Mittwoch, 29. Juni 2016

Walter Rollers Lektion

Walter Roller hat am 29.06. in der Augsburger Allgemeinen einen Leitartikel zur Lernlektion aus der Brexit-Abstimmung in Großbritannien veröffentlicht:


Walter Roller schreibt:
"Für den Moment kommt es darauf an, den Laden zusammenzuhalten und den Bürgern zu signalisieren, dass die Botschaft angekommen ist."
Es ist ja richtig, die britische Entscheidung als Botschaft aufzufassen. Die Frage ist jedoch, welche Botschaft. Walter Roller ist der Meinung, bei "einem Großteil des Führungspersonals" sei die Botschaft nicht angekommen und er schickt seine Botschaft durch den Äther:
"Sie alle wollen 'mehr' Europa, obwohl die Lektion des Brexit 'weniger' Europa lautet. Wer ausgerechnet jetzt einer 'Vertiefung' der EU mitsamt einer weiteren Machtverlagerung nach Brüssel das Wort redet, der hat wirklich nicht verstanden."
Dieser Abschluss des Leitartikels macht zu Nichte, was vorher als durchaus zutreffende Analyse leise aufblühte:
"Der Austritt Großbritanniens ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die seit langem im Gange und von einem enormen Vertrauensverlust in die Institutionen Europas geprägt ist."
"Die große Mehrheit der Europäer kennt und schätzt die Errungenschaften der Union, die Frieden und Wohlstand beschert hat."
Dazwischen wuchert es leider unkrautig:
"Alle Versuche, den 'Brexit' als (korrigierbaren) Betriebsunfall und als Irrtum einer von Populisten verführten, ungenügend aufgeklärten Mehrheit darzustellen, lenken vom Kern des Problems ab und lassen den Respekt für ein demokratisches Votum vermissen."
Walter Roller tut jegliche Kritik am britischen Wahlkampf und der teilweise an Hand von Lügen geführten Argumentation als Ablenkung ab. Er ignoriert Boris Johnsons Behauptungen während des Wahlkampfes, die Johnson nach nach der Entscheidung zurücknahm. Roller tut so, als gäbe es nicht diejenigen Wähler, die ihre Wahl nun bereuen und sich betrogen und belogen fühlen. Er tut so, als wäre eine Volksabstimmung per se die Krönung demokratischer Entscheidungsfindung. Er tut so, als wäre das Wahlvolk zu einer vollständig wohlüberlegten Entscheidung fähig und willens. Er tut so, als würden auch emotional getroffene Abstimmungsentscheidungen jedenfalls zu zukunftsträchtigen und vernünftigen Ergebnissen führen. Tatsächlich verweist er nur auf die Oberfläche, er blickt nicht in die notwendige Tiefe.
Walter Roller bemerkt zu Recht:
"Viel wäre schon gewonnen, wenn die politischen Eliten dieses Unbehagen endlich ernst nehmen und die Probleme, die wirklich nur gemeinsam zu lösen sind, entschlossener anpacken würden. Ein Patentrezept zur Rettung des Einigungsprozesses gibt es nicht. Es bedarf vieler kleiner, vertrauensbildender Maßnahmen – und des Versuchs, die Europäer aufs Neue von der europäischen Idee zu überzeugen. Die komplizierte Gemengelage in einem so großen, auch von natürlichen Interessengegensätzen geprägten Staatenbund erlaubt keine Reformen über Nacht."
Er hat auch im Grundsätzlichen Recht, wenn er Befindlichkeiten zusammenträgt, die die Abstimmungsentscheidung beeinflusst haben:
"Vieles spielt da mit hinein: der Ärger über die Regulierungswut, die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU in existenziellen Fragen wie dem Schutz der Außengrenze, gebrochene Verträge, die ewige Eurokrise, das Defizit an demokratischer Kontrolle, das Gefühl, fremdbestimmt zu sein."
Das sind bis zu einem gewissen Grad berechtigte Kritikpunkte, das sind aber auch die genau die Wunden, die Populisten mit viel Salz bearbeiten. Die AfD schreibt auf ihrer Website:
"Die Briten haben sich gegen die Brüsseler Bevormundung entschieden. [...] Der Brexit zeigt: Wir müssen Europa neu denken. Die europäische Zusammenarbeit muss den EU-Zentralismus überwinden. Das Europa der Vaterländer wird ein Europa der Bürger sein."
Alice Weidel äußert sich ebenfalls aus der AfD-Website:
"Mit dem Brexit haben die Briten ein klares Signal gegen die fortschreitende Entmündigung der beteiligten Völker und einen Europäischen Bundesstaat gesetzt. Nun wären Demut und Selbstreflexion geboten, aber das Gegenteil ist der Fall [...]"
Walter Roller hat die Chance verpasst, zu einer echten Weiterentwicklung Europas aufzufordern. Sein Leitartikel tritt als seriöser Lektionenlehrer im Anzug auf, im Herzen ist er jedoch ein Ausbilder in AfD-Uniform.



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