Freitag, 8. September 2017

Kultur vor Gericht

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen am 8.9. einen Beitrag veröffentlicht zur Debatte um das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Aufnahme von Flüchtlingen:


Die EU hatte entschieden, eine Aufnahmequote für die EU-Länder zu realisieren. Nach dieser Quote sollten EU-Länder Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufnehmen, wo die meisten Flüchtlinge EU-Gebiet betreten. Walter Roller schreibt:
"Der Versuch Ungarns und der Slowakei, den Quoten-Beschluss vor dem höchsten europäischen Gericht zu Fall zu bringen, ist erwartungsgemäß krachend gescheitert. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat unmissverständlich klargemacht, dass die Entscheidung rechtmäßig zustandegekommen ist, und der Lissabon-Vertrag im Fall einer akuten Krise – und der Flüchtlingsansturm 2015 war so ein Notfall – die Ausnahme von der Regel eines einstimmigen Votums erlaubt. Alle Staaten sind also nun unzweifelhaft verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen."
Dem ist nichts hinzuzufügen. Daran ändert auch der Vorwurf nichts, "die Öffnung der deutschen Grenzen und die Aussetzung des Dublin-Abkommens [...] seien im deutschen Alleingang und ohne Absprache mit den EU-Partnern erfolgt". Walter Roller schreibt weiter:
"Doch jedes Land hat sich an das europäische Recht zu halten und Urteile zu akzeptieren. Anders kann die EU nicht funktionieren."
Richtig. Ich ziehe den Kreis sogar weiter. Europa zeigt auf Erdogan, weil seine willkürlichen Verhaftungen dem europäischen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit widersprächen. Ebenfalls nicht von diesem Verständnis gedeckt sind die Einschränkungen der Pressefreiheit, die sich durch Verhaftungen von Journalisten und dem Zusperren von Redaktionen ergeben. Europa blickt aber auch auf Polen und Ungarn, wo die europäische Staatskultur beschädigt wird durch mindestens rechtskonservative Umtriebe in der Regierung.
Auf abstrakter Ebene wird der Rechtsstaat hochgehalten. Im Konkreten wird er jedoch beschädigt, sobald es opportun erscheint. Diese äußerst fragwürdige Verständnis von Prinzipien zeigt sich auch im Urteil bzw. der Vorgängen, die zu dem Urteil geführt haben. Polen und Ungarn wollten in die EU, um von den Vorteilen zu profitieren. Vielleicht hat ein Wunsch nach Gemeinsamkeit und Gemeinschaft eine Rolle gespielt. Doch dann werden die sich ergebenden Verpflichtungen ignoriert, wenn sie der eigenen politischen Agenda zuwiderlaufen. Die EU gibt einen schönen Sündenbock ab für alle, die sich im Inland als starke Figuren präsentieren wollen. Rosinenpickerei nenne ich das und frage mich, ob das ein  Teil dessen ist, was viele als Leitkultur propagieren.
Die AfD beteiligt sich an dieser Pickerei. In einem AfD-Kompakt schreibt der Bundesvorstand:
"Was der Europäische Gerichtshof hier juristisch sanktioniert hat, ist genau jenes Europa, welches wir nicht wollen. [...] Eine derart heikle Entscheidung nicht einstimmig zu treffen, ist mindestens ungewöhnlich."
Die Partei, die sich sonst immer auf Mehrheit beruft, die Mehrheit im deutschen Volke, will plötzlich Einstimmigkeit statt Mehrheit. Sonst dienen der AfD Mehrheiten zum Übergehen der Minderheiten. Nun dreht sie dies um und will die Minderheit über die Mehrheit stellen. Ein ekelhafter Schlingerkurs.
Walter Roller schreibt richtig zu den harschen Reaktionen aus Polen und Ungarn:
"Daran sieht man, wie tief die Kluft innerhalb der EU inzwischen ist und wie kompromisslos bestimmte Staaten darauf beharren, allein darüber bestimmen zu können, wer einreisen darf oder nicht."
Er stellt die Frage, ob "mit Vertragsverletzungsverfahren, Bußgeldern und der Androhung von Subventionskürzungen" der Widerstand zu brechen sei. Richtig seine Antwort: Nein, weil es auch den betroffenen Flüchtlingen nichts helfen würde, wenn sie "mies" behandelt würden und rasch weiterziehen wollten. Dennoch:
"Einfach kleinbeigeben kann die EU nicht. Sie muss darauf bestehen, dass Urteile akzeptiert werden - sonst gerät das Rechtssystem ins Rutschen."
Richtig. Und weiter:
"Der Streit um die Flüchtlingspolitik und die knallharte nationalistische Gangart osteuropäischer Staaten führen die heillose Zerstrittenheit Europas eindringlich vor Augen."
Nein, nicht nur die Zerstrittenheit. Der Streit zeigt, wie fragil das ist, was als europäische Kultur allenthalben behauptet wird. Wie fragil das ist, was vor kurzem noch als Fels in der Brandung galt. Menschliche Prinzipien wie die Würde des Menschen gelten einer Regierung eines EU-Landes weniger, wenn es um Stimmenfang geht. Eine Opposition oder eine nicht im Parlament vertretene Organisation mag harte Reden schwingen. Für eine europäische Regierung gilt die europäische Leitkultur. Ohne Einschränkung.
Walter Roller schlägt vor:
"Ein Grund mehr, endlich die versprochene Reform der EU anzugehen – mitsamt der Option, in einigen Kernstaaten 'mehr Europa' zu praktizieren, während andere, auf ihre nationale Souveränität pochende Staaten in einer Wirtschaftsunion verbunden bleiben."
Darüber kann diskutiert werden. Wer jedoch "nationale Souveränität" über europäische Leitkultur stellt, sollte sich ernstlich mit der Frage befassen, ob er seine Souveränität nicht in viel größerem Ausmaß genießen will.

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