Samstag, 1. Juli 2017

Zeitgeist für alle

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 1.7. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die "Ehe für alle" sowie dem Weg dahin kommentiert:


Walter Roller schreibt:
"Es ist ein großer Tag für Schwule und Lesben. Es ist ein historischer Erfolg für die Grünen."
Dem ersten Satz stimme ich zu und ergänze: für alle, die "Leben und leben lassen" verinnerlicht haben, die es für selbstverständlich erachten, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle, die es ernst meinen mit der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit aller Menschen. Walter Roller beleuchtet hierbei zwei Aspekte, die getrennt betrachtet werden müssen.

Ehe für alle

Der erste Aspekt ist das Rechtsinstitut der Ehe selbst, zu dem Walter Roller weiter schreibt:
"Das Rechtsinstitut der Ehe, seit Jahrhunderten in unserem Kulturraum der Verbindung von Mann und Frau vorbehalten, wird für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet. Die mit großer Mehrheit getroffene Entscheidung des Bundestages hebelt das traditionelle, im Einklang mit dem Grundgesetz stehende Verständnis von Ehe aus und vollzieht per einfachem Gesetz, was dem vorherrschenden Zeitgeist entspricht."
Ja, die Ehe wurde "in unserem Kulturraum" lange als "Verbindung von Mann und Frau" verstanden und stand "im Einklang mit dem Grundgesetz". Es ist anzufügen, dass der §175 StGB, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, von 1872 bis 1994 mehrere Jahrzehnte ebenfalls im Einklang mit dem Grundgesetz war, weil er nicht durch eine Richterentscheidung, sondern durch eine politische Entscheidung abgeschafft wurde. Dass die "Ehe für alle" nun "per einfachem Gesetz" vollzogen wird, kann deshalb nicht als Argument für eine ablehnende Haltung gegenüber dem Gesetz herangezogen werden. Dennoch unbenommen:
"Man wüsste gern, wie Karlsruhe darüber denkt. [...] Trotzdem ist es sehr fraglich, ob die Verfassungsrichter im Fall einer Klage den Gesetzgeber zurückpfeifen."
Ich denke ebenfalls nicht, dass die Verfassungsrichter "den Gesetzgeber zurückpfeifen" würden. Denn anders als "Ehe für alle" dem Wortlaut nach klingt, ist der Umfang des Gesetzes klar umrissen. Es soll gleichgeschlechtlichen Paaren die gleiche Rechtsstellung gegeben werden wie verschiedengeschlechtlichen. Es ging nie um das, was manche an die Wand malen als Untergang des Abendlandes: Vielehen oder Ehen mit Kindern oder mit Tieren.
Es darf nicht vergessen werden, welche Historie die Ehe hat. Früher war sie ein probates Mittel der Politik. Heirat sollte die Verbindung zwischen Gruppen, Clans, Fürstentümern, Königreichen, Bauernhöfen, Handwerkern etc. stärken. Das waren keine Heiraten aus Liebe. Die Kinder aus diesen Ehen sollten keine Kinder der Liebe sein, sondern Garanten der politischen oder ökonomischen Verhältnisse. Vielleicht waren Ehen auch Vehikel, um männliche Besitzansprüche gegenüber Frauen zu formulieren und so den Sexualvollzug für sich selbst zu sichern. Damit wäre die Ehe keinesfalls ein hohes Gut, sondern lediglich ein in Worte gegossener Keuschheitsgürtel. Die Historie der Ehe muss sich vor Augen halten, wer mit ihrer kulturellen Tradition argumentiert.
Walter Roller schreibt:
"Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates; das höchste Gericht hat die Ehe wiederholt als Verbindung von Mann und Frau definiert, weil ja nur daraus - das macht den Unterschied aus - Kinder hervorgehen können."
Das ist ein Argument, das oft gebracht wird. Allerdings ist es nicht stichhaltig und unterminiert die Ehe. Wenn es richtig wäre, dürfte der besondere Schutz auch nur den Ehen gelten, aus denen Kinder hervorgehen. Doch was ist mit Ehen, die
  • geplant kinderlos bleiben?
  • ungeplant kinderlos bleiben?
  • geschlossen werden im höheren Alter, wenn Kinder inzwischen aus dem Haus sind?
Sind das alles Beispiele für Ehen zweiter Klasse, für unwürdige Ehen? Wer die Ehe als Institution so eng an das Kinderkriegen knüpft, muss sich ernsthaft fragen, ob er sie wirklich als lebenslanges Versprechen der gegenseitigen Liebe und Fürsorge versteht oder nicht lediglich als die Rechtsform einer Gebärmaschine.
Ja, der Zeitgeist hat die "Ehe für alle" ermöglicht, so wie er vor Jahren die Abschaffung des oben erwähnten §175 ermöglicht hat. Walter Roller schreibt:
"Ein Unbehagen bleibt. Das hat nichts mit Homophobie, sondern mit dem Gefühl vieler Menschen zu tun, dass die Fundamente der Gesellschaft ins Rutschen geraten sind und zu viel an Bewährtem über Bord geworfen wird."
Für viele mag es Unbehagen sein, das bleibt. Manch andere sehen das strenger, finden Homosexualität widernatürlich, haben gar Angst vor "Ansteckung". Das Unbehagen hadert mit dem Zeitgeist, der sich schneller bewegt als vielen lieb ist - wobei das viele andere Aspekte des Lebens wie Digitalisierung, Globalisierung etc. ebenfalls betrifft. Das hat, wie Walter Roller richtig schreibt, "nichts mit Homophobie" zu tun. Allerdings wird bei manchem Gegner der "Ehe für alle" der Vorwurf der Homophobie schwerer zu widerlegen sein.

