Freitag, 21. Juli 2017

Politische Themenwellen

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 21.7. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er das Fehlen der Flüchtlingsthemas im Wahlkampf kritisiert:


Zwar sei der "große Ansturm [...] vorüber. Aber die nächste Migrationskrise", ausgelöst durch "Afrikaner auf [der] Suche nach einem besseren Leben in Europa" "schon in Sicht". Richtig, nur weil derzeit so etwas wie Ruhe herrscht in Deutschland, ist der Themenkomplex nicht verschwunden. Wie nah das Ganze ist, zeigt die Drohung Österreichs, den Brenner zu sperren, um Flüchtlingen den Weg aus Italien nach Norden abzuschneiden - die AZ hat Anfang der Woche darüber berichtet. Walter Roller weiter:
"Umso erstaunlicher, dass darüber im Bundestagswahlkampf kaum geredet wird."
Ja, man staut wirklich. Walter Roller verdächtigt die Union, "das Thema aus dem Wahlkampf raushalten" zu wollen, um der AfD kein Futter zu geben. Ein Blick in das Regierungsprogramm der CDU zeigt zwar nicht die Motivation, jedoch wie wenig relevant das Thema erachtet wird. Im Kapitel "Menschen in Not helfen, Migration steuern und reduzieren, abgelehnte Bewerber konsequent zurückführen" schreibt die CDU:
"Wir werden die menschenverachtenden Aktivitäten der Schleuser energisch bekämpfen und Möglichkeiten schaffen, dass Migranten ohne Schutzanspruch von der Überfahrt nach Europa abgehalten werden. Gleichzeitig wollen wir helfen, gemeinsam mit internationalen Organisationen ihre Lebensbedingungen vor Ort zu verbessern. Nach dem Vorbild des EU-Türkei-Abkommens wollen wir entsprechende Verträge auch mit afrikanischen Ländern abschließen.[...]
Ein starker Staat braucht insgesamt einen starken öffentlichen Dienst. Gerade in Zeiten von Verunsicherung brauchen wir öffentliche Institutionen, welche die staatlichen und kommunalen Aufgaben gut und umfassend erledigen. Wir setzen auf einen leistungsfähigen öffentlichen Dienst mit motivierten Mitarbeitern, ausreichend Personal und zeitgemäßer Ausstattung. Wir stehen zu den bewährten beiden Säulen des öffentlichen Dienstes, den Tarifangestellten und dem Berufsbeamtentum mit seinen Prinzipien Besoldung, Versorgung und Beihilfe."
Beachtlich, wie die Kurve von Toten im Mittelmeer zu Versorgung und Beihilfe von Beamten und Angestellten gezogen wird. Bei der Korrektur eines Schulaufsatzes würden Lehrer an Themenverfehlung denken.
Die SPD ist in ihrem Regierungsprogramm ausführlicher:
"Fluchtursachen wollen wir mit außen-, sicherheits- und entwicklungspolitischen Initiativen bekämpfen. Es ist unser Ziel, zerfallende Staaten zu stabilisieren und Gewalt und Bürgerkriege einzudämmen. [...]
Geflüchteten Menschen wollen wir frühzeitig dort helfen, wo sie sich zunächst in Sicherheit gebracht haben. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) benötigt dafür eine angemessene Ausstattung und kontinuierliche Finanzierung. [...]
Wir wollen eine solidarische Verteilung der Aufgaben für Flüchtlingshilfe und eine einheitliche Entscheidungspraxis in der Europäischen Union. [...]
Die Außengrenzen müssen besser vor illegalen Grenzübertritten geschützt werden. [...]
Grundvoraussetzung für uns: Menschenrechte werden geachtet und die Genfer Flüchtlingskonvention wird eingehalten. Asylverfahren werden grundsätzlich weiterhin auf europäischem Boden durchgeführt. Entlang der Fluchtrouten wollen wir außerdem Anlaufstellen schaffen."
Darüber könnte man diskutieren - Walter Roller schreibt, die SPD "will jetzt ebenfalls keine Debatte über die Leitplanken der Flüchtlingspolitik". Erstaunlich, zumal es zum Leitbild der Gerechtigkeit passt, die sich die SPD auf die Fahnen geschrieben hat.
Walter Roller listet einige Fragen auf, um die es unter anderem geht:
"Doch wie will es die Politik schaffen, die illegale Zuwanderung dauerhaft zu begrenzen und die Kontrolle darüber zu gewinnen, wer Aufnahme findet? Wie lange will man noch hinnehmen, dass das Asylrecht zum Einwanderungsrecht geworden ist? Was fordern wir von den Zuwanderern? Hat die magnetische Wirkung Deutschlands auch mit den Sozialleistungen zu tun? Was passiert in einer Gesellschaft, deren Bevölkerungsstruktur sich so rasch verändert? Wird sie 'gewaltaffiner, machohafter, antisemitischer', wie der CDU-Spitzenpolitiker Spahn befürchtet?"
Berechtigte Fragen, die auch anders gestellt werden könnten:

  • Wie kann Einwanderung gesteuert werden, ohne das Asylrecht auszuhöhlen?
  • Wie kann das Asylrecht gestaltet werden, damit es zielgenau helfen kann?
  • Was bedeutet Integration für alle Beteiligten, welche Bedürfnisse und Beiträge Einzelner können und müssen berücksichtigt werden?
  • Was ist eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen in Europa und wie kann sie umgesetzt werden?
  • Was passiert mit einer Gesellschaft, in der zu solch großen Fragekomplexen mit simplen Lösungen, Fake News, Hate Speech "diskutiert" wird?

Die unterschiedliche Formulierung inhaltlich gleicher Fragen zeigt ein Problem auf: Wie soll die Diskussion gestaltet werden? Eine "Antwortvariante" ist die von Walter Roller kritisierte, die sich der Diskussion nicht stellt und sich in seiner Frage widerspiegelt:
"Aber wo bleibt der große Diskurs der Parteien darüber, wohin die Reise gehen soll und unter welchen Bedingungen Deutschland tatsächlich 'so bleibt, wie es ist' (Angela Merkel)?"
Eine andere "Antwortvariante" ist die Art und Weise, wie in den letzten eineinhalb Jahren diskutiert wurde. Beides lehne ich ab. Weder hilft es, das Thema auszublenden. Noch hilft es, mit Über- und Untertreibungen und in großer Lautstärke lediglich emotional (Schein)Argumente wider zu käuen. Walter Roller hierzu:
"Am linken und rechten Rand des Parteienspektrums ist die Sache klar. Die Linkspartei will 'offene Grenzen für alle', die AfD totale Abschottung. Beides ist unverantwortlicher Unfug."
Ein echter großer Diskurs wäre nötig. Die Bevölkerung darf beanspruchen zu erfahren, wohin die Reise geht. Ich bin im Zweifel, ob ein Wahlkampf mit seinen plakativen Verkürzungen das geeignete Umfeld für diesen Diskurs ist. Der Zeitpunkt vor einer Wahl, in der über die Politik für die nächsten Jahre entschieden wird, wäre der richtige.
Der Beginn der Diskussion muss dabei früher ansetzen: bei der Frage, ob Deutschland so bleiben solle, wie es ist (oder war, wie es sich die AfD wünscht) oder welche Veränderungen erfolgen können. Hierzu passt eine der Geschichten von Herrn Keuner, die Bertold Brecht verfasst hat. In "Das Wiedersehen" heißt es:
"Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: Sie haben sich gar nicht verändert. 'Oh!' sagte Herr K. und erbleichte."
Politik tritt an, etwas verändern zu wollen; die FDP nimmt gar ein neues Denken für sich in Anspruch. Doch Deutschland soll so bleiben, wie es ist. Ein erstaunlicher Widerspruch.

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