Mittwoch, 29. Juni 2016

Walter Rollers Lektion

Walter Roller hat am 29.06. in der Augsburger Allgemeinen einen Leitartikel zur Lernlektion aus der Brexit-Abstimmung in Großbritannien veröffentlicht:


Walter Roller schreibt:
"Für den Moment kommt es darauf an, den Laden zusammenzuhalten und den Bürgern zu signalisieren, dass die Botschaft angekommen ist."
Es ist ja richtig, die britische Entscheidung als Botschaft aufzufassen. Die Frage ist jedoch, welche Botschaft. Walter Roller ist der Meinung, bei "einem Großteil des Führungspersonals" sei die Botschaft nicht angekommen und er schickt seine Botschaft durch den Äther:
"Sie alle wollen 'mehr' Europa, obwohl die Lektion des Brexit 'weniger' Europa lautet. Wer ausgerechnet jetzt einer 'Vertiefung' der EU mitsamt einer weiteren Machtverlagerung nach Brüssel das Wort redet, der hat wirklich nicht verstanden."
Dieser Abschluss des Leitartikels macht zu Nichte, was vorher als durchaus zutreffende Analyse leise aufblühte:
"Der Austritt Großbritanniens ist der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, die seit langem im Gange und von einem enormen Vertrauensverlust in die Institutionen Europas geprägt ist."
"Die große Mehrheit der Europäer kennt und schätzt die Errungenschaften der Union, die Frieden und Wohlstand beschert hat."
Dazwischen wuchert es leider unkrautig:
"Alle Versuche, den 'Brexit' als (korrigierbaren) Betriebsunfall und als Irrtum einer von Populisten verführten, ungenügend aufgeklärten Mehrheit darzustellen, lenken vom Kern des Problems ab und lassen den Respekt für ein demokratisches Votum vermissen."
Walter Roller tut jegliche Kritik am britischen Wahlkampf und der teilweise an Hand von Lügen geführten Argumentation als Ablenkung ab. Er ignoriert Boris Johnsons Behauptungen während des Wahlkampfes, die Johnson nach nach der Entscheidung zurücknahm. Roller tut so, als gäbe es nicht diejenigen Wähler, die ihre Wahl nun bereuen und sich betrogen und belogen fühlen. Er tut so, als wäre eine Volksabstimmung per se die Krönung demokratischer Entscheidungsfindung. Er tut so, als wäre das Wahlvolk zu einer vollständig wohlüberlegten Entscheidung fähig und willens. Er tut so, als würden auch emotional getroffene Abstimmungsentscheidungen jedenfalls zu zukunftsträchtigen und vernünftigen Ergebnissen führen. Tatsächlich verweist er nur auf die Oberfläche, er blickt nicht in die notwendige Tiefe.
Walter Roller bemerkt zu Recht:
"Viel wäre schon gewonnen, wenn die politischen Eliten dieses Unbehagen endlich ernst nehmen und die Probleme, die wirklich nur gemeinsam zu lösen sind, entschlossener anpacken würden. Ein Patentrezept zur Rettung des Einigungsprozesses gibt es nicht. Es bedarf vieler kleiner, vertrauensbildender Maßnahmen – und des Versuchs, die Europäer aufs Neue von der europäischen Idee zu überzeugen. Die komplizierte Gemengelage in einem so großen, auch von natürlichen Interessengegensätzen geprägten Staatenbund erlaubt keine Reformen über Nacht."
Er hat auch im Grundsätzlichen Recht, wenn er Befindlichkeiten zusammenträgt, die die Abstimmungsentscheidung beeinflusst haben:
"Vieles spielt da mit hinein: der Ärger über die Regulierungswut, die mangelnde Handlungsfähigkeit der EU in existenziellen Fragen wie dem Schutz der Außengrenze, gebrochene Verträge, die ewige Eurokrise, das Defizit an demokratischer Kontrolle, das Gefühl, fremdbestimmt zu sein."
Das sind bis zu einem gewissen Grad berechtigte Kritikpunkte, das sind aber auch die genau die Wunden, die Populisten mit viel Salz bearbeiten. Die AfD schreibt auf ihrer Website:
"Die Briten haben sich gegen die Brüsseler Bevormundung entschieden. [...] Der Brexit zeigt: Wir müssen Europa neu denken. Die europäische Zusammenarbeit muss den EU-Zentralismus überwinden. Das Europa der Vaterländer wird ein Europa der Bürger sein."
Alice Weidel äußert sich ebenfalls aus der AfD-Website:
"Mit dem Brexit haben die Briten ein klares Signal gegen die fortschreitende Entmündigung der beteiligten Völker und einen Europäischen Bundesstaat gesetzt. Nun wären Demut und Selbstreflexion geboten, aber das Gegenteil ist der Fall [...]"
Walter Roller hat die Chance verpasst, zu einer echten Weiterentwicklung Europas aufzufordern. Sein Leitartikel tritt als seriöser Lektionenlehrer im Anzug auf, im Herzen ist er jedoch ein Ausbilder in AfD-Uniform.



