Sonntag, 20. August 2017

Unterschätzter Terror

Die Augsburger Allgemeine hat am 19.8. den Terroranschlag in Barcelona kommentiert. Auf Seite 1 der Printausgabe mit einem Kommentar zu einem Bericht der Ausgabe vom gleichen Autor:


Michael Pohl schreibt:
"Seit Islamisten Lkw, Transporter und Autos als perfide Mordwaffen entdeckt haben und ohnehin - ebenso menschenverachtend wie feige - unschuldige Zivilisten als ihr Hauptziel gewählt haben, erleben die Europäer einmal mehr, wie verletzlich ihre offenen Gesellschaften sind."
Ja und Nein. Die Taten sind zweifelsohne menschenverachtend, feige. Die als Mordwaffen eingesetzten Gegenstände zeugen von der Perfidie der Täter. Es trifft Unschuldige. Aus Sicht der Terroristen sind es jedoch keine unschuldigen Zivilisten. Es sind Repräsentanten der Systeme, die sie bekämpfen. Es trifft nicht nur die "offenen Gesellschaften" der Europäer. Terroristen verüben ihre Mordanschläge in Kenia, in Afghanistan, in Indien, der Türkei und anderswo. Auch Gesellschaften, die nicht so offen wie die unsere sind, sind nicht gefeit.
Michael Pohl schreibt weiter:
"Die aus der als Islamisten-Hochburg bekannten Region um Barcelona stammenden Terroristen wählten sie [Las Ramblas, Anm.] vermutlich vor allem aus dem schlichten Zweck grenzenloser Bösartigkeit, möglichst viele Menschen zu ermorden."
Ja. Wer mit Autos Attentate begehen will, wird sich Ziele suchen, wo die Wirkung möglichst verheerend ist. Eine gewisse Symbolik des Ortes mag eine Art Garnitur sein, aber kaum ausschlaggebend. Die Attentate von Brüssel zeigen sogar, dass ursprüngliche Ziele aufgegeben und neue gesucht werden, wenn das aus Tatgründen sinnvoll erscheint. Deshalb: Ziel ist der pure Schaden. Michael Pohl fordert die "schärfste Beobachtung und konsequente Verfolgung der islamistischen Szene". Ja. Doch das schafft das Problem nicht aus der Welt. Es ist, als ob man einen Topfdeckel mit Steinen beschwerte, auf dass kein Dampf entweiche.
Walter Roller hat in der gleichen Ausgabe der AZ einen Leitartikel veröffentlicht:


Walter Roller schreibt, eines der weichen Ziele, "die nicht umfassend zu schützen sind", sei getroffen worden bei einem Attentat "mit einem leicht beschaffbaren Lkw". Seine Aussichten sind pessimistisch:
"Und selbst wenn es demnächst gelingen sollte, die Terrormiliz in ihrem syrisch-irakischen Kerngebiet militärisch zu besiegen, so wird der im Namen Allahs geführte Krieg gegen den Westen weitergehen – noch brutaler als bisher."
Er begründet dies damit, der IS sei "ja nur die Speersputze dieses Terrorismus, der Europa in Angst und Schrecken versetzen will". Die Attentate erfolgten "aus unbändigem Hass auf die 'Ungläubigen' und die säkularen, liberalen Gesellschaften". Hierzu - wie schon weiter oben - die Anmerkung, dass es nicht nur säkulare Gesellschaften trifft. Es trifft in anderen Ländern "Glaubensbrüder": Muslime sind ebenfalls Opfer von IS-Attentaten. Walter Roller entlarvt richtig:
"Die Nahostpolitik des Westens oder die angebliche soziale Ausgrenzung von Muslimen, die häufig als wesentliche Ursachen genannt werden, spielen dabei – wie im IS-Magazin Dabiq nachzulesen ist – nur eine untergeordnete Rolle."
Richtig. Aus dem Magazin habe ich bereits im August zitiert. An erster Stelle der "Begründung" findet sich der Begriff "disbelievers", Ungläubige. An zweiter Stelle folgt "secular, liberal societies permit the very things that Allah has prohibited", also das Widersetzen gegen Allahs Verbote. Ungläubig können sogar Muslime sein. Es reicht, wenn sie nicht dem "Steinzeit-Islam" folgen, den der IS diktiert, denn die "eingeschworenen jungen Männer verachten einfach alles, was uns lieb und teuer ist - und morden skrupellos". Auch wenn weibliche Attentäter in Europa bisher nicht in Erscheinung traten, zeigen die Ausreisen von jungen Mädchen in das IS-Gebiet, dass die Anziehungskraft des IS nicht nur Männer anspricht. Richtig natürlich, dass die überwiegende Mehrheit der Attentäter männlich ist.
Trotz ihrer Skrupellosigkeit werden die Terroristen nicht obsiegen:
"Die freien Gesellschaften sind stark genug, um diese ungeheure Herausforderung zu meistern. Und sie lernen, mit dieser furchtbaren Bedrohung zu leben, ohne in Panik zu verfallen. Nur nicht einschüchtern lassen und so weiterleben, wie man will: Das ist, wie am Tag nach dem Massaker von Barcelona zu Recht betont wurde, die einzig richtige Reaktion [...]"
Notwendig dazu sei die unbedingte "Entschlossenheit, den Mordbrennern und ihren salafistischen Sympathisanten mit allen rechtsstaatlichen Mitteln das Handwerk zu legen":
"Die Staaten Europas vermögen ihren Bürgern keine vollständige Sicherheit zu bieten. Aber sie müssen, zumal angesichts einer verschärften Bedrohungslage, noch enger zusammenrücken, um die Schwachstellen der Sicherheitsarchitektur auszubügeln."
Ja. Die Rechtsstaaten müssen dabei jedoch aufpassen, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten und bei der Beseitigung der Schwachstellen der Sicherheitsarchitektur den Rechtsstaat auf dem Altar vermeintlicher Sicherheit zu opfern. Dies ist zuletzt geschehen bei jüngst verabschiedeten Maßnahmenpaket, über das die AZ im Mai berichtet hatte:
"Um die Identität eines Flüchtlings ohne gültige Ausweispapiere klären zu können, soll künftig auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Datenträger zugreifen können, die die Asylbewerber bei sich haben. Gemeint sind damit vor allem Smartphones und SIM-Karten."
Dabei kann auf alle Daten zugegriffen werden, auch solche, die weit über das für die Identitätsfeststellung notwendige Maß hinausgehen. Das Maßnahmenpaket gerät damit in Konflikt mit Persönlichkeitsrechten, die beispielsweise den Schutz intimster Details sichern sollen. Solche Einschränkungen freiheitlicher Rechte werden inzwischen oft schulterzuckend zur Kenntnis genommen.
Für Walter Roller steht fest:
"Im Übrigen belegt die Anschlagsserie, dass die Gefahr zu lange unterschätzt wurde. Man hat, aus falsch verstandener Toleranz, die islamistischen Szenen und Netzwerke sowie deren Einpeitscher gewähren lassen und zugesehen, wie sich mitten in Europa antidemokratische Parallelgesellschaften gebildet haben."
Nein, die Anschlagsserie ist kein Beweis für das Unterschätzen der Gefahr. Gerade in und um Barcelona hat sich in den letzten Jahren eine große Salafisten-/Islamisten-Szene gebildet. Dies wurde von den Sicherheitsorganen sehr wohl bemerkt und Maßnahmen gesetzt. Der Anschlag gelang trotzdem. Zudem ist es nicht so, dass die Terrorgefahr seit langem unverändert gewesen wäre. Was mit dem Anschlag am 11. September 2001 begann und vor wenigen Tagen zu dem Attentat in Barcelona führte, zeigt eine Entwicklung. Die Strategie des Terrors hat sich gewandelt. Terroristen haben sich gewandelt. Heute begehen Menschen Attentate, die keinesfalls in der Lage wären, eine Tat wie in 2001 in New York zu planen und durchzuführen.
