Donnerstag, 28. September 2017

Die Liga der CSU

Walter Roller kommentiert in der Augsburger Allgemeinen vom 28.9. die Vorgänge in der CSU nach der Bundestagswahl:


Walter Roller bewertet die Situation der CSU:
"Für die CSU nämlich ist diese Niederlage ein Menetekel, ein Zeichen an der Wand. Nun holt sie wieder jener Albtraum ein, der schon einmal, 2008 nach dem Sturz Stoibers, wahr geworden ist: der Verlust der absoluten Mehrheit in Bayern.
Allein regieren zu können, keine Kompromisse machen zu müssen – das ist seit eh und je die Maxime dieser Regionalpartei, der ohne dieses Alleinstellungsmerkmal der Abstieg aus der Bundesliga droht."
Es ist schon pikant, wenn eine demokratische Partei mit einem "in ihrer DNA verankerten Ziel absoluter Mehrheiten" ein Problem hat, nicht mehr allein regieren zu können und "Kompromisse machen zu müssen". Allerdings macht diese DNA auch klar, warum Horst Seehofer - und mit ihm die gesamte CSU - glaubt, kompromisslos auf Obergrenze, Maut und anderen Themen bis zum Ärgernis für die Zuschauer insistieren zu können. Daran schließt sich die Frage an, was aus demokratischer Sicht so schlimm wäre, wenn es der CSU nicht gelänge, "2018 einen großen Teil der zur AfD (und zur FDP) abgewanderten Wähler zurückzuholen", es vielleicht "für alle Zeit aus mit der Alleinherrschaft". Natürlich nichts. Außer einer DNA-Verletzung in den CSU-Genen. Oder vielmehr dem CSU-Besitzdenken.
Dennoch wird die CSU panisch. Sie war es nicht gewohnt, dass rechts von ihr eine demokratisch legitimierte Partei Raum fordert. Sie ist es auch heute nicht und versucht verzweifelt, der AfD "vor allem mit einer gesetzlichen 'Obergrenze' das Wasser" abzugraben. Dabei kann sie nur verlieren, weil die AfD solche Forderungen immer überbieten kann. Im Wahlprogramm der ÖVP für die österreichischen Wahlen Mitte Oktober steht bereits eine Obergrenze von Null, wie beispielsweise der Standard berichtet.
Dass sich die Union über Jahrzehnte als rechteste anerkannte Partei halten konnte, lag vor allem daran, dass sie kaum ernsthaft von rechts angegriffen wurde. Die Republikaner waren eine rasch geplatzte Blase auf dem braunen Sumpf. Die NPD hielt sich länger, brachte jedoch außer kleinen Blüten nichts zustande - nicht einmal zum Parteienverbot hat es für die nichtigen Politdeppen gereicht. Mit der AfD scheint erstmals eine Partei ausreichend stark zu sein, sich dauerhaft etablieren zu können, rechts der Union.
Was kann darauf die Antwort sein? Das Austauschen von Köpfen, Söder statt Seehofer zum Beispiel, hat lediglich symbolischen Wert. Völkisch-nationale Politkonzepte sind mit der AfD hoffähig, zumindest für einen Teil der Wählerschaft. Die CSU muss sich fragen, bis wohin sie ihre konservative Seele nach rechts ausstülpen kann, ohne den Kern ihrer Seele zu verraten. Es ist legitim, dass sie versucht, Wähler von der AfD zurück zu gewinnen. Walter Roller schreibt dazu:
"Wenn Merkel Wähler zurückgewinnen und die Gefahr einer weiteren Erosion der Union bannen will, dann wird sie sich endlich auch um die konservative Kundschaft kümmern müssen."
Ja, allerdings kann auch das nicht heißen, jeden Rechtsruck der Kundschaft mitzumachen. Wenn für manch Rechte die Union bisher die einzige ernsthafte Ausdrucksmöglichkeit bei Wahlen war, haben die mit der AfD - oder einer zukünftigen Petry-Partei - eine weitere hinzugewonnen. Es ist nicht notwendig, die Union soweit nach rechts zu rücken, dass die AfD "erdrückt" wird. Niemand braucht eine AfD-Light in Form einer ewig-gestrigen weit rechts-konservativen CSU oder CDU. Das Angebot der Union an die Wähler muss - schon um den nötigen Abstand zur AfD zu wahren - ein moderner Konservativismus sein. Es ist fraglich, ob der eine Obergrenze zum Leben braucht.

Montag, 25. September 2017

Walter Rollers Paukenschlag

Walter Roller kommentiert in der Augsburger Allgemeinen den Ausgang der Bundestagswahl:


