Sonntag, 10. Dezember 2017

Zukünfte in Europa

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 9.12. kommentiert, ob und in wie weit eine Zentralisierung Europas Zukunft sein könne:


Walter Roller sieht zwei Philosophien aufeinander prallen:
"Mit Macrons und Junckers Vorschlägen ist das Feld bereitet für eine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Zukunft Europas, in deren Verlauf zwei Philosophien aufeinanderprallen. Hier die französisch-italienische, die 'Solidarität' über die Eigenverantwortung jeder Nation stellt und die Nivellierung der Wirtschafts- und Sozialpolitiken anstrebt. Dort die 'deutsche', die auf die Budgethoheit der gewählten nationalen Parlamente pocht und Leistungen der Gemeinschaft an Spar- und Reformanstrengungen knüpft."
Nicht zu vergessen: Macron ist der diesjährige Karlspreis zuerkannt worden für Verdienste um Europa. Ich lasse ungeachtet, ob eine verstärkte Solidarität zu einer Erosion der Eigenverantwortung führt, wie es im Kommentar durchschimmert; war es schon immer eines der Ziele der EU, die Lebensbedingungen anzugleichen, mithin eine "Nivellierung der Wirtschafts- und Sozialpolitiken" anzustreben. Walter Roller verkürzt mit seinen Ausführungen de n Denkrahmen auf "Budgethoheit" und "Spar- und Reformanstrengungen". Wesentlich treffender sind da die Ausführungen von Mark Leonard, Direktor im European Council on Foreign Relations:
"Even without a Jamaica coalition, Germany still has a stable liberal majority in the Bundestag. The same cannot be said for the rest of the EU, where almost every other member state is now a '50-50 society': half cosmopolitan, half communitarian. In these countries, the government at any given time represents whichever side won the latest round in an ongoing culture war."
Die zwei Philosophien, von denen Walter Roller schreibt, sind nicht "Geld verschleudern" vs. "Geld beisammenhalten", sondern Gemeinschaft vs. Individualität, vielleicht Liberalismus. Die Budgethoheit ist dabei nur eine Facette. Frankreich und Deutschland sind ein Beispiel, das auf Budgetseite Pole zeigt: Hier gemeinsame Schulden und gemeinsame Budgethoheit, dort nationale Schulden und nationale Budgethoheit. Ein anderes Beispiel bieten die Visagrád-Staaten, die sich mit dem Argument nationaler Kompetenzen sogar von dem verabschieden, was über Jahrzehnte als gemeinsamer Wertekanon Europas galt.
Dennoch ist die Frage Walter Rollers richtig, wo die Zukunft Europas gesucht werden sollte:
"Deutschland wird, sobald eine neue Regierung steht, Farbe bekennen und darlegen müssen, wie weit es sich auf die Pläne Macrons einlässt."
Macrons Pläne sind ein Debattenbeitrag, kein in Europa final diskutiertes mögliches Ziel. Sie sind deshalb nicht der Belzebub, dem mit Weihwasser begegnet werden muss. Andererseits: Ohne gemeinsames Auftreten der Europäer wird Durchsetzungskraft verschenkt, weshalb Walter Roller einräumt:
"Richtig ist: Die EU muss stärker und handlungsfähiger werden. Die Liste der Aufgaben, die nur gemeinsam zu schaffen sind, ist lang. Sie reicht von einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Einwanderungspolitik bis hin zum Kampf gegen Steuerdumping und einer digitalen Offensive."
Ausgelassen hat er Wirtschaftspolitik. Ohne große öffentliche Aufmerksamkeit hat Europa mit Japan die EU-Japan Economic Partnership Agreement (EPA) geschlossen und am 8.12. in einer Pressemitteilung verlautbart:
"The Economic Partnership Agreement will remove the vast majority of the €1 billion of duties paid annually by EU companies exporting to Japan, as well as a number of long-standing regulatory barriers. It will also open up the Japanese market of 127 million consumers to key EU agricultural exports and will increase EU export opportunities in a range of other sectors."
Wirtschaftspolitik ist ein Aspekt, aber nicht der einzige Aspekt, an dem entlang die Zukunft Europas diskutiert werden kann und muss. Slawomir Sierakowski bietet eine Erklärung an, warum Deutschland so besonders vehement alles ablehnt, was auch nur im Ansatz nach "Vergemeinschaftung von Schulden" klingen könnte:
"Germany, however, has little enthusiasm for EU-level economic reforms, because it benefits from the status quo. A common monetary policy in the absence of a common fiscal policy creates an imbalance that works decidedly in Germany’s favor. Because Germany, the eurozone’s largest economy, shares a currency with poorer member states, it enjoys an artificial boost to export competitiveness."
Sierakowski meint sogar:
"Germany has essentially dropped an anchor that is now preventing all of Europe from moving forward."
Sollte Sierakowski richtig liegen und Deutschland tatsächlich durch die gemeinsame Währung mit ärmeren EU-Staaten profitieren, weil die Exportmöglichkeiten verbessert werden, muss sich Walter Roller die Frage gefallen lassen, warum er so vehement auf den deutschen Sparstandpunkt steht. Vielleicht liegt es am Zerrbild, das er zeichnet:
"Doch ein gleichmacherisches, von fernen Brüsseler Mammutbehörden gelenktes Europa, das den Wettbewerb zwischen den Staaten verhindert und die Kompetenzen des Nationalstaats über Gebühr aushöhlt, geriete zum Irrweg."
Walter Roller nennt es Luftschlösser, was die SPD anstrebt: Die Vereinigten Staaten von Europa bis 2025. Richtig. Man frägt sich, welch Teufel die SPD geritten hat bei dieser Forderung. Sierakowski vermutet politischen Selbstmord:
"Hans Kundnani of the German Marshall Fund surmises that by voting for the Euroskeptic FDP and the far-right Alternative für Deutchland (AfD), rather than the CDU and SPD, German voters have already expressed their views on Macron’s plan to reform the eurozone. If he is right, the SPD would be committing political suicide if it supported EU-level reforms."
So wird es sein. Die SPD hat in den letzten Jahren ihre (Stamm)Wählerschaft verloren und anstatt sich zu überlegen, wie sie wieder mehr Wählerzuspruch gewinnen kann, vergrößert sie den Abstand.
Dennoch: Die Debatte um die Zukunft Europas muss geführt werden. Ein großer Fragenkomplex ist der, was europäisch besser gelöst werden kann und was national. Denen, die so sehr nationale Eigenheiten behaupten, sei mit Mark Leonard entgegnet:
"Earlier this year, a Brookings Institution report tried to determine if Europe is an 'optimal political area,' a concept borrowed from economist Robert Mundell’s theory of 'optimal currency areas.' The report concluded that cultural and institutional differences between EU countries have not changed much over the past three decades of European integration. But it also found that the divisions between countries are far smaller than the differences within countries. Or in other words, on the issue of freedom of movement, there is greater polarization between London and the British Midlands than between the UK and Poland."
Die Diskussion muss ernsthaft beginnen und bis zur Klärung fortgeführt werden. Aber nicht mit verkürzten Argumenten.

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