Mit dem Wechsel der Terrorstrategie wurden natürlich die Maßnahmen geändert. Einpeitscher schwärmten aus, um in verschiedenen Ländern leichte Opfer für ihre abstrusen Narrative zu suchen und zu finden. Sie agieren hier nicht anders als Einpeitscher der rechten oder linken Szene:
  • Sie suchen Menschen mit geringem Selbstwertgefühl, mit dem Gefühl, abgehängt und wehrlos zu sein, mit dem Gefühl fehlender Zugehörigkeit (an dieser Stelle spielt die von Walter Roller genannte "soziale Ausgrenzung" eine Rolle, es geht nicht um Terrorrechtfertigung, es geht um die Zielgruppe)
  • Sie bieten eine Geschichte, die Zugehörigkeit vermittelt und bedienen sich dabei aus dem Islam, dem Sozialismus oder der völkischen Gemeinschaft
  • Sie bieten eine Erklärung, wer und was Schuld ist am geringen Selbstwert und nennen Ungläubige, das Kapital, die Juden
  • Sie zeigen einen Weg aus der Misere und rechtfertigen dabei Gewalt (Beispiele lieferten u.a. Interviews anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg)
Islamisten haben den fragwürdigen "Vorteil", ein jenseitiges Leben versprechen zu können. Rechts- oder Linkseinpeitscher können nur ein diesseitiges Utopia zeichnen. Dies könnte mit eine Erklärung sein, warum islamistischer Terror mehr Todesopfer fordert als Links- oder Rechtsterror.
Nun mag trefflich diskutiert werden, ob die islamistische Gefahr unterschätzt wurde oder die Einschätzung der Gefährdung notgedrungen der tatsächlichen Gefährdung nachlaufen muss. Letztendlich spielt das keine Rolle. Die Sicherheitsbehörden sind gefordert, eine realistische Einschätzung zu liefern. Walter Roller fordert, "endlich Schluss" zu machen mit "Parallelgesellschaften", die sich "aus falsch verstandener Toleranz" entwickeln können. Er sollte dabei nicht nur auf Islamisten zeigen, sondern auch auf Reichsbürger, auf Identitäre, auf das linke Spektrum. Auch dort finden sich Staatsverächter, die die Freiheiten des Rechtsstaates für ihre Zwecke ausnützen. Und bis zu einem gewissen Grad ausnützen dürfen, denn dies ist das Wesen eines Rechtsstaates in unserem europäischen Verständnis. Wenn Reichsbürger mit ihren abstrusen Ansichten in Deutschland unbehelligt leben dürfen, solange sie keine Straftaten begehen, muss dieses Recht auch anderen Personen mit anderen abstrusen Ansichten zustehen. Wer Straftaten begeht, muss die rechtsstaatlichen Konsequenzen tragen, unabhängig von persönlichen Ansichten.
Walter Roller schließt:
"Aber der Islamismus, der in seiner radikalsten Spielart Gewalt legitimiert, hat nun mal mit dem Islam zu tun. Deshalb ist die islamische Welt gefordert, konsequenter als bisher die Auseinandersetzung mit den Extremisten zu führen und den im Namen ihrer Religion verübten Terror zu ächten."
Das ist, als ob von Katholiken erwartet würde, sich permanent von tödlich verlaufenden Exorzismen zu distanzieren. Oder alle Autofahrer von Rasern. Da gefällt mir die Einschätzung von Jürgen Marks Anfang Juni anlässlich der Anschläge in London besser. Er schrieb:
"Doch der Kampf gegen den islamistischen Terror ist selbstverständlich auch eine Aufgabe der Muslime."
Auch eine Aufgabe der Muslime. Keine Aufgabe für die Muslime allein. Ich schrieb damals:
"Die Ablehnung terroristischer Gewalt ist - wenn man so will - 'überreligiös' und muss jedem Menschen ein Anliegen sein."
Die Aufgabe für Muslime besteht nicht in der "Auseinandersetzung mit den Extremisten" und der Ächtung des "im Namen ihrer Religion verübten" Terrors. Die Aufgabe besteht darin, einen Common Sense ihrer Religion zu entwickeln und zu etablieren, der es Einpeitschern schwer macht, sich der Religion als gemeinsame Klammer und Gewaltrechtfertigung zu bedienen. Die Aufgabe für den Rechtsstaat besteht darin, aufmerksam zu bleiben und unter Wahrung der Freiheitsrechte professionell innerhalb einer modernen Sicherheitsarchitektur gegen Kriminelle und Terroristen vorzugehen - wobei klar ist, dass er nie aller habhaft werden und es weiterhin zu Verbrechen kommen wird. Die Aufgabe des Sozialstaates besteht darin, aufmerksam zu bleiben und Menschen die Hilfe zuteil werden zu lassen, dass sie keine leichte Beute mehr für Einpeitscher sind.

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