Er nennt das Wahlergebnis einen "Paukenschlag", sieht den "Niedergang der großkoalitionären Volksparteien", einen "tiefen Einschnitt" in der Geschichte Deutschlands. Dennoch sei das System gefestigt genug, um den Rechtsruck zu verkraften. Er mahnt an, Union und SPD müssten ihre Lehren ziehen, damit die AfD keine feste Größe werde. Das Lernfeld sei die Flüchtlingspolitik, wo "die Probleme kleingeredet und die Sorgen der Menschen nicht ernst genug genommen" worden wären.
Walter Roller hat Recht, wenn er die Flüchtlingspolitik als Ursache ausmacht. Huckepack damit kam die Sicherheitspolitik daher. Richtig ist auch, dass bestimmte Probleme im Zusammenhang mit Aysl und Migration unterschätzt wurden. Andererseits wurden und werden Probleme aufgebauscht. Es ist politische Taktik der Rechten, Einzelfälle als repräsentativ zu propagieren und so Ängste zu schüren. Die AfD war in den neuen Bundesländern stärker als in den alten, obwohl dort viel weniger Flüchtlinge und Migranten leben. Mithin: Die Asylpolitik ist durch das Geschrei der rechten Parteien inzwischen zum Sündenbock verkommen, mit der rechte Agenden umgesetzt werden sollen.
Horst Seehofer hat am Wahlabend verkündet, nun besonders intensiv auf die Realisierung des Bayernplans hinwirken zu wollen. Vor lauter Angst, rechts neben der Union dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben, versucht er so weit nach rechts zu rücken, dass er den Platz selbst einnimmt. Dabei übersieht er - und auch Walter Roller - dass zu Strauß' Zeiten die Lehren des Dritten Reiches so präsent waren, dass eine echte rechte Partei nicht erfolgreich sein konnte. Der Einzug der AfD in den Bundestag ist nicht der Rechtsruck. Der Rechtsruck sind die nun ins Kraut schießenden Forderungen, man müsse Lehren ziehen und mit rechten "Lösungsvorschlägen" auf von Rechten geschürte Ängste antworten. Die Lehre ist, dass sich Rechte nicht rechts überholen lassen werden. Eine gute Politik muss eine der Vernunft sein, geleitet von den Werten, auf die Deutschland und Europa sind.

Sonntag, 24. September 2017

Das Ende

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 23.9. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er Angela Merkel als zukünftige Kanzlerin erwartet und hofft, dass nicht noch einmal eine große Koalition den demokratischen Diskurs einschränkt:


Walter Roller schreibt:
"Der in allen Umfragen gemessene Vorsprung der Union ist zu groß, als dass er im Endspurt noch wettgemacht werden könnte. Das Rennen um das Kanzleramt ist gelaufen."
Auch wenn Demoskopen sich um einige Prozentpunkte verschätzen sollten, dürfte das Ergebnis für den ersten und zweiten Platz keine Überraschung bergen. Allerdings:
"Bis zur letzten Minute spannend sind der Kampf um Platz drei [...]"
Außerdem spannend, welche Regierung tatsächlich gebildet werden wird:
"Spannend bleibt, mit wem Merkel künftig regiert. Da es in einem Sechs-Parteien-System wohl weder für Schwarz-Gelb noch für Schwarz-Grün reicht, bleiben nur zwei Optionen: die Fortführung der Großen Koalition oder 'Jamaika', ein für deutsche Verhältnisse exotisch und labil anmutendes Bündnis von CDU, CSU, FDP und Grünen. Der Wähler weiß also nicht genau, was er für seine Stimme bekommt."
Denkbar wäre auch eine Minderheitsregierung - kaum zu erwarten, dass sich Merkel darauf einließe. Es ist für die Demokratie kein Schaden, wenn der Wähler vor der Wahl nicht genau weiß, "was er für seine Stimme bekommt". Denn:
"Die Demokratie lebt vom Mitmachen der Bürger und einer zivilisierten Streitkultur im Ringen um den richtigen Weg."
Das Ringen um den richtigen Weg findet vor und nach der Wahl statt. Die Sondierung von Koalitionsmöglichkeiten und das Verhandeln eines Koalitionsvertrages ist Teil des demokratischen Spiels. Am Ende dieser Suche mag eine Politik stehen, die sich in der Form in keinem einzelnen Wahlprogramm der beteiligten Parteien findet.
Walter Rollers Hinweis, dass Bürger mitmachen müssen, ist richtig. Die Bürger sind der Souverän. Die AfD behauptet, sich das Land wieder zurück zu holen. Sie behauptet dabei eine "Enteignung" des Landes durch die Eliten. Das Volk solle - wie ein Bestohlener - vom Dieb das Eigentum zurückholen. Walter Roller kommentiert:
"Spannend ist der Aufstieg der rechten AfD, die nun eine große Bühne für ihre nationalistischen, teils völkisch-dumpfen Parolen erhält."
