Donnerstag, 4. Januar 2018

Offenbarung des Versagens

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 4.1. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Frage nach dem möglichen Scheitern einer erneuten GroKo diskutiert:


Walter Roller findet erstaunlich, dass "die SPD schweres Geschütz gegen die Union auffährt", hat doch die SPD in der letzten Legislatur die Politik mitgetragen, die sie nun ablehnt. Ja, man darf sich wundern.

Versagen der Volksparteien

Vor allem verwunderlich ist, wie die Volksparteien mit großer Stärke auftreten, wo doch der ganze Auftritt lediglich eine Offenbarung ihres Versagens ist. Dem gleichen Irrtum unterliegt Walter Roller:
"Dabei sollten doch die Wahlniederlage der Volksparteien und die sechs Millionen AfD-Stimmen gerade auch der noch mal geschrumpften SPD klargemacht haben, dass die Steuerung und dauerhafte Begrenzung des Zuzugs nicht nur im Interesse des Landes sind, sondern auch den Schlüssel zur Rückgewinnung von Wählern liefern."
Falsch, die Schlussfolgerung ist nicht, dass die "dauerhafte Begrenzung des Zuzugs" den "Schlüssel zur Rückgewinnung von Wählern" liefert. Die Schlussfolgerungen sind erst noch zu ziehen und der Weg aus der Situation aufzuzeigen. Bisher steht nur fest, die Volksparteien haben versagt:
  1. Sie haben strategisch versagt, weil die AfD das Thema Asyl und Migration besetzt hat und es den Volksparteien nicht gelungen ist, das Thema auf ein vernünftiges Maß zu stutzen und andere Themen im öffentlichen Diskurs zu setzen. Es gibt in der öffentlichen Wahrnehmung fast nur dieses Thema.
  2. Sie haben taktisch versagt, weil alle Volksparteien der Richtung der AfD folgen und ihr Heil in einer Verschärfung des Asyl- und Migrationsrechts suchen. An dieser Stelle scheint zumindest der SPD ein Dämmerlicht aufzugehen.
  3. Sie haben - und hier vor allem die Union, besonders die CSU - ethisch versagt, weil sie ihre europäischen, christlich geprägten konservativen Werte der Menschlichkeit, der Hilfe und des Gemeinsinns über Bord geworfen haben und durch eine Furcht vor Überfremdung und Überlastung ersetzt haben.
Das Versagen der Volksparteien ist auf ganzer Linie. Sie sind der AfD auf den braunen Leim gegangen und haben sich (noch?) nicht davon befreien können. So vehement, wie sie den Leim bespielen, stellt sich auch die Frage nach dem Wollen.
Walter Roller sieht drei Bruchstellen für eine GroKo:
  • Die gemeinsame Linie der Union gehe über das hinaus, was die SPD mittragen kann und will.
  • Die dem Wahlkampf der CSU geschuldete Härte sei "für deutsche Verhältnisse ungewöhnlich" hart.
  • Die SPD will eine liberale, "von humanitären Motiven geleiteten Flüchtlingspolitik"; die Union will eine eher auf "auf Kontrolle, Begrenzung oder gar Abweisung" abzielende.
Diese Analyse ist richtig, und sie zeigt zumindest für die SPD (hoffentlich), dass sie ihr Versagen korrigieren möchte. Die Union hat hier weniger Einsicht, die CSU ist auf dem Auge völlig blind.
Als Ausweg schreibt Walter Roller:
"Bei vielen einzelnen Maßnahmen wie der Kürzung von Sozialleistungen oder dem Freischaufeln legaler Zugangswege für Arbeitsmigranten sind Kompromisse nötig und machbar. Wenn die SPD eine Begrenzung sicherstellen und mitregieren will, dann wird sie sich allerdings bewegen und die Mahnung ihres Ex-Chefs Gabriel beherzigen müssen, die Sorgen von Bürgern ernster zu nehmen. Als Schutzmacht der 'kleinen Leute' ist die SPD besonders gefordert, eine Überforderung des Sozialstaats durch ungebremste Zuwanderung in die Sozialsysteme zu verhindern."
Das ist kein Aus-, sondern der Holzweg. Sozialleistungen sollen gekürzt werden und Asylbewerber in Zentren sich aufhalten. Die Menschen werden damit gehindert, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Ihnen werden Möglichkeiten der Integration durch Teilhabe genommen. Anschließend wird ihnen vorgeworfen werden, sie würden in Parallelgesellschaften leben.