Montag, 27. Juni 2016

Welche Volkesstimme den Brexit rief

Die Augsburger Allgemeine hat am 27.6. einen Artikel von Katrin Pribyl veröffentlicht:


Am Anfang des Artikels findet sich erhellendes zu den Grundannahmen mancher Wähler:
"Mandy dachte, ihre Stimme hätte kein Gewicht. Adam war der Meinung, sein Votum zähle nicht. Lauren erging es ebenso. Hazel auch. Alle vier sind um die 20 und haben beim Referendum für den Austritt gestimmt. Und nun? Sind sie am Boden zerstört, nachdem das Pfund abgestürzt ist, die Wirtschaft gefährlich zu wackeln beginnt, Premierminister David Cameron seinen Rücktritt angekündigt hat und es um nichts weniger geht als um die Zukunft des Königreichs."
Sie gingen zur Abstimmung über den Austritt aus der EU in der Annahme, ihre Stimme zähle nicht. Warum dann abstimmen? Nach der Abstimmung kommt das große Bedauern:
"Sie haben es nicht so gemeint, entschuldigen sich die Mandys, Adams, Laurens und Hazels dieses Landes, und würden ihre Entscheidung gerne rückgängig machen. Sie gehören zu den etlichen 'Bregretters' – ein Wortspiel aus Regret (Bedauern) und Britain –, die sich nun in sozialen Medien und in der Presse melden."
Das wirft ein besonderes Licht auf eine solche Volksabstimmung:
  • Die Wähler waren sich der Konsequenzen nicht bewusst. Weder war ihnen klar, dass ihre Stimme etwas bewirken würde noch was die Konsequenzen sein würden. Trotz eines wochen- und monatelangen Wahlkampfes. Das ist frappierend.
  • Die Entscheidung wurde mit einfacher Mehrheit getroffen. Es gab keine Mindestanforderung bzgl. Wahlbeteiligung oder Zustimmungsrate. Um in Deutschland den Tierschutz als abstraktes Ziel und ohne unmittelbare Folgen für die Lebenswirklichkeit in die Verfassung aufzunehmen ist eine höhere Hürde zu nehmen als bei der Volksbefragung zum Brexit.
  • Es ist keine demokratische Kontrolle vorgesehen. Gesetze müssen in Deutschland von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden. Bei der britischen Abstimmung wurde von einem (!) Gremium entschieden, wenn man so will. Vorher war Wahlkampf, keine Diskussion oder Debatte.
Diskussion und Debatte sind jedoch unbedingt notwendig zu führen, bevor weitreichende Entscheidungen getroffen werden. Der Wahlkampf war keine Debatte. Er war geprägt von gegenseitigen Angriffen, Beschimpfungen und der Gleichen mehr. Die EU-Befürworter waren unpatriotische Sektierer in den Augen der Brexit-Befürworter. Letztere sahen sich als Patrioten, von ersteren schon fast als Nazis gegeißelt. In diese - von ihnen selbst - aufgeheizte Stimmung hinein riefen die Proponenten allerlei Warnungen und Versprechungen. Der Same fiel auf fruchtbaren Boden, bis der erste Spross sich zeigte:
"'Ich habe fürs Gehen gestimmt, weil ich diese Lügen geglaubt habe, und ich bereue es mehr als alles andere', schreibt Katy unter dem Hashtag #WhatHaveWeDone auf Twitter. Als das Boulevardblatt Daily Mail, das mit der Sun am lautesten für den Brexit getrommelt und dafür vor allem Ängste gegen Einwanderung geschürt hat, in einem Bericht die Folgen aufzeigt, löst das einen Sturm der Entrüstung aus. Im Artikel heißt es, das Pfund sei nun weniger wert, weshalb Urlaube mehr kosten werden. Dass die Renten an Wert verloren haben, die Briten bald nicht mehr ohne Einschränkungen innerhalb der EU arbeiten, studieren und reisen können und es teurer wird, ein Ferienhaus in Spanien zu kaufen."
"'Die Remain-Kampagne hat also die Wahrheit erzählt', schreibt Victor aus Leeds. 'Ich habe vor dem Referendum hier nie solch einen informativen Artikel gelesen', beschwert sich die 42-jährige Anne. 'Viele Leute dachten, das war alles nur Panikmache der Befürworter eines Verbleibs, deshalb wählten wir mit unseren Herzen ,Out‘. Aber nun haben wir die Sorge, dass das keine gute Idee war', sagt der Engländer John."
Es scheint, als habe nicht die beste Entscheidung gewonnen. Gewonnen hat, wer am besten seine Zielgruppe erreichen konnte. Gewonnen hat, wer am wirkungsvollsten die Psychologie der Massen bewegt hat. Gewonnen hat, wer mit den offensivsten Angeboten, teilweise unabhängig von Fakten, den am schönsten glänzenden Honigtopf propagierte.
Es bleibt die Frage, welche Stimme des Volkes gesprochen haben soll. Bestimmte Landstriche stimmten für, andere gegen den Brexit. Ältere waren dafür, Jüngere dagegen. Geringer gebildete waren dafür, Höhergebildete dagegen. Arbeiter waren dafür, Büroangestellte waren dagegen. Die Entscheidung wurde nicht mit der Stimme des Volkes ausgesprochen. Niemand hat sich ernstlich bemüht, die unterschiedlichen Perspektiven zu einer "Volksperspektive" zu vereinigen.
Ich bin froh, dass Deutschland eine repräsentative Demokratie ist. Natürlich wäre eine direkte Demokratie demokratischer. Allerdings nur theoretisch. So wie auch neoliberale Marktwirtschaft theoretisch stärkere Kräfte freisetzt als die soziale. Die Theorie übersieht, dass nicht alle Teilnehmer am Markt oder in der Demokratie die gleichen Handlungskompetenzen aufweisen und es deshalb nicht zu einer für alle optimalen Entscheidung kommen muss. Spätestens, wenn sich einzelne Teilnehmer unlauter bewegen, sei es durch Lügen, durch Täuschen, durch eklatante Über- oder Untertreibung, durch rücksichtslose Machtgier etc., braucht es ein wirksames Gegenmittel im System des Marktes und der Demokratie.