Den Aufstieg der AfD mag man spannend nennen. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass sie nun die "große Bühne für ihre nationalistischen, teils völkisch-dumpfen Parolen" nutzen wird. Das ist ihr gutes Recht als im Bundestag vertretene Partei in der Opposition. Auf einer großen Bühne auftreten zu dürfen, heißt noch lange nicht, die Bühne auch auszufüllen. Spannend wird, welches Schauspiel die AfD zeigen wird.
Walter Roller wünscht sich keine weitere große Koalition und schreibt zur Begründung:
"Es war kein Ruhmesblatt in der Geschichte des Parlamentarismus, dass epochale Entscheidungen wie die Grenzöffnung oder die Euro-Rettungspolitik vom Bundestag mit erdrückenden Mehrheiten durchgewunken wurden und weite Bevölkerungskreise mit ihren Einwänden weder Stimme noch Gehör fanden. Auch dies hat im Übrigen maßgeblich zum Erfolg der AfD beigetragen."
Richtig ist, dass die große Koalition eine erdrückende Mehrheit hatte: von 630 Sitzen waren 502 Sitze von CDU, CSU und SPD. In einer solchen Konstellation gerät die Opposition unter die Räder, weil beispielsweise auch in Ausschüssen die Regierung eine übermächtige Gruppierung stellt. Zudem ist mit der FDP, die nicht im Bundestag vertreten war, eine mögliche Oppositionspartei nicht präsent gewesen. Im zukünftigen Bundestag wird die AfD dafür sorgen, dass Oppositionsarbeit mit großer Lautstärke betrieben werden wird. Diese Lautstärke wird sich in der Bevölkerung fortsetzen, wie der Wahlkampf mit den Schrei- und Pfeiforgien gezeigt hat. Der zukünftige Bundestag wird also nicht so von der Regierung erdrückt werden können wie der vergangene. Deshalb wäre eine weitere große Koalition kein fauliges "Ruhmesblatt in der Geschichte des Parlamentarismus".
Walter Roller sieht die "erdrückenden Mehrheiten", die "weite Bevölkerungskreise mit ihren Einwänden" überhörten, als maßgeblich für den Erfolg der AfD. Er schreibt ferner:
"Die etablierten Parteien sollten daraus [Aufstieg der AfD, Anm.] lernen, dass der von der Flüchtlingskrise profitierenden Protestpartei nicht mit Ausgrenzung und Dämonisierung, sondern nur mit harten Argumenten sowie dem Benennen und Lösen von Problemen beizukommen ist."
Die AfD begann 2013 als Partei gegen den Euro. Der Euro sollte demnach Schuld sein an einer drohenden Verarmung in Europa. Später kamen Flüchtlinge, Asyl und Migration als Gefährder hinzu. Gleich blieb die Argumentationslinie: Den Bürgern stünde etwas zu und das würde von außen bedroht. Wo es anfangs um einen Rückzug aus Europa ging, wurde zunehmend und mit Wechsel der Gefährder das Nationale bis in den Nationalismus hinein betont. Gegen ein Mir-steht-etwas-zu-Gefühl wird eine "vernünftige Politik" nur bedingt helfen.
Walter Roller wendet sich gegen "Ausgrenzung", fordert harte Argumentation und das "Benennen und Lösen von Problemen". Grundsätzlich richtig. Allerdings ist nicht jede Sau, die von der AfD durch das Dorf getrieben wird, ein Problem, das benannt und gelöst werden muss. Andererseits ist nicht alles, was die AfD als Problem benennt, Fiktion und Einbildung. Im Parlament mögen Argumente verfangen, in die Echokammern der sozialen Netzwerke, in denen die AfD sehr aktiv und erfolgreich ist, dringen sie nicht vor. In diesen Echokammer wird die Welt gezeichnet von der Jungen Freiheit, von RT Today und anderen. Alles andere ist Lügenpresse, Establishment, manchmal Volksverräter.
Im Parlament wird sich dennoch die Frage stellen, mit wem von der AfD in "einer zivilisierten Streitkultur im Ringen um den richtigen Weg" Gespräche möglich sind. Ein Sitz im Parlament ist kein Garant für eine solche Kultur, wie Landesparlamentarier der NPD - geprägt von Ahnungslosigkeit und Egozentrik - gezeigt haben. Sollten sich einzelne Teufel im Gewand der AfD in das Parlament schleichen, dürfen sie als Teufel offenbart werden. Eine Argumentation setzt beim Gegenüber voraus, sich die Argumente überhaupt anhören zu wollen. Wer sich hier bereits der "zivilisierten Streitkultur" verweigert, braucht sich über ausbleibende Einladungen nicht zu wundern.
Walter Rollers Einschätzung darüber, wie spannend der Wahlkampf war, trifft zu. Doch die Spannung ist mit dem Schließen der Wahllokale nicht zu Ende. In den kommenden Jahren wird sich erweisen, welches "Ruhmesblatt in der Geschichte des Parlamentarismus" der Einzug der AfD in das Parlament und der Umgang der anderen Parteien mit dem Neuankömmling werden wird. Die Frage, ob eine große Koalition gebildet werden wird oder nicht, ist dagegen nur eine Eintagsfliege.

Samstag, 16. September 2017

Wohin Europa?

Walter Roller kommentiert in der Augsburger Allgemeinen vom 16.9. die Rede von EU-Kommissionschef Juncker, der "mehr Europa" gefordert und den Euro auch in Noch-nicht-Euro-Staaten einführen will:


Walter Roller fragt zu Recht, wohin Europa steuere:
"Was muss passieren, dass die EU handlungsfähiger wird, sich im globalen Wettbewerb behauptet und wieder die Herzen der Menschen erreicht? Was soll künftig die EU, was der – unverwüstliche – Nationalstaat erledigen? Wie bekommt Europa seine Krisen gemeinsam in den Griff?"
Er stellt darüber hinaus fest:
"Auch im Bundestagswahlkampf spielt das Thema keine nennenswerte Rolle. Mit Ausnahme der antieuropäischen AfD bekennen sich alle relevanten Parteien zur EU. Konkrete Konzepte jedoch, die den Bürgern ein genaueres Bild über die deutsche Marschroute liefern könnten, gibt es nicht."
Ja, Europa, die Annäherung der europäischen Länder, gemeinsame Politik und Währung sind seit einigen Jahren Gegenstand intensiver Debatten: in Brüssel, in Hauptstätten, an Stammtischen. Die einen wollen mehr, die anderen weniger oder kein Europa. Seit der Währungskrise und der "Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank" wurde ein Bruch offenbar, den Walter Roller so beschreibt:
"Im europäischen Nord-Süd-Konflikt geht es im Kern um Umverteilung und um den Versuch, das sogenannte deutsche 'Spardiktat' mithilfe jener Mehrheit zu brechen, die auch hinter der zugunsten der Schuldenstaaten betriebenen Nullzinspolitik der Europäischen Zentralbank steht."
An dieser Stelle ist die Vokabel "Umverteilung" bemerkenswert, weil sie hier negativ konnotiert. In Deutschland ist der Sozialstaat, der an die Schlechtergestellten umverteilt, hoch angesehen - trotz Kritik an bestimmten Phänomenen. Doch: Länderfinanzausgleich, unterschiedliche Steuersätze für unterschiedliche Einkommensgruppen, staatliche Subventionen für Kinder, Unterstützung für die Mittellosen etc. stehen ohne grundsätzliche Ablehnung fest. Intrastaatliche Umverteilung ist positiv, interstaatliche soll es nicht sein?
In gleicher Art bemerkenswert ist die Feststellung, wir wüssten nun, "was Brüssel und die EU-Kommission im Schilde führen". Diese Vokabel kommt im Kontext übler Absichten daher, niemand führt Gutes im Schilde. Walter Roller unterstellt Brüssel und der EU-Kommission Böses und erklärt:
"Seine Rede zur Lage atmet den Geist jener Vision eines europäischen Staats, die längst am Widerstand der Europäer und deren Wunsch nach einem Höchstmaß an Selbstbestimmung und demokratischer Transparenz gescheitert ist."
Wobei er einräumt:
"Natürlich muss die EU enger zusammenrücken, gemeinsame Probleme mit vereinten Kräften lösen und außenpolitisch öfter mit einer Stimme sprechen."
Weiter führt er aus:
"Statt sich auf das schon heute Machbare zu konzentrieren, will Juncker mehr Geld zur Umverteilung, mehr Zentralismus, mehr Macht für die Kommission, neue Mammutbehörden – auf Kosten nationaler Parlamente, die etwa bei der Kreditvergabe gar nichts mehr zu melden hätten. Das Motto lautet: Wir haben Probleme und lösen sie dadurch, dass Brüssel das Sagen hat, widerstrebende Mitgliedstaaten notfalls überstimmt und Verträge passend interpretiert werden."
Walter Rollers Denken haftet am Nationalstaat, den er unverwüstlich nennt. Damit benennt er, was die EU-Kritiker auf dem Schild tragen. Verbunden ist das mit dem Glauben, dass national die Probleme besser gelöst werden könnten. Walter Roller entblößt dies selbst:
"Der zentralistische Ansatz jedoch ist falsch, weil er weder der Vielfalt Europas noch dem Wunsch der meisten Bürger nach übersichtlichen Verhältnissen entspricht."
Wenn dies richtig wäre, müsste die Vielfalt in Deutschland zwischen Bayern und der Nord- und Ostsee unter dem nationalstaatlichen Gebilde ebenso leiden. Das Gegenteil ist wahr: die deutschen Bundesländer sind stärker zusammen als sie es einzeln sein könnten. Bayern bleiben dennoch Bayern, Hamburger Hamburger. Natürlich und selbstverständlich ist man gefordert in einer Gemeinschaft, sich einzubringen und vor allem nicht allein egoistisch auf die eigenen Bedürfnisse zu schauen. Die anderen haben das gleiche Recht, ihre Bedürfnisse zu formulieren. In Diskussionen und Verhandlungen ist dann das Optimale für alle Beteiligten zu ermitteln und anschließend zu realisieren.
Walter Roller nennt den Nord-Süd-Konflikt in Europa, der sich vor allem am Euro und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einzelner Länder zeigt - auch in dramatisch unterschiedlichen Arbeitslosenquoten. Ein Ost-West-Konflikt tut sich auf im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Migration: die Visegrád-Gruppe hat sich aus einer europäischen Vereinbarung zur Flüchtlingsverteilung verabschiedet und verweigert trotz höchstgerichtlicher Entscheide die Kooperation. Sie hat sich damit auch von dem europäischen Grundprinzip "Rechtsstaatlichkeit" verabschiedet, nach dem sich Politik eben nicht über Recht und Gesetz hinwegsetzen kann immer dann, wenn es ihr opportun erscheint.
Walter Roller attestiert den meisten Bürgern, sie wünschten sich übersichtliche Verhältnisse. Ein verständliches und menschliches Wollen, die eigene Umwelt zu verstehen. Das nützen viele EU-Kritiker aus. Sie benennen - zu Recht - Probleme, oft Probleme, die ohne EU nicht oder nicht in dem Umfang entstanden wären. Damit ist es leicht, der EU die Schuld an den Problemen zuzuschanzen. Anschließend wird behauptet, das Problem wäre beseitigt ohne die EU.
Das ist falsch und offenbart, wie wenig Gemeinsinn bei manchen in der Gemeinschaft vorhanden ist. Die Nullzinspolitik wird nicht betrieben, um Deutschland zu ärgern, sondern in der Überzeugung, damit wirksam Ländern wie Italien oder Griechenland zu helfen. Nur aus deutscher Perspektive die Nullzinspolitik zu beleuchten, kann keinesfalls zu einer für die Gemeinschaft gültigen Antwort führen. Andersherum natürlich ebenfalls: nur mit Blick auf Griechenland geht's auch nicht.
Der Nord-Süd-Konflikt und andere Streitpunkte in der EU sind lediglich Symptome eines fehlenden Gemeinschaftsgedankens und politischer Beliebigkeit. Gegen Muslime lässt sich die europäische (Leit)Kultur ins Feld führen; sie wird sofort vergessen, wenn's um die "Vielfalt Europas" gehen soll. Bei Staatsverschuldung gilt die deutsche Schwarze Null als Bollwerk gegen Schuldenstaaten. Einbrecherbanden in Nordrhein-Westfalen können sich umhertreiben, weil die dortige Polizei nicht die Kraft der bayerischen hat. In einer Gemeinschaft würde man versuchen, die besten der vorhandenen Lösungen zu suchen, zu verbessern und zu implementieren. Ohne Gemeinsinn machen "die Anderen" vieles falsch und sollen sich gefälligst zum Teufel scheren. Das lässt sich solange rufen, bis einem niemand mehr zuhört und die Gemeinschaft nicht mehr existiert.
Europa muss für sich finden, was die Gemeinschaft ausmacht und ausmachen soll. Auf dieser Grundlage können dann konkrete Probleme innerhalb der Leitplanken der gefunden Gemeinschaftlichkeit gelöst werden. Sonst kommt genau das, was Rudi Wais so kommentiert hat:
"In dieser Situation geht der Kommissionspräsident den zweiten und dritten Schritt vor dem ersten."

Seehofers Unklartext

Die Augsburger Allgemeine hat am 15.9. ein Interview mit dem CSU-Chef Horst Seehofer veröffentlicht:


Horst Seehofer meint zum Erfolg der AfD in Umfragen und dem erwartbaren Abschneiden in der Bundestagswahl:
"Die Themen, die die Menschen am meisten umtreiben, sind wieder richtig da. Die Fragen der Sicherheit und der Zuwanderung lagen nur einige Monate irgendwo im Schlummerkasten."
Deshalb sei die Position der CSU klar:
"Die Menschen wollen klare Aussagen, klare Positionen. Gruppierungen wie die AfD kleinzuhalten, ist nicht dadurch zu erreichen, dass man ständig über sie spricht. Man hält sie nur klein, wenn man in den entscheidenden Bereichen Klartext redet und den Menschen Antworten auf ihre Fragen gibt. Das ist unser Ansatz."
Ja, dafür ist der Wahlkampf da. Den Wählern soll aufgezeigt werden, welche Politik mit welcher Partei kommen soll. Welche Politik tatsächlich realisiert wird, hängt maßgeblich von den Mehrheitsverhältnissen ab, von Koalitionen. Solange keine Partei alleine regieren kann, wird sich die Regierungspolitik als Mischung der Wahlprogramme der beteiligten Parteien präsentieren.
Die CSU hat sich #Klartext auf die Fahnen in den sozialen Medien geschrieben für den Wahlkampf 2017. Dabei ist sie so klar, dass sie ein gemeinsames Wahlprogramm mit der CDU geboren und als eine Art teuflische Nachgeburt den Bayernplan hervorgebracht hat. Die CSU macht Wahlkampf mit und für Angela Merkel, die keine Obergrenze will. Die CSU macht ein Wahlprogramm ohne Obergrenze und behauptet, mit Merkel regieren zu wollen. Die CSU erweckt dabei den Eindruck, als sei das bereits festgelegt: wenn sich eine Regierungsmehrheit für die Union findet, wird die Union gemeinsam regieren. Doch dann:
"Und wenn es so ist, dass wir weiter regieren, dann sage ich hier und heute: Wir garantieren die Obergrenze."
Soviel zur Klarheit: Erst die Behauptung, ohne Obergrenze keine Koalition, dann gemeinsames Wahlprogramm ohne Obergrenze, dann wieder Regierungsbeteiligung nur mit Obergrenze. Das ist kein klarer Kurs, kein Klartext. Das ist mäandrierender Unklartext.
Horst Seehofer macht zwei Einschätzungen:
"Ich erwarte die schwierigsten Koalitionsverhandlungen seit langem – wenn es überhaupt dazu kommt."
"Wir garantieren die Obergrenze. Sie ist praktikabel, verfassungsfest und notwendig."
Die CSU bisher keine Belege angeführt, dass die Obergrenze "verfassungsfest" sein. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichtes, Andreas Voßkuhle, meint, eine Obergrenze sei unzulässig, weil der individuelle Schutzanspruch des Asyls nicht begrenzbar sei. Lediglich bei der "normalen Zuwanderung" sei eine Obergrenze politisch machbar. Doch Horst Seehofer ignoriert bei seinen Ausführungen zur Obergrenze den Unterschied zwischen Zuwanderung und Asyl. Das hat seit Monaten Methode, bei ihm und in der CSU überhaupt.
Horst Seehofer widerspricht sich selbst, wenn er klare Worte fordert. Auf die Frage, die die CSU in Koalitionsverhandlungen ihre Positionen durchsetzen will, sagt er:
"Lassen Sie das mal meine Sorge sein. Ich weiß, wie das geht. Es gibt keinen günstigeren Zeitpunkt zur Durchsetzung von Positionen als die Zeit zwischen einer Bundestagswahl und der Wahl eines Kanzlers beziehungsweise einer Kanzlerin. Das ist der Zeitraum von Verhandlungen und des Interessensausgleichs zwischen Parteien."
Statt Klartext der Hinweis, er wisse es. Das muss reichen zur Klarheit. Dann gibt er einen Ausblick auf das Gezänk, das kommen wird zwischen der "Bundestagswahl und der Wahl [...] einer Kanzlerin". Da wird suppengekaspert werden wie in 2017, bevor Horst Seehofer aus Gründen der Geschlossenheit der Unionsparteien für den Wahlkampf die obergrenzwertige Kraftmeierei (vorübergehend, offensichtlich) einstellte. Ich nannte das im Februar "Fake-Frieden". Horst Seehofer tritt in dem Interview nun den Beweis an.
Neben viel Klartext stellt Horst Seehofer klar:
"Wenn wir sagen, das Jahr 2015 soll sich nicht wiederholen, dann dürfen wir nicht offen lassen, mit welchen Instrumenten wir das sicherstellen können."
Ich bin mir sehr sicher, dafür wird die Physik sorgen. Eine Wiederholung des Jahres 2015 halte ich für ausgeschlossen. Ohne Mitwirkung der CSU. Was sich jedoch wiederholen wird, sind Sprüche knapp über dem Stammtisch, in Sichtweite zur AfD. Wo Horst Seehofer beansprucht, mit Klartext "den Menschen Antworten auf ihre Fragen" zu geben, setzt er auf Antworten, bei denen für manche die AfD die Urheberschaft beanspruchen wird. Seehofer bleibt sogar unklar bei der einfachen Frage, was beim 200.001ten (Asylbewerber oder Zuwanderer?) geschehen werde. Im Bayernplan steht die Obergrenze und der Familiennachzug in unterschiedlichen Abschnitten auf Seite 16 der oben verlinkten PDF. Im Interview sagt er zur Interpretation des Plans:
"Wir definieren die Obergrenze von 200.000 einschließlich des berechtigten Familiennachzugs."
Bei soviel Klartext wird mir langsam unklar, wie klar das alles ist. Oder war es umgekehrt: klar, wie unklar das alles ist? Suppen-Kaspar jedenfalls ist am Ende verhungert.

