sei. Eine "Veränderung der Bevölkerungsstrukturen" sei "ohne hinreichende demokratische Rückversicherung" herbeigeführt worden - vor knapp zwei Jahren nannte er es noch demokratisches Defizit. Die "Furcht Einheimischer vor dem Verlust kultureller Identität" müsse berücksichtigt werden, damit "ein Mindestmaß an gesellschaftlichem Konsens ermöglicht" werde. Das ist in Details, nicht jedoch im Grundlegenden anders als sein Leitartikel vom 12.4.2016, bei dem ich mir bereits eine Erwiderung oder Widerlegung verkniffen und lediglich die Schärfe herausgearbeitet hatte.
Selbstverständlich sollen die Menschen wissen, "wohin die Reise gehen soll und wie der Staat den inneren Frieden bewahren, die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten und 'französische Verhältnisse' (islamische Parallelgesellschaften) verhindern will". Nur hilft es dabei nichts, von Masseneinwanderung, Gutmenschentum etc. zu sprechen. Nötig wäre zum Beispiel eine Analyse der Fehler Frankreichs, die Parallelgesellschaften begünstigt haben. Nötig wäre eine Analyse der Sicherheitssituation: gefühlt ist sie desolat wegen der angeblich hohen Straffälligkeit von Ausländern. Wenn der Beitrag des SWR zur Kriminalstatistik stimmt, trügt das Gefühl, denn die meisten Straftaten betreffen Schwarzfahrten und ähnliche Vermögens- und Erschleichungsdelikte. Berichte mit großer Medienbreite über Gewalttaten von Asylbewerbern tun das ihre für dieses Gefühl. Walter Roller schreibt ja selbst:
"Die Realität sieht anders aus."
So wird - behauptet Walter Roller - aus "der 'nationalen Kraftanstrengung' (Merkel), abgelehnte Asylbewerber verstärkt abzuschieben" nichts. Vielleicht würde es Walter Roller helfen, sich mit Markus Söder die Nachhilfe des BR-Magazins "quer" anzuschauen. Söder hatte behauptet, 500 000 abgelehnte Asylbewerber würden nicht abgeschoben. Nach Anwendung rechtsstaatlicher Prinzipien blieben lediglich 32 000 übrig. Das Magazin forderte von Söder Aufklärung statt Hetze - Walter Roller sollte sich dies auch zu Herzen nehmen.
Deutschland sei Einwanderungsland, schreibt Walter Roller und behauptet einen "Verlust kultureller Identität". Nach Zahlen des CIA World Factbooks ist Deutschland mit seiner Migrationsrate von 1,5 (EU-Schnitt: 2,5) auf der Rangliste der Einwanderungsländer auf Platz 54. Richtig ist, dass es in Deutschland einen positiven Wanderungssaldo gibt. Walter Roller behauptet, es würden "[w]eit über 200 000 Menschen [...] heuer hier eintreffen". Er qualifiziert das nicht und lässt unklar, ob es Asylerstanträge sind, Asylanträge insgesamt, ob das brutto (also nur Einreisen nach Deutschland) oder netto (Ein- abzgl. Ausreisen) ist. Das BAMF nennt in seiner Statistik für November 2017 diese Zahlen:


Das sind insgesamt knapp 190 000 Anträge und knapp 170 000 Erstanträge bis November. Auf diese Unklarheit türmt Walter Roller nun die Behauptung, die "Aufnahmekapazität und Integrationskraft des Landes [sei] überfordert" und deshalb sei "die Zahl der Flüchtlinge dauerhaft auf ein verkraftbares Maß zu begrenzen". Er lässt unklar, was Aufnahmekapazität sei und was Integrationskraft. Worthülsen. Meint er zu wenig Wohnungen? Die Huffington Post berichtet im November 2017 von fehlenden Wohnungen und abnehmenden Bauanträgen. Auf im November berichtet der Focus, von 1990 bis heute sei die Zahl der Sozialwohnungen um 60% gesunken. Dessen ungeachtet stößt Walter Roller in das Horn, das auch die AfD bläst: Migranten, Asylanten, Ausländer, Flüchtlinge - mit begrifflichen Feinheiten muss man sich hier nicht aufhalten - sind an so vielem Schuld.
Als Garnitur setzt Walter Roller die Einzigartigkeit Deutschlands in Szene:
"Kein Land Europas ist so hilfsbereit wie Deutschland, das niemanden, der 'Asyl' begehrt, abweist und jeden ordentlich versorgt."
Zu Beginn schrieb er "Willkommenskultur", damit die Einzigartigkeit im rechten Licht leuchte. Weiter:
"Das Recht auf Asyl ist unantastbar und bliebe auch bei einer - großzügig bemessenen - 'Obergrenze' von 200 000 jährlich gesichert."
Walter Roller widerspricht sich in diesem Satz selbst, da das Asylrecht keine Obergrenze kennt, ob die "großzügig" bemessen sei oder nicht. Was wäre sie wert, wenn sich eine Entwicklung wie in 2015 wiederholte?
Ein Hinweis von Walter Roller ist im Grundsätzlichen richtig:
"Es geht darum, die Chancen der Migration zu nutzen und zugleich den Blick für die Risiken zu schärfen. Vonnöten ist ein Gesetz, das Verfolgten und [...] und Kriegsflüchtlingen Schutz bietet, den Zuzug von Arbeitsmigration an den Interessen des Landes ausrichtet."
Allerdings: wie scharf soll denn der "Blick für die Risiken" noch werden nach all dem, was zuvor im Leitartikel geschrieben wurde? So scharf blicken wie die AfD? Und die CSU? Und inzwischen auch die FDP? Islamisierung? Alle Deutschen müssen sich bewaffnen? Vergewaltigungen hinter jedem Baum und jedem Strauch? Massenhaft Einbrüche - ach so, das waren ja die osteuropäischen Banden.
Walter Roller übersieht, dass ein solches Einwanderungsgesetz  - wenn es denn so heißen soll - allein nicht reichen wird. Vielleicht braucht es Änderungen an Gesetzen zum Wohnungsbau, zur Aus- und Berufsbildung, zur Anerkennung von ausländischen Qualifikationen. Vielleicht braucht es mehr Qualität in der Anwendung von Gesetzen, der Fall Anis Amri zeigt dies eindrücklich.
Walter Roller meint:
"Für eine solch realistische, mit Herz und Verstand gemachte Politik wäre die Zustimmung einer großen Mehrheit der Wähler gewiss."
Wenn es bloß so wäre! In seinem Vorschlag vermag ich weder Herz noch Verstand zu erkennen. Das Herz ist kalt, nicht warm, wie er Glauben machen möchte. Verstand würde helfen bei der Diskussion um Migration, Asyl und Schutz. Doch den bedient Walter Roller nicht, er zielt auf den Bauch. Mit dieser Methode gelang der AfD der Einzug in den Bundestag. Wieder nix mit der staden Zeit.

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