Donnerstag, 23. Juni 2016

Wutbürger ernst nehmen

Michael Stifter hat in der Augsburger Allgemeinen einen Leitartikel zum Ton in der politischen Debatte veröffentlicht:


Michael Stifter beschreibt die Situation zutreffend:
"Wir leben in einer Zeit der Polarisierung. Einer Zeit, in der Politik zur Frage von Gut und Böse, von Rettung und Untergang stilisiert wird."
Als Triebfeder benennt er unter anderem "Zorn auf Ausländer, auf die Globalisierung, auf Europa, auf politische Eliten, auf die Medien." Das sind die Grundzüge der Politik der AfD. Deshalb hat er Recht, wenn er den Populisten vorwirft, Ängste zu schüren. Populisten "ermutigen die Bürger, ihre Wut offen auszuleben." 
Richtig ist auch, dass es nicht helfen wird, "Populisten und deren Anhänger zu beschimpfen." Hass darf nicht mit Hass beantwortet werden. Allerdings gibt es auch keinerlei Grund, klare Worte gegenüber den Populisten und ihren Anhängern vermissen zu lassen.
Was als Zorn und Wut der Wutbürger bezeichnet wird, dürfte wenig mit den echten Affekten und Emotionen zu tun haben. Das sind bestenfalls Gefühle, die durch Wiederholung heiß gehalten werden. Populisten rühren fleißig den Kochtopf um. Affektkontrolle findet nicht mehr statt. Wutbürger lassen sich als willfähriges Werkzeug vor den Machtkarren der Populisten spannen. 
Wer für sich beansprucht, politisch aktiv und gestaltend sein zu wollen, der möge nicht nur wütend sein. Der möge auch und vor allem mit Vernunft, Weitblick, Ethik und Gemeinschaftssinn handeln. Es ist nicht so, wie Michael Stifter schreibt, dass die Politik jedwede "Angst - sei sie objektiv noch so unbegründet - ernst" nehmen müsse. Der Zorn ist keine politische Botschaft. Die Politik darf verantwortliche Bürger erwarten. Unbegründete Ängste sind kein Fall für die Politik. Soll professionelle Politik wirklich Verschwörungstheorien wie Chemtrails ernst nehmen? Soll sie sich wirklich mit Behauptungen, alle Neger vergewaltigen deutsche Frauen und fressen die Kinder beschäftigen? Nein! Unbegründete Ängste sind ein Fall für Psychotherapeuten.

Freitag, 17. Juni 2016

Regeln für alle

Michael Schreiner hat am 17.6. zum Artikel "Islam für viele Türken wichtiger als Gesetze" in der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen einen Kommentar veröffentlicht:


Der Artikel und der Kommentar beziehen sich auf die Studie von Detlef Pollack. Bereits mit seinem ersten Satz weist Michael Schreiner auf die Ambivalenz der Studie hin: "ermutigend und alarmierend zugleich". Ebenso ist sein Satz am Ende des Kommentars richtig:
"Integration bedeutet nicht, dass Zuwanderer an das Gleiche glauben müssen oder so sein müssen wie wir."
Nicht ganz richtig ist die Forderung, Integration bedeute, Zuwanderer müssten sich an die gleichen Regeln halten wie wir. Das ist auf einem abstrakten Niveau wie dem Grundgesetz richtig, en detail jedoch nicht. Als Beispiel seien Gesetze und Regeln angeführt, die für Einwanderer, Flüchtlinge etc. speziell gelten. Doch um solche "Kleinigkeiten" geht es hier nicht.
Michael Schreiner ist erschrocken, weil "fast die Hälfte der Befragten das offenbar anders sieht", womit er meint, "[w]eder der Koran noch irgendeine andere religiöse Schrift kann eine Missachtung [der] gemeinsamen Regeln und Werte rechtfertigen", die das Grundgesetz definiert. Er zieht diesen Schreck aus der Abb. 12 der Studie, in der 47% aller befragten Türkischstämmigen stark oder eher zustimmend auf die Aussage reagieren:
"Die Befolgung der Gebote meiner Religion ist für mich wichtiger als die Gesetze des Staates, in dem ich lebe"
Vielleicht wäre er weniger erschrocken, hätte er auch andere Ergebnisse der Studie berücksichtigt. Als erstes nenne ich die Antworten auf die Fragestellung:
"Wie ist Ihre persönliche Haltung zu den Mitgliedern folgender Gruppen?"
86% äußerten sich eher oder sehr positiv zu Menschen mit deutscher Herkunft, 80% zu Christen. Das halte ich für positiv. Vorsichtig lässt mich die geringe positive Haltung zur Gruppe der Atheisten oder Juden (jeweils knapp unter 50%) werden. Diese ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil die Befragten selbst es ablehnen, auf Grund ihrer Religion negativ eingeordnet zu werden bzw. ihre Religion insgesamt negativ eingeordnet zu sehen. Gegenüber Atheisten und Juden kommt jedoch eine religiöse Kathegorie zum Einsatz, an der Bewertungen von Menschen festgemacht werden. Ich finde das nicht stimmig.
In der nächsten Frage wurde nach Bedingungen guter Integration gefragt:
"Was sollte man Ihrer Meinung nach tun, um gut in Deutschland integriert zu sein?"
91% sahen das Erlernen der deutschen Sprache und 84% das Beachten deutscher Gesetze als relevant ein. Hier offenbart sich die Ambivalenz: Das Beachten deutscher Gesetze wird als wichtige Voraussetzung guter Integration genannt, andererseits sollen die religiösen Gebote Vorrang haben. Dieser Widerspruch lässt sich nicht mit der einfachen Forderung Michael Schreiners nach Regeleinhaltung lösen. Vielmehr ließe sich entgegnen: Die Forderung ist (fast) erfüllt, weil 84% dem zustimmen. Zudem schreibt der Studienautor:
"Unterscheidet man wieder nach Einwanderergenerationen, so zeigt sich, dass derartige dogmatische und fundamentalistische Orientierungen in der zweiten/dritten Generation etwas weniger verbreitet sind: Dass die Befolgung der Gebote ihrer Religion wichtiger ist als die Gesetze des Staates, in dem sie leben, meinen 36 % von ihnen (erste Generation: 57 %), eine Rückkehr der Muslime zu einer Gesellschaftsordnung wie zu Zeiten Mohammeds wünschen sich 27 % (erste Generation: 36 %). Nur eine wahre Religion gibt es für 46 % der Befragten der zweiten/dritten Generation (erste Generation: 54 %); 33 % sind der Ansicht, nur der Islam könne die Probleme unserer Zeit lösen (erste Generation: 40 %). Der Anteil derjenigen, die allen vier Aussagen zustimmen, ist in der zweiten/dritten Generation mit 9 % halb so groß wie in der ersten Generation." Seite 14f
Die Studie gibt direkt Hinweise, um solche fundamentalistischen Haltungen abzuschwächen:
"Wie weiterführende multivariate Analysen gezeigt haben, könnte sich die Popularität derartiger Haltungen jedoch in Zukunft abschwächen – sofern die strukturelle und soziale Integration insbesondere bei der zweiten/dritten Generation weiter von Erfolg gekrönt ist: Als wichtigste Einflussfaktoren, die einer fundamentalistischen Grundhaltung entgegenwirken, haben sich häufige Kontakte zur Mehrheitsgesellschaft, gute Kenntnisse der deutschen Sprache und die Einbindung in den Arbeitsmarkt herauskristallisiert, während sich Gefühle mangelnder Anerkennung ('Bürger 2. Klasse') und ethnisch-kulturelle Segregation (Kontakte vorwiegend innerhalb der muslimischen Community) als eher hinderlich erweisen." Seite 15
Im Fazit der Studie finden sich Empfehlungen:
"So wichtig es ist, das Augenmerk in der Integrationspolitik weiterhin auf die strukturelle Ebene, vor allem das Bildungssystem und den Arbeitsmarkt, zu richten: Für eine umfassende und nachhaltige Integration der Bevölkerungsgruppe der Türkeistämmigen, aber auch mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt, sind Veränderungen auf der Ebene der Wahrnehmung und Anerkennung mindestens ebenso notwendig. Ein erster Schritt zum Gelingen ist dabei das Bemühen, den anderen zu verstehen. Und hierbei sind zweifellos beide Seiten gefordert: Die deutsche Mehrheitsbevölkerung sollte mehr Verständnis für die spannungsreichen Probleme der Zugewanderten und ihrer Kinder aufbringen, sich in die deutsche Gesellschaft einzufügen, ohne die Prägungen der Herkunftsgesellschaft zu verleugnen. Sie sollte auch wahrnehmen, dass eine Mehrheit der Türkeistämmigen keine dogmatischen Haltungen vertritt, und sich insgesamt ein differenzierteres Bild von Muslimen und vom Islam machen. Die Türkeistämmigen sollten mehr Verständnis für die Vorbehalte der deutschen Mehrheitsgesellschaft aufbringen und auf sie nicht nur mit Verteidigung und Empörung reagieren, sondern sich auch kritisch mit fundamentalistischen Tendenzen in ihren eigenen Reihen auseinandersetzen." Seite 20
Michael Schreiner hat zwar Recht mit seiner Forderung, Regeln seien einzuhalten. Aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was Integration gelingen lässt.

Donnerstag, 16. Juni 2016

Die enthemmte Mitte

Verena Mörzl berichtet in der Augsburger Allgemeinen am 16.6. über die Studie "Die enthemmte Mitte", in der die autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland untersucht wurde:


Ein paar Ergebnisse und Befunde aus der Studie sind aus meiner Sicht bedenklich, weshalb ich den Artikel ergänze.

Definition Rechtsextremismus

Auf Seite 29 ist folgende Definition von Rechtsextremismus angegeben:
"Der Rechtsextremismus ist ein Einstellungsmuster, dessen verbindendes Kennzeichen Ungleichwertigkeitsvorstellungen darstellen. Diese äußern sich im polititschen Bereich in der Affinität zu diktatorischen Regierungsformen, chauvinistischen Einstellungen und einer Verharmlosung bzw. Rechtfertigung des Nationalsozialismus. Im sozialen Bereich sind sie gekennzeichnet durch antisemitische, fremdenfeindliche und sozialdarwinistische Einstellungen."
In der Studie verwendet wurden diese Dimensionen:
  • Befürwortung Diktatur
  • Chauvinismus
  • Ausländerfeindlichkeit
  • Antisemitismus
  • Sozialdarwinismus
  • Verharmlosung Nationalsozialismus
Sieht man sich AfD, Pegida und Konsorten an, bewegen sie sich auf diesen Dimensionen unterschiedlich stark. Den Nationalsozialismus zu verharmlosen würde sie in die Nähe einer Straftat rücken. Entsprechend vorsichtig äußern sie sich zur deutschen Geschichte. Ausländerfeindlichkeit oder der Ruf nach dem starken Mann findet sich dagegen bereits bei einer oberflächlichen Betrachtung.
AfD, Pediga etc. verwenden zudem eine Methode, die augenscheinlich harmlos klingt, es aber nicht ist. Sie hantieren immer wieder mit Aber-Relativierungen im Stile von "Ich bin kein Nazi, aber der Sozialstaat soll sich zuerst um uns kümmern." Diese Aber-Relativierungen zeigen oft auf eine Ungleichwertigkeitsvorstellung, in der vermeintliche Bevorzugungen/Benachteiligungen bestimmter Gruppen oder Erlaubnisse/Verbote etc. für bestimmte Gruppen ausgedrückt werden. Damit sind diese Relativierungen ein Indiz für rechtsextreme Einstellungen.