Walter Roller malt "eine Überforderung des Sozialstaats" an die Wand - die von Rechtspopulisten gern genutzte Mär der "Zuwanderung in die Sozialsysteme" schimmert durch. Natürlich belasten Asylbewerber die Sozialsysteme, weil sie ja aus diesen finanziert werden. Nur, ein paar Beispiele:
  • Knapper Wohnraum in Städten ist ein Phänomen seit Jahren. Zuzug in Städte, Landflucht, Abbau des sozialen Wohnungsbaus, Belastung des Wohnungsbaus durch Bauvorschriften etc. sind seit Jahren und Jahrzehnten im Gange. Und nun sollen's die Flüchtlinge gewesen sein?
  • Probleme an Schulen mit auffälligen Schülern gibt es seit Jahren. ADHS bei Schülern, ausgebrannte Lehrer, zuwenig Lehrer, viel zu wenig Schulpsychologen, zu langsame Reaktion des Schulwesens auf neue Entwicklungen (siehe auch Digitalisierung) sind seit Jahren und Jahrzehnten im Gange. Und nun sollen's die Flüchtlinge gewesen sein?
  • Über Jahre hinweg wurde bei Polizei und Justiz gespart, Stellen abgebaut - auch in Bayern. Und nun sollen allein die Flüchtlinge Schuld sein, dass die Organe am oder über dem Limit arbeiten?
Zudem: Als "Schutzmacht der 'kleinen Leute'" ist wenig gewonnen, wenn die Flüchtlinge als Sündenböcke dargestellt werden. Die Politik hat sich in den Jahren von den kleinen Leuten entfremdet, sie fühlen sich deshalb von dieser Politik nicht mehr ernst genommen. Flüchtlinge sind das Vehikel, auf dem die Botschaft an die Politik transportiert wird, zur Verfügung gestellt von der AfD. Einem vernachlässigten Kind ist nicht geholfen, wenn die Eltern behaupten, der Nachbarsjunge sei böse und sich dann weiter nicht um's Kind kümmern. Wenn Walter Roller und die Volksparteien nun die Flüchtlinge als Hauptschuldige ausmachen, zeigen sie nicht ihre Analysefähigkeiten. Sie dokumentieren ihr Versagen, problemadäquate Lösungen zu entwickeln und ihr Versagen bei der Selbstkritik.
Zum Familiennachzug für subsidiär Schutzbedürftige fragt Walter Roller:
"Aber warum soll dies auch für jene gelten, die nur einen zeitlich befristeten Schutz genießen und in ihre Heimatregionen zurückkehren sollen, sobald dort wieder Friede eingekehrt ist?"
Den Familiennachzug zu versagen, wenn es um mehrwöchige Aufenthalte ginge, wäre in Ordnung. Der subsidiäre Schutzstatus kann jedoch über Jahre gelten. Es ist nicht einzusehen, warum der Familiennachzug am Status festgemacht werden soll und nicht an der zu erwartenden Aufenthaltsdauer. Zudem sollten die Proponenten der harten Linie auch die Ergebnisse einer Studie über Gewalttaten zur Kenntnis nehmen, über die die AZ in der selben Ausgabe berichtet hat. Im Bericht heißt es:
"Als besonders auffällige Gruppe machten die Forscher Flüchtlinge aus nordafrikanischen Ländern mit schlechter Bleibeperspektive aus. Dagegen wurden Syrer, Iraker und Afghanen vergleichsweise selten auffällig. 'Wer als Kriegsflüchtling für sich gute Chancen sieht, in Deutschland bleiben zu dürfen, wird bemüht sein, diese Aussichten nicht durch Straftaten zu gefährden', analysieren die Gutachter."
"Flüchtlinge leben in Deutschland häufig in Männergruppen zusammen – ohne Partnerin, Mutter, Schwester oder andere weibliche Bezugsperson. 'Überall wirkt sich negativ aus: der Mangel an Frauen', sagt dazu der ehemalige Direktor des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen (KFN), Christian Pfeiffer, der auch einmal Justizminister in Hannover war. Dieser Mangel erhöhe die Gefahr, dass junge Männer sich 'an gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen orientieren', schreiben die Autoren der Studie. Pfeiffer hält die Idee des Familiennachzugs deshalb für 'nicht dumm'."
Stattdessen meinen die Autoren:
"Angesichts des Anstiegs von Gewalttaten in Deutschland fordern Kriminologen eine bessere Integration junger Flüchtlinge. Notwendig seien unter anderem Sprachkurse, Sport und Praktika sowie Betreuungskonzepte für ohne Familie eingereiste Jugendliche, schreiben die Autoren einer erstellten Studie."
Der Leitartikel von Walter Roller ist ein Dokument der Offenbarung.