Sonntag, 10. September 2017

Rechte Katastrophe?

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 10.9. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er den erwartbaren Einzug der AfD in den Deutschen Bundestag als historische Zäsur bezeichnet und eine "harte Auseinandersetzung in der Sache" als nötig bezeichnet:


Walter Roller bezeichnet es als "Zäsur in der Parlamentsgeschichte der Bundesrepublik", dass voraussichtlich "eine dezidiert rechte Partei in den Bundestag" einziehe. Damit behaupte sich eine "'demokratisch legitimierte Partei' [...] - eine neue Konkurrenz, die vornehmlich in den schon kleiner gewordenen Revieren der Volksparteien" wildert.
Die Vokabel "wildern" passt hervorragend, wie Walter Roller ausführt:
"Sie bündelt den Protest, der sich gegen das 'System' und den großkoalitionären Einheitsbrei angesammelt hat. Sie lebt vom weit verbreiteten Unbehagen an der Massenzuwanderung von Muslimen. Sie lockt heimatlos gewordene Konservative an, die sich in der von Merkel 'modernisierten' Union nicht mehr zuhause fühlen."
Der bei der Wahl sich voraussichtlich ergebende Einzug der AfD in den Bundestag ist richtig eingeordnet:
"Für eine nationalkonservative Partei, die dem vielfältigen Protest Gehör und Stimme verleiht, ist durchaus Platz im Bundestag."
Das Problem dabei beschreibt Walter Roller zutreffend:
"Das Problem ist, dass sich die AfD mit ihren Parolen und kühl inszenierten Provokationen zunehmend am rechten Rand des Spektrums bewegt und zu einer in beträchtlichen Teilen offen rechtsradikalen Bewegung geworden ist."
Ja, Deutschland verträgt eine konservative Partei im Bundestag. Es verträgt auch eine, die sich "am rechten Rand des Spektrums bewegt". Wenn die braune Brühe dann überschwappt und im Rechtsradikalismus einen Tümpel bildet, ist der im Parlament immer noch besser aufgehoben als in irgendwelchen Hinterhöfen. Im Parlament wird keine Äußerung unwidersprochen bleiben. In Hinterhöfen erklingt dagegen Applaus. Im Parlament werden die Medien berichten, im Hinterhof köchelt das Ganze im eigenen Saft auf der Flamme Gleichgesinnter. Deshalb: Zäsur ja, Katastrophe nein.
Bereits im März 2016 hatte Walter Roller geschrieben:
"Vonnöten ist neben einer harten argumentativen Auseinandersetzung in der Sache, die Lösung von Problemen."
Heute schreibt er:
"Eine AfD, die Volkshetze betreibt und das Klima vergiftet, sollte auf den entschiedenen Widerstand aller Demokraten treffen. Nicht in Form des Ausgrenzens und Ignorierens, sondern – woran es leider hapert – durch knallharte inhaltliche Auseinandersetzung. Argumente und das Aufzeigen politischer Lösungen sind die besten Mittel, um konservative Wähler von radikalen Experimenten abzuhalten."
Im Grunde ist die Forderung richtig. Allerdings hat sie einen Haken, der sich am Beispiel von Donald Trump darstellen lässt. Donald Trump behauptet, der Klimawandel existiere nicht, sei von den Chinesen erfunden, um Amerika zu schwächen. Mit dieser Meinung steht er gegen fast die gesamte Wissenschaft, die mit großer Mehrheit von einem von Menschen gemachten Klimawandel ausgeht. Trumps Wähler folgen ihm bei seinen Ansichten, auch gegen wissenschaftliche Argumente.
Die AfD argumentiert ähnlich:
"Die Aussagen des Weltklimarats, dass Klimaänderungen vorwiegend menschengemacht seien, sind wissenschaftlich nicht gesichert. Sie basieren allein auf Rechenmodellen, die weder das vergangene noch das aktuelle Klima korrekt beschreiben können."
Neben einer Leugnung des Klimawandels wird die zu Grunde liegende wissenschaftliche Methode "Rechenmodelle" in Zweifel gezogen und als obskur hingestellt.
Eine harte argumentative Auseinandersetzung kann nur stattfinden, wenn eine Diskussionsbasis vorhanden ist. Die AfD ruft bei jeder Gelegenheit "Lügenpresse", Mainstream-Medien würden nicht die Wahrheit berichten. Verschwörungstheorien untermauern, warum alles Lüge sei, wobei je nach Thema Juden, Eliten, Industrie, Politik etc. die Verschwörer seien. Hier kommt keine inhaltliche Auseinandersetzung in Gang. Die AfD entzieht sich einer solchen Auseinandersetzung bei jeder Gelegenheit und mit vielerlei Mitteln:
  • Mainstream und Lügenpresse verlauten nur Unwahrheiten, was allen über diese Kanäle transportierten Argumenten das Etikett "Falsch" umhängt und nicht mehr diskutiert werden muss.
  • Die AfD sei auf vielfältige Weise Opfer einer Verschwörung des Establishments, sei es, dass sie nicht in Fernsehsendungen eingeladen wird, sei es, dass ihr Mietverträge gekündigt werden. Eine Diskussion mit einem solchen Establishment lohnt nicht.
  • Die von der AfD angesprochenen Probleme zielen teilweise auf tatsächliche Probleme. Auf dieser Ebene wäre eine Diskussion möglich. Allerdings werden von der AfD die Ursachen und Lösungen soweit vereinfacht, dass eine weitere Diskussion erstickt wird.
Ferner kommt keine inhaltliche Auseinandersetzung zu Stande, wenn sich - wie zuletzt in Fernsehsendungen - alle auf die AfD einschießen und die Veranstaltung in Gebrüll, gegenseitigem Unterbrechen und Flucht aus dem Studio endet.
Das zeigt zweierlei:
  1. Es ist nicht erwiesen, dass die AfD-Anhänger für eine inhaltliche Auseinandersetzung zugänglich sind und sich davon ernstlich beeinflussen ließen. In den neuen Bundesländern hat die AfD ein hohes Stimmenpotential mit ihrer auf Migranten zielenden Politik, obwohl in den neuen Bundesländern wenig Migranten leben.
  2. Die Gegner der AfD haben bislang kein Mittel gefunden, mit dem sie erfolgreich Inhalte auseinandersetzen könnten. Es wird nicht reichen, beispielsweise auf wissenschaftliche Erkenntnisse hinzuweisen. Eine solche Argumentation zielt auf den Kopf und wird niemanden beeindrucken, der "mit dem Bauch" für die AfD ist.
Walter Roller schreibt zu Schluss:
"Auf Dauer behaupten kann sich die AfD nur, wenn sie die radikalen Kräfte in ihren Reihen zurückdrängt und seriöse, über jeden demokratischen Zweifel erhabene Oppositionsarbeit betreibt – wonach es, zur Stunde jedenfalls, nicht aussieht."
Nein, sie muss für einen dauerhaften Aufenthalt im Parlament keine "über jeden demokratischen Zweifel erhabene Oppositionsarbeit" leisten. Es würde reichen, wenn sie sich dauerhaft als Stimme der besorgten Bürger, der Wutbürger, der Ohne-die-vielen-Ausländer-wäre-alles-viel-besser-Gläubigen festsetzen kann. Die Oppositionsarbeit würde sich dabei auf eine Art Geschrei beschränken können, die nichts mit qualitätsvoller Parlamentsarbeit zu tun haben muss.
Mit Genugtuung stimme ich jedoch Walter Rollers Einschätzung zu, dass es zur Stunde nicht danach aussieht, die AfD könne die Oppositionsarbeit leisten. Sie wird politische Anfänger in den Bundestag entsenden, die mit einer Schultüte in der Hand durch die Parlamentsgänge mäandern. Es wird auch einige Zeit dauern, bis sie sich überhaupt soweit organisiert haben, dass sie parlamentarisch arbeiten können.
Walter Roller schreibt:
"Die Deutschen haben, klug geworden aus historischer Erfahrung, ein feines Gespür für die Gefahren, die von einer radikalen, zum völkischen Ressentiment neigenden Politik ausgehen."
Mag sein. Das feine Gespür ist besonders gefordert, wenn eine zurückhaltende Rhetorik wie von Alice Weidel verwendet wird. Nicht alle in der AfD sind grobe Klötze, denen die völkischen Ressentiments aus jeder Pore dünsten. Bei manchen Positionen sind CSU und AfD nicht weit auseinander, konsequente Abschiebungen zum Beispiel. Die Deutschen müssen sich fragen, wie viel rechte Politik sie als konservativ durchgehen lassen und wo sie die Grenze ziehen wollen. Und genau hinsehen, welche Ansprüche sie an eine im Bundestag vertretene Partei stellen. Bei der nächsten Wahl können sie dann neu entscheiden.

Storchennest - Beatrix in Sicherheit

Beatrix von Storch hat einen Tweet veröffentlicht, in dem sie aufruft, "Germany" "again" "safe" zu "make[n]":


Das ist jetzt nicht wirklich wow. Aber: Die AfD bemüht sich nach Kräften, anderen Parteien Plagiate vorzuwerfen, Abschriebe aus dem AfD-Wahlprogramm. Und dann klaut sie selbst ohne schlechtes Gewissen aus dem US-Wahlkampf. Sogar über ihre eigene Forderung, in Deutschland müsse deutsch gesprochen werden, setzt sie sich hinweg. Naja, Leitkultur gilt halt nur für die anderen. 

