Donnerstag, 28. Dezember 2017

Fantastische Nationen

Winfried Züfle hat in der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen vom 28.12. einen Leitartikel  veröffentlicht zu den aktuellen Bestrebungen in einzelnen Teilen Europas, sich mehr auf den Nationalstaat zu besinnen:


Winfried Züfle schreibt, "[n]nationalistische Tendenzen machen sich in immer mehr Regionen Europas breit" und fragt:
"Hat dieser Trend nicht auch gute Seiten? Träumen nicht viele sogar von einem 'Europa der Regionen'?"
Er führt später an den Beispielen Katalonien und Schottland aus:
"Sie streben kein 'Europa der Regionen' an. Sie wollen vielmehr neue Nationalstaaten ausrufen und damit neben die Regierungen in Madrid und London treten. Einen Europa-reformerischen Ansatz verfolgen sie nicht."
Abgesehen von den von Winfried Züfle angesprochenen Problemen - Abstimmungen, Staaten erster und zweiter Ordnung - stellt sich die Frage, welchen Nutzen der Rückzug auf den Nationalstaat überhaupt bringen soll. Richtig ist der Hinweis von Winfried Züfle auf das Subsidiaritätsprinzip, nach dem Aufgaben möglichst weit unten gelöst werden sollen und nur solche Aufgaben weiter oben, die dort besser gelöst werden können. Als Lachnummer europäischen Versagens wird an dieser Stelle gerne die Gurkenkrümmung angeführt, ein sagenhaftes Beispiel für Einmischung von oben - sagenhaft, weil es bei genauer Betrachtung nicht das Beispiel ist, für das es gehalten wird. Man wird dennoch Fälle finden, in denen eine europäische Entscheidung nicht der Weisheit letzter Schluss war. Dennoch rechtfertigt das nicht, die europäische Gemeinschaft insgesamt in Frage zu stellen. Niemand bringt sein Auto auf den Schrottplatz, weil ein Blinkerbirnchen kaputt ist.
Ohne große Diskussion dürfte bei folgenden Themenkomplexen Einigkeit erzielbar sein über den Nutzen eines gesamteuropäischen Auftritts:
  • Außenpolitik
  • Migration, Asyl
  • Sicherheitspolitik incl. behördlicher Kooperation bei Polizei und anderen Sicherheitsorganen
  • Wirtschaftspolitik incl. dem Verhandeln von Handelsvereinbarungen
  • Energiepolitik
Manch andere Politikfelder sind eine zwingende Konsequenz aus dem, was als gemeinsame Errungenschaft Europas gilt. Wer die Personenfreizügigkeit will, muss sich über den Abbau von Grenzen Gedanken machen. Wer einen gemeinsamen Wirtschaftsraum will, muss über den Abbau von Unterschieden nachdenken - das Beispiel Mobilfunk-Roaming zeigt, dass dies auch zu unmittelbarem Nutzen für die Bürger führen kann. 
Winfried Züfle zeigt am Beispiel Südtirols "die gelungene Integration einer aufbegehrenden Region in einen Staat". Die Autonomiebewegungen zeigen, dass sie kein rationales Anliegen haben, auch wenn sie es so darstellen. Wirtschaftlich starke Regionen (z.B. Katalonien) wollen sich vom Rest des Landes abspalten, weil sie so viel in den gemeinsamen Topf einzahlen und so wenig daraus bekommen würden. Mag sein. Doch bleibt offen, was die Differenz noch wert ist, wenn davon ein eigenständiger Staat finanziert werden müsste. Der Brexit hat gezeigt, mit welchen Halb- und Unwahrheiten ein ganzes Land aus Europa hinausgelogen werden kann. 
Insbesondere die Rechtspopulisten haben den Nationalstaat als ihr Vehikel entdeckt. Und viele Wähler fallen auf die Hohlformel herein, weil "ein mögliches Verschmelzen zu den 'Vereinigten Staaten von Europa' bei Bürgern und Politikern" ein "Unbehagen" auslöst. Dieser populistische Nationalstaat ist eine Chimäre:
  • Ungarn macht die Grenzen entlang des Staatsgebietes dicht, um die sich über den Balkan nähernden Flüchtlinge abzuhalten. Das Staatsgebiet ist Ungarn wurscht, wenn es um Doppelpässe für außerhalb Ungarns lebende Menschen geht, sofern sie eine Ahnenlinie nachweisen können. Widerspruch wurde abgeblockt mit dem Hinweis auf die Souveränität Ungarns, also wieder einem staatsgebietlich angelegten Konstrukt.
    Ähnliche Bestrebungen erwähnt Winfried Züfle im Zusammenhang mit Südtirol und den Überlegungen der neuen Wiener Regierung, Südtirolern mit deutscher oder ladinischer Muttersprache die doppelte Staatsbürgerschaft anzudienen. Nicht von der Hand zu weisen ist hierbei der Verdacht, es gehe um Beschaffung neuer loyaler Wähler. Richtig absurd wird das Ganze vor dem Hintergrund, dass auch in Österreich doppelte Staatsbürgerschaften (vor allem türkische) abgeschafft werden sollen.
  • In der AfD wünscht man sich kameradschaftlich deutsche Weihnachten:


    Die Ursprünge des Weihnachtsfestes, die lokal und "personell" nichts mit Deutschland zu tun haben, werden dabei ausgeblendet und "nach alter Tradition" gerufen. Offen bleibt dabei, was das für eine Tradition sei.
  • Donald Trump macht mit seinem "America first" den (nord)amerikanischen Kontinent gleich zu den USA. Wobei natürlich US-Interessen keineswegs an das Staatsgebiet gebunden sein sollen.
  • André Poggenburg von der AfD forderte "Deutschland den Deutschen". Im Wahlprogramm wurde ein europäisches Staatsvolk explizit negiert (Seite 7), stattdessen wird "dem Ideal freier Völker" gefrönt. Offen bleibt, was das Staatsvolk ausmachen soll: Ist es der Geburtsort, ist es eine Ahnenlinie, ist es der Pass, die Staatsbürgerschaft? Klar ist nur, dass die Kriterien sich wandeln je nach verfolgtem Zweck. 
Der populistische Brei des Nationalstaates ist angerührt aus geografischen, (mutter)sprachlichen, kulturellen und geburtlichen Ingredenzien in veränderlichen Anteilen. Es wird in großer Beliebigkeit jene Zutat betont, die zweckdienlich erscheint. Es wird auf eine angebliche Tradition verwiesen, selbst wenn die Ursprünge der Tradition in einem fremden Kulturkreis zu suchen sind. Es wird auf eine angeblich lange Geschichte verwiesen, auch wenn das aktuelle Staatsgebiet erst vor wenigen Jahrzehnten entstand. Nationalstaaten der Populisten sind Fantasmen, herbeifabuliert von Demagogen, um die größer (komplexer) gewordene Welt in leicht verdauliche Häppchen zu vereinfachen. Populistischer Brei ist am leichtesten zu Schlucken.
Winfried Züfle hat grundsätzlich recht, wenn er die Regionen für Europa betont. Doch ein Europa der Regionen wird nur funktionieren, wenn diese nicht ein Surrogat für den Nationalstaat abgeben. Es wäre nichts gewonnen, wenn nicht Österreich gegen Deutschland, sondern Kärnten gegen Sachsen wäre. Den Populisten dienen Nationalstaaten als fantastisches Konstrukt, um "Uns" und "die Anderen" zu separieren. Regionen lassen sich für die gleiche Trennung instrumentalisieren. Solange manche Menschen in Europa das Gefühl haben, sie verdienten mehr als sie haben, ihnen stünde mehr zu als sie aktuell bekommen oder jemand gefährde ihre Besitzstände, solange werden sie geschickten Demagogen auf den Leim gehen und sich holen, was ihnen vermeintlich zusteht - und wenn es das ganze Land ist, wie Alexander Gauland nach der Bundestagswahl verkündet hatte. Dann folgen auf fantastische Nationalstaaten fantastische Regionen und die europäische Idee hätte nichts gewonnen. Und die braunen Köche reiben sich die Kochlöffel.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen