Samstag, 16. September 2017

Wohin Europa?

Walter Roller kommentiert in der Augsburger Allgemeinen vom 16.9. die Rede von EU-Kommissionschef Juncker, der "mehr Europa" gefordert und den Euro auch in Noch-nicht-Euro-Staaten einführen will:


Walter Roller fragt zu Recht, wohin Europa steuere:
"Was muss passieren, dass die EU handlungsfähiger wird, sich im globalen Wettbewerb behauptet und wieder die Herzen der Menschen erreicht? Was soll künftig die EU, was der – unverwüstliche – Nationalstaat erledigen? Wie bekommt Europa seine Krisen gemeinsam in den Griff?"
Er stellt darüber hinaus fest:
"Auch im Bundestagswahlkampf spielt das Thema keine nennenswerte Rolle. Mit Ausnahme der antieuropäischen AfD bekennen sich alle relevanten Parteien zur EU. Konkrete Konzepte jedoch, die den Bürgern ein genaueres Bild über die deutsche Marschroute liefern könnten, gibt es nicht."
Ja, Europa, die Annäherung der europäischen Länder, gemeinsame Politik und Währung sind seit einigen Jahren Gegenstand intensiver Debatten: in Brüssel, in Hauptstätten, an Stammtischen. Die einen wollen mehr, die anderen weniger oder kein Europa. Seit der Währungskrise und der "Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank" wurde ein Bruch offenbar, den Walter Roller so beschreibt:
"Im europäischen Nord-Süd-Konflikt geht es im Kern um Umverteilung und um den Versuch, das sogenannte deutsche 'Spardiktat' mithilfe jener Mehrheit zu brechen, die auch hinter der zugunsten der Schuldenstaaten betriebenen Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank steht."
An dieser Stelle ist die Vokabel "Umverteilung" bemerkenswert, weil sie hier negativ konnotiert. In Deutschland ist der Sozialstaat, der an die Schlechtergestellten umverteilt, hoch angesehen - trotz Kritik an bestimmten Phänomenen. Doch: Länderfinanzausgleich, unterschiedliche Steuersätze für unterschiedliche Einkommensgruppen, staatliche Subventionen für Kinder, Unterstützung für die Mittellosen etc. stehen ohne grundsätzliche Ablehnung fest. Intrastaatliche Umverteilung ist positiv, interstaatliche soll es nicht sein?
In gleicher Art bemerkenswert ist die Feststellung, wir wüssten nun, "was Brüssel und die EU-Kommission im Schilde führen". Diese Vokabel kommt im Kontext übler Absichten daher, niemand führt Gutes im Schilde. Walter Roller unterstellt Brüssel und der EU-Kommission Böses und erklärt:
"Seine Rede zur Lage atmet den Geist jener Vision eines europäischen Staats, die längst am Widerstand der Europäer und deren Wunsch nach einem Höchstmaß an Selbstbestimmung und demokratischer Transparenz gescheitert ist."
Wobei er einräumt:
"Natürlich muss die EU enger zusammenrücken, gemeinsame Probleme mit vereinten Kräften lösen und außenpolitisch öfter mit einer Stimme sprechen."
Weiter führt er aus:
"Statt sich auf das schon heute Machbare zu konzentrieren, will Juncker mehr Geld zur Umverteilung, mehr Zentralismus, mehr Macht für die Kommission, neue Mammutbehörden – auf Kosten nationaler Parlamente, die etwa bei der Kreditvergabe gar nichts mehr zu melden hätten. Das Motto lautet: Wir haben Probleme und lösen sie dadurch, dass Brüssel das Sagen hat, widerstrebende Mitgliedstaaten notfalls überstimmt und Verträge passend interpretiert werden."
Walter Rollers Denken haftet am Nationalstaat, den er unverwüstlich nennt. Damit benennt er, was die EU-Kritiker auf dem Schild tragen. Verbunden ist das mit dem Glauben, dass national die Probleme besser gelöst werden könnten. Walter Roller entblößt dies selbst:
"Der zentralistische Ansatz jedoch ist falsch, weil er weder der Vielfalt Europas noch dem Wunsch der meisten Bürger nach übersichtlichen Verhältnissen entspricht."
Wenn dies richtig wäre, müsste die Vielfalt in Deutschland zwischen Bayern und der Nord- und Ostsee unter dem nationalstaatlichen Gebilde ebenso leiden. Das Gegenteil ist wahr: die deutschen Bundesländer sind stärker zusammen als sie es einzeln sein könnten. Bayern bleiben dennoch Bayern, Hamburger Hamburger. Natürlich und selbstverständlich ist man gefordert in einer Gemeinschaft, sich einzubringen und vor allem nicht allein egoistisch auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen. Die anderen haben das gleiche Recht, ihre Bedürfnisse zu formulieren. In Diskussionen und Verhandlungen ist dann das Optimale für alle Beteiligten zu ermitteln und anschließend zu realisieren.
Walter Roller nennt den Nord-Süd-Konflikt in Europa, der sich vor allem am Euro und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einzelner Länder zeigt - auch in dramatisch unterschiedlichen Arbeitslosenquoten. Ein Ost-West-Konflikt tut sich auf im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Migration: die Visegrád-Gruppe hat sich aus einer europäischen Vereinbarung zur Flüchtlingsverteilung verabschiedet und verweigert trotz höchstgerichtlicher Entscheide die Kooperation. Sie hat sich damit auch von dem europäischen Grundprinzip "Rechtsstaatlichkeit" verabschiedet, nach dem sich Politik eben nicht über Recht und Gesetz hinwegsetzen kann immer dann, wenn es ihr opportun erscheint.
Walter Roller attestiert den meisten Bürgern, sie wünschten sich übersichtliche Verhältnisse. Ein verständliches und menschliches Wollen, die eigene Umwelt zu verstehen. Das nützen viele EU-Kritiker aus. Sie benennen - zu Recht - Probleme, oft Probleme, die ohne EU nicht oder nicht in dem Umfang entstanden wären. Damit ist es leicht, der EU die Schuld an den Problemen zuzuschanzen. Anschließend wird behauptet, das Problem wäre beseitigt ohne die EU.
Das ist falsch und offenbart, wie wenig Gemeinsinn bei manchen in der Gemeinschaft vorhanden ist. Die Nullzinspolitik wird nicht betrieben, um Deutschland zu ärgern, sondern in der Überzeugung, damit wirksam Ländern wie Italien oder Griechenland zu helfen. Nur aus deutscher Perspektive die Nullzinspolitik zu beleuchten, kann keinesfalls zu einer für die Gemeinschaft gültigen Antwort führen. Andersherum natürlich ebenfalls: nur mit Blick auf Griechenland geht's auch nicht.
Der Nord-Süd-Konflikt und andere Streitpunkte in der EU sind lediglich Symptome eines fehlenden Gemeinschaftsgedankens und politischer Beliebigkeit. Gegen Muslime lässt sich die europäische (Leit)Kultur ins Feld führen; sie wird sofort vergessen, wenn's um die "Vielfalt Europas" gehen soll. Bei Staatsverschuldung gilt die deutsche Schwarze Null als Bollwerk gegen Schuldenstaaten. Einbrecherbanden in Nordrhein-Westfalen können sich umhertreiben, weil die dortige Polizei nicht die Kraft der bayerischen hat. In einer Gemeinschaft würde man versuchen, die besten der vorhandenen Lösungen zu suchen, zu verbessern und zu implementieren. Ohne Gemeinsinn machen "die Anderen" vieles falsch und sollen sich gefälligst zum Teufel scheren. Das lässt sich solange rufen, bis einem niemand mehr zuhört und die Gemeinschaft nicht mehr existiert.
Europa muss für sich finden, was die Gemeinschaft ausmacht und ausmachen soll. Auf dieser Grundlage können dann konkrete Probleme innerhalb der Leitplanken der gefunden Gemeinschaftlichkeit gelöst werden. Sonst kommt genau das, was Rudi Wais so kommentiert hat:
"In dieser Situation geht der Kommissionspräsident den zweiten und dritten Schritt vor dem ersten."

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