Freitag, 8. September 2017

Kultur vor Gericht

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen am 8.9. einen Beitrag veröffentlicht zur Debatte um das Urteil des Europäischen Gerichtshofes zur Aufnahme von Flüchtlingen:


Die EU hatte entschieden, eine Aufnahmequote für die EU-Länder zu realisieren. Nach dieser Quote sollten EU-Länder Flüchtlinge aus Griechenland und Italien aufnehmen, wo die meisten Flüchtlinge EU-Gebiet betreten. Walter Roller schreibt:
"Der Versuch Ungarns und der Slowakei, den Quoten-Beschluss vor dem höchsten europäischen Gericht zu Fall zu bringen, ist erwartungsgemäß krachend gescheitert. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat unmissverständlich klargemacht, dass die Entscheidung rechtmäßig zustandegekommen ist, und der Lissabon-Vertrag im Fall einer akuten Krise – und der Flüchtlingsansturm 2015 war so ein Notfall – die Ausnahme von der Regel eines einstimmigen Votums erlaubt. Alle Staaten sind also nun unzweifelhaft verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen."
Dem ist nichts hinzuzufügen. Daran ändert auch der Vorwurf nichts, "die Öffnung der deutschen Grenzen und die Aussetzung des Dublin-Abkommens [...] seien im deutschen Alleingang und ohne Absprache mit den EU-Partnern erfolgt". Walter Roller schreibt weiter:
"Doch jedes Land hat sich an das europäische Recht zu halten und Urteile zu akzeptieren. Anders kann die EU nicht funktionieren."
Richtig. Ich ziehe den Kreis sogar weiter. Europa zeigt auf Erdogan, weil seine willkürlichen Verhaftungen dem europäischen Verständnis von Rechtsstaatlichkeit widersprächen. Ebenfalls nicht von diesem Verständnis gedeckt sind die Einschränkungen der Pressefreiheit, die sich durch Verhaftungen von Journalisten und dem Zusperren von Redaktionen ergeben. Europa blickt aber auch auf Polen und Ungarn, wo die europäische Staatskultur beschädigt wird durch mindestens rechtskonservative Umtriebe in der Regierung.
Auf abstrakter Ebene wird der Rechtsstaat hochgehalten. Im Konkreten wird er jedoch beschädigt, sobald es opportun erscheint. Diese äußerst fragwürdige Verständnis von Prinzipien zeigt sich auch im Urteil bzw. der Vorgängen, die zu dem Urteil geführt haben. Polen und Ungarn wollten in die EU, um von den Vorteilen zu profitieren. Vielleicht hat ein Wunsch nach Gemeinsamkeit und Gemeinschaft eine Rolle gespielt. Doch dann werden die sich ergebenden Verpflichtungen ignoriert, wenn sie der eigenen politischen Agenda zuwiderlaufen. Die EU gibt einen schönen Sündenbock ab für alle, die sich im Inland als starke Figuren präsentieren wollen. Rosinenpickerei nenne ich das und frage mich, ob das ein  Teil dessen ist, was viele als Leitkultur propagieren.
Die AfD beteiligt sich an dieser Pickerei. In einem AfD-Kompakt schreibt der Bundesvorstand:
"Was der Europäische Gerichtshof hier juristisch sanktioniert hat, ist genau jenes Europa, welches wir nicht wollen. [...] Eine derart heikle Entscheidung nicht einstimmig zu treffen, ist mindestens ungewöhnlich."
Die Partei, die sich sonst immer auf Mehrheit beruft, die Mehrheit im deutschen Volke, will plötzlich Einstimmigkeit statt Mehrheit. Sonst dienen der AfD Mehrheiten zum Übergehen der Minderheiten. Nun dreht sie dies um und will die Minderheit über die Mehrheit stellen. Ein ekelhafter Schlingerkurs.
Walter Roller schreibt richtig zu den harschen Reaktionen aus Polen und Ungarn:
"Daran sieht man, wie tief die Kluft innerhalb der EU inzwischen ist und wie kompromisslos bestimmte Staaten darauf beharren, allein darüber bestimmen zu können, wer einreisen darf oder nicht."
Er stellt die Frage, ob "mit Vertragsverletzungsverfahren, Bußgeldern und der Androhung von Subventionskürzungen" der Widerstand zu brechen sei. Richtig seine Antwort: Nein, weil es auch den betroffenen Flüchtlingen nichts helfen würde, wenn sie "mies" behandelt würden und rasch weiterziehen wollten. Dennoch:
"Einfach kleinbeigeben kann die EU nicht. Sie muss darauf bestehen, dass Urteile akzeptiert werden - sonst gerät das Rechtssystem ins Rutschen."
Richtig. Und weiter:
"Der Streit um die Flüchtlingspolitik und die knallharte nationalistische Gangart osteuropäischer Staaten führen die heillose Zerstrittenheit Europas eindringlich vor Augen."
Nein, nicht nur die Zerstrittenheit. Der Streit zeigt, wie fragil das ist, was als europäische Kultur allenthalben behauptet wird. Wie fragil das ist, was vor kurzem noch als Fels in der Brandung galt. Menschliche Prinzipien wie die Würde des Menschen gelten einer Regierung eines EU-Landes weniger, wenn es um Stimmenfang geht. Eine Opposition oder eine nicht im Parlament vertretene Organisation mag harte Reden schwingen. Für eine europäische Regierung gilt die europäische Leitkultur. Ohne Einschränkung.
Walter Roller schlägt vor:
"Ein Grund mehr, endlich die versprochene Reform der EU anzugehen – mitsamt der Option, in einigen Kernstaaten 'mehr Europa' zu praktizieren, während andere, auf ihre nationale Souveränität pochende Staaten in einer Wirtschaftsunion verbunden bleiben."
Darüber kann diskutiert werden. Wer jedoch "nationale Souveränität" über europäische Leitkultur stellt, sollte sich ernstlich mit der Frage befassen, ob er seine Souveränität nicht in viel größerem Ausmaß genießen will.