Politischer Weg zur Ehe für alle

Die Diskussion zog sich über Jahre. Die Äußerung von Angela Merkel, es sei eine Gewissensentscheidung, war der Zündfunke, an dem sich die Parlamentsentscheidung von gestern entzünden konnte. Walter Roller schreibt:
"Es ist bedauerlich, dass diese bedeutsame Entscheidung am Ende hoppla-hopp und im Schatten machtpolitischer Spiele zustande kam. Doch das Wehklagen der Union über den 'Vertrauensbruch' des Koalitionspartners SPD ist fehl am Platze."
Ja, "diese bedeutsame Entscheidung" hätte einen besseren politischen Kontext verdient, jenseits "machtpolitischer Spiele". Es ist müßig, nun aufzählen zu wollen, wer wie oft in welchem Ausschuss oder Gremium welchen Schritt verhindert oder nicht initiiert hat. Das ist nur die Fortsetzung der Spiele. Was bleibt ist: "ein großer Tag". Denn was wäre die Alternative gewesen, zu der Walter Roller schreibt:
"Sie hat sich kühl von einer klassischen konservativen Position verabschiedet, um nur ja nicht den Anschluss zu verlieren. Wer will, kann das prinzipienlos nennen. Aber hätten Merkel und Seehofer [...] eine längst verlorene Schlacht weiterführen sollen?"
Richtig, die Schlacht war verloren, wie die Entwicklung der letzten Jahre gezeigt hat. Das zeigt das grundsätzliche Dilemma der "klassischen konservativen Position": Sie widersetzt sich dem Zeitgeist. Sie kann aber nicht gewinnen. Walter Roller hat natürlich recht, wenn er am Schluss fordert, konservative Positionen müssten "von den politischen Mehrheiten auch ernster als bisher genommen werden". Das Dilemma bleibt. Wer sein Heil ausschließlich im Gestern sucht, wird sich morgen nicht mehr wiederfinden.

Leserbriefe

Zu den Vorgängen rund um die Parlamentsentscheidung sind viele Leserbriefe veröffentlicht worden, von denen ein paar hier zitiert werden wollen. Dr. Gerhard Großkurth findet, Merkel setze sich "immer da über demokratische Gepflogenheiten, geltendes Recht und gültige Verträge [hinweg], wo es dem deutschen Volk zum Schaden gereicht":


Er schreibt Merkel ein "autokratisches Image" zu. Ein Autokrat zu sein ist ein Vorwurf, den sich Personen vom Schlage eines Putin oder Erdogan gefallen lassen müssen. Es ist zu fragen: wenn sich Merkel immer wieder über geltendes Recht hinwegsetzt und dem deutschen Volk schadet, warum greift Dr. Großkurth nicht zu rechtsstaatlichen Mitteln und geht gegen die behaupteten Rechtsbrüche vor?
Zwei weitere Leserbriefe verdienen Erwähnung und Zitat:


Rudolf Speth meint, Merkel habe Angst, "im Herbst keinen Koalitionspartner zu bekommen". Er meint, aus reinem Machterhalt gehe "Einigkeit vor Wahrheit", die Wahrheit werde gar "verleugnet". Er sieht eine Abwendung "vom wahren Gott", einen "Irrtum", wenn Merkel glaubt, "dass gleichgeschlechtliche Paare dieselben Werte hätten". Es wäre interessant zu wissen, ob Rudolf Speth zwar für Deutschland fordert, Politik müsse sich am "wahren Gott" orientieren, für Muslime aber die Befolgung der Scharia ablehnt.
Konrad Geißler unterstellt den alten Römern strotzende Dekadenz, dennoch "gingen sie aber bei großem sittlichen Verfall und absehbarem Ende ihrer Republik" nicht "den Schritt zum Erhalt aller Eherechte für Schwule und Lesben". Solche historischen Vergleiche sind nicht hilfreich, weil sie den jeweiligen zeitlichen Kontext, die Gepflogenheiten (Kultur) ausblenden und lediglich auf Ebene von Vokabeln vergleichen. So entsteht kein Erkenntnisgewinn. Doch Konrad Geißler setzt nach und frägt, "woher die Nachkommen und Pflegekräfte für diese Personen kommen sollen, die unsere Schwulen und Lesben im Alter betreuen werden." Das ist ein Argument aus dem finstersten Mittelalter, als die Ehe noch - wie oben ausgeführt - ein Instrument der Politik war. Ein solches Argument hat der Zeitgeist längst hinweggespült.

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