Montag, 27. Juni 2016

Welche Volkesstimme den Brexit rief

Die Augsburger Allgemeine hat am 27.6. einen Artikel von Katrin Pribyl veröffentlicht:


Am Anfang des Artikels findet sich erhellendes zu den Grundannahmen mancher Wähler:
"Mandy dachte, ihre Stimme hätte kein Gewicht. Adam war der Meinung, sein Votum zähle nicht. Lauren erging es ebenso. Hazel auch. Alle vier sind um die 20 und haben beim Referendum für den Austritt gestimmt. Und nun? Sind sie am Boden zerstört, nachdem das Pfund abgestürzt ist, die Wirtschaft gefährlich zu wackeln beginnt, Premierminister David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat und es um nichts weniger geht als um die Zukunft des Königreichs."
Sie gingen zur Abstimmung über den Austritt aus der EU in der Annahme, ihre Stimme zähle nicht. Warum dann abstimmen? Nach der Abstimmung kommt das große Bedauern:
"Sie haben es nicht so gemeint, entschuldigen sich die Mandys, Adams, Laurens und Hazels dieses Landes, und würden ihre Entscheidung gerne rückgängig machen. Sie gehören zu den etlichen 'Bregretters' – ein Wortspiel aus Regret (Bedauern) und Britain –, die sich nun in sozialen Medien und in der Presse melden."
Das wirft ein besonderes Licht auf eine solche Volksabstimmung:
  • Die Wähler waren sich der Konsequenzen nicht bewusst. Weder war ihnen klar, dass ihre Stimme etwas bewirken würde noch was die Konsequenzen sein würden. Trotz eines wochen- und monatelangen Wahlkampfes. Das ist frappierend.
  • Die Entscheidung wurde mit einfacher Mehrheit getroffen. Es gab keine Mindestanforderung bzgl. Wahlbeteiligung oder Zustimmungsrate. Um in Deutschland den Tierschutz als abstraktes Ziel und ohne unmittelbare Folgen für die Lebenswirklichkeit in die Verfassung aufzunehmen ist eine höhere Hürde zu nehmen als bei der Volksbefragung zum Brexit.
  • Es ist keine demokratische Kontrolle vorgesehen. Gesetze müssen in Deutschland von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Bei der britischen Abstimmung wurde von einem (!) Gremium entschieden, wenn man so will. Vorher war Wahlkampf, keine Diskussion oder Debatte.
Diskussion und Debatte sind jedoch unbedingt notwendig zu führen, bevor weitreichende Entscheidungen getroffen werden. Der Wahlkampf war keine Debatte. Er war geprägt von gegenseitigen Angriffen, Beschimpfungen und der Gleichen mehr. Die EU-Befürworter waren unpatriotische Sektierer in den Augen der Brexit-Befürworter. Letztere sahen sich als Patrioten, von ersteren schon fast als Nazis gegeißelt. In diese - von ihnen selbst - aufgeheizte Stimmung hinein riefen die Proponenten allerlei Warnungen und Versprechungen. Der Same fiel auf fruchtbaren Boden, bis der erste Spross sich zeigte:
"'Ich habe fürs Gehen gestimmt, weil ich diese Lügen geglaubt habe, und ich bereue es mehr als alles andere', schreibt Katy unter dem Hashtag #WhatHaveWeDone auf Twitter. Als das Boulevardblatt Daily Mail, das mit der Sun am lautesten für den Brexit getrommelt und dafür vor allem Ängste gegen Einwanderung geschürt hat, in einem Bericht die Folgen aufzeigt, löst das einen Sturm der Entrüstung aus. Im Artikel heißt es, das Pfund sei nun weniger wert, weshalb Urlaube mehr kosten werden. Dass die Renten an Wert verloren haben, die Briten bald nicht mehr ohne Einschränkungen innerhalb der EU arbeiten, studieren und reisen können und es teurer wird, ein Ferienhaus in Spanien zu kaufen."
"'Die Remain-Kampagne hat also die Wahrheit erzählt', schreibt Victor aus Leeds. 'Ich habe vor dem Referendum hier nie solch einen informativen Artikel gelesen', beschwert sich die 42-jährige Anne. 'Viele Leute dachten, das war alles nur Panikmache der Befürworter eines Verbleibs, deshalb wählten wir mit unseren Herzen ,Out‘. Aber nun haben wir die Sorge, dass das keine gute Idee war', sagt der Engländer John."
Es scheint, als habe nicht die beste Entscheidung gewonnen. Gewonnen hat, wer am besten seine Zielgruppe erreichen konnte. Gewonnen hat, wer am wirkungsvollsten die Psychologie der Massen bewegt hat. Gewonnen hat, wer mit den offensivsten Angeboten, teilweise unabhängig von Fakten, den am schönsten glänzenden Honigtopf propagierte.
Es bleibt die Frage, welche Stimme des Volkes gesprochen haben soll. Bestimmte Landstriche stimmten für, andere gegen den Brexit. Ältere waren dafür, Jüngere dagegen. Geringer gebildete waren dafür, Höhergebildete dagegen. Arbeiter waren dafür, Büroangestellte waren dagegen. Die Entscheidung wurde nicht mit der Stimme des Volkes ausgesprochen. Niemand hat sich ernstlich bemüht, die unterschiedlichen Perspektiven zu einer "Volksperspektive" zu vereinigen.
Ich bin froh, dass Deutschland eine repräsentative Demokratie ist. Natürlich wäre eine direkte Demokratie demokratischer. Allerdings nur theoretisch. So wie auch neoliberale Marktwirtschaft theoretisch stärkere Kräfte freisetzt als die soziale. Die Theorie übersieht, dass nicht alle Teilnehmer am Markt oder in der Demokratie die gleichen Handlungskompetenzen aufweisen und es deshalb nicht zu einer für alle optimalen Entscheidung kommen muss. Spätestens, wenn sich einzelne Teilnehmer unlauter bewegen, sei es durch Lügen, durch Täuschen, durch eklatante Über- oder Untertreibung, durch rücksichtslose Machtgier etc., braucht es ein wirksames Gegenmittel im System des Marktes und der Demokratie.


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