Das Versagen der CSU

In der selben Ausgabe der Print-AZ ist ein Interview mit dem CSU-Mann Hans-Peter Friedrich veröffentlicht, das das spezifische Versagen der CSU zeigt:


Auf die Frage, ob eine Kürzung von Sozialleistungen nicht Schwarzarbeit fördere, meint Friedrich:
"[...] wir geben ihnen Essen, Kleidung und ein Dach über dem Kopf. Für einen Sozialstaat wie unseren ist das angemessen. Darüber hinaus aber muss man nicht gehen."
Das sind Leistungen, wie sie jeder Bauer seinen Schweinen im Stall zukommen lässt. Auf die Idee, dass Menschenwürde mehr bedeuten könnte als ein voller Magen und ein Dach, kommt Friedrich nicht. Er versagt dabei, sich von den Forderungen der AfD abzukoppeln, die Flüchtlinge bestenfalls als Tiere gehalten sehen will. Er versagt dabei, die von der CSU auf die eigenen Fahnen geschriebenen christlichen Werte zu verteidigen. Er versagt dabei, konservativ im positiven Sinne zu sein.
Auf die Frage nach medizinischen Tests zur Altersfeststellung meint Friedrich:
"Das kommt darauf an, wie man die Sache gesetzlich regelt. [...] Wer nicht nachweisen kann oder durch eine Untersuchung nicht belegen will, dass er unter 18 Jahre alt ist, wird als Erwachsener behandelt."
Nun mag es in einem Rechtsstaat angehen, dass ein Anspruchsberechtigter seinen Anspruch nachweisen muss. Dass aber Friedrich am Glauben festhält, medizinische Untersuchungen könnten genau die Volljährigkeit feststellen, offenbart sein Versagen, in seinem Weltbild unerwünschte Erkenntnisse zur Kenntnis zu nehmen. Denn die Medizin räumt klar ein, dass eine medizinische Altersfeststellung etwa einen 20jährigen von einem 17jährigen unterscheiden kann. Sie kann aber nicht einen 17,9jährigen von einem 18,1jährigen unterscheiden. Wenn das Gesetz auf die Volljährigkeit abzielt, muss sie exakt bestimmbar sein. Wenn sie es nicht ist, muss der Rechtsstaatsgrundsatz gelten: "In dubio pro reo". Friedrich verwechselt hier offenbar den Grundsatz "In dubio pro duriore", der - anders als im Verfahrensverlauf - bei der Anklageerhebung Härte verlangt.
Auf die Frage nach dem Familiennachzug meint Friedrich:
"Wer nur subsidiären Schutz hat, wer also nur vorübergehend hierbleiben darf und so schnell wie möglich wieder gehen soll, der kann seine Familie nicht nachkommen lassen."
Friedrich versagt beim Verständnis, wie lange ein subsidiärer Schutz relevant sein kann und dass es sich nicht nur um wenige Wochen handelt. Er versagt bei der Bewertung der Konsequenzen, die ein permanentes Signal des Ihr-seid-hier-unerwünscht auf die Betroffenen und damit in Folge auch auf andere hat (wenn sich eben Menschen an "gewaltlegitimierenden Männlichkeitsnormen" orientieren und andere zu Opfern werden).
Doch den Gipfel des Versagens der Abkoppelung von der AfD offenbart Friedrich in seiner letzten Aussage auf die Frage, ob in Österreich das durchgesetzt wird, worüber die CSU nur redet:
"Ohne verbissen zu sein, ohne ausfällig zu werden, ohne jede Schärfe im Ton macht er (Kanzler Kurz, Anm.) eine Politik, die dem gesunden Menschenverstand folgt."
Kurz koaliert mit seiner ÖVP in Österreich mit den Rechtspopulisten der FPÖ. Natürlich kann Kurz sich den scharfen Ton sparen, das besorgt die FPÖ. Kurz trägt Anzug, die FPÖ die Kampfstiefel. Mit seiner Behauptung, die von der FPÖ-Leitlinie gestaltete Politik folge "dem gesunden Menschenverstand" offenbart Friedrich - stellvertretend für die gesamte CSU? - sein Versagen, eine von europäischen Werten geleitete Politik zu gestalten, die sich von mit diesen Werten inkompatibler Populistenpolitik unterscheidet. Dieses Interview ist ein weiterer Offenbarungseid in der Selbstaufgabe der CSU. Sie möchte als stark wahrgenommen werden und schafft es nur zu einem Mitläufer in der Kinderbande, in der die AfD den Ton angibt. Oder bereitet die CSU bereits langsam das Feld, auf dem sie mit der AfD eine "Koalition des gesunden Menschenverstandes" errichten möchte? Die Landtagswahl wird die Antwort liefern, wenn die CSU keine Alleinregierung mehr schafft und niemand - außer der AfD - den Rechtsruck mitmachen will.

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