Fragen und Antworten der Studie

Die Studie bringt auf Seite 30f den Fragebogen zur rechtsextremen Einstellung. Ein paar Fragen greife ich heraus:
"Frage 06: Die Ausländer kommen nur hierher, um unseren Sozialstaat auszunutzen."
Dieser Frage wird von einem knappen Drittel der Befragten überwiegend bzw. voll und ganz zugestimmt. Die Deutschen haben also ein Anrecht auf Sozialstaat, die Ausländer nutzen ihn aus.
"Frage 10: Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken."
Ein gutes Viertel der Befragten zeigen hier ihre Ungleichwertigkeitsvorstellung offen.
"Frage 08: Wir sollten endlich wieder Mut zu einem starken Nationalgefühl haben."
Dieser Frage stimmen mehr als ein Drittel zu. Ein starkes Nationalgefühl bzw. der Appell an ein solches beflügelt derzeit die Brexit-Befürworter in Groß Britannien, ist das Vehikel Erdogans für seine fragwürdigen Ausritte, ist das Argument Polens sich trotz undemokratischer Entwicklungen eine Kritik zu verbitten. In die gleiche Richtung zielt die Frage 12, der von über einem Viertel zugestimmt wird:
"Frage 12: Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland."
Selbst zur offensichtlich rechtsextremen Frage geben über ein Drittel ihre Zustimmung:
"Frage 16: Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet."
Diese Fragen im Zusammenhang mit rechtsextremer Einstellung zeigen, dass Rechtsextremismus nicht erst dann beginnt, wenn man Hitler toll oder die Juden als schuld an allem findet. Rechtsextremismus fängt viel harmloser an. Wolf im Schafspelz.

Rechtsextremismus nach Personengruppen

Die Studie zeigt auch einen Aufriss nach Erwerbsstatus und Alter. Zum Erwerbsstatus wird die Aussage getroffen:
"Es zeigt sich, dass die rechtsextreme Einstellung durchaus in allen Gruppen anzutreffen ist, mit Schwerpunkten bei den Erwerbslosen und den Ruheständlern. Allerdings ist auch die größte Gruppe, die der Erwerbstätigen, gegen Vorurteile und antidemokratische Einstellungen nicht resistent" Seite 40
Bei den Ruheständlern und den in Ausbildung befindlichen Personen ist auch von einem Alterseffekt auszugehen. Besonders hohe Werte für Ausländerfeindlichkeit erreichen hier Arbeitslose (25,4%) sowie Ruheständler (25,2%), also jene Gruppe, die vom Sozialstaat profitiert. Es ist jene Gruppe, bei denen Behauptungen bzgl. möglicher Verluste oder Einschränkungen staatlicher Leistungen wegen "der Ausländer" an die Lebensgrundlage gingen. Es wäre spannend  zu wissen, wie diese Personengruppen bei der Frage 06 geantwortet haben.

Beunruhigende Mediennutzung

Die Studie zeigt ein knappes Viertel der Ostdeutschen unter 30jährigen (23,7%, Seite 39) als ausländerfeindlich, im Westen 13,7%. Das über alle Alterklassen hinweg nicht die Maximalwerte. Allerdings haben diese Personen wahrscheinlich einen Großteil ihrer politischen Entwicklung noch vor sich. Hier lohnt ein Blick auf den Digital News Report 2016, den das Reuters Institute for the Study of Journalism vorgelegt hat. Die Studie zeigt, dass von 2013 bis 2016 die sozialen Medien als Nachrichtenquelle von 18% auf 31% gestiegen sind. Soziale Medien nehmen in ihrer Bedeutung also zu, während TV und Print im Fallen sind. Soziale Medien werden eher von jungen Menschen genutzt. In sozialen Medien wird entweder vom Plattformbetreiber der Nachrichtenfluss gesteuert (z.B. mit Das-könnte-dich-interessieren-Algorithmen) oder der Nutzer selbst sorgt durch Auswahl seiner Freunde und Teilnahme an Gruppen für bestätigende Nachrichten. Somit kommen die Anwender mit vor allem bestätigenden Meldungen in Berührung. Je nach Plattform sogar nur noch mit Satz- und Informationsfragmenten, bei denen eine echte thematische Auseinandersetzung so wahrscheinlich ist wie eine Bild-Zeitungs-Überschrift vollständig informiert.
Nochmals ein Blick zurück auf die Studie "Die enthemmte Mitte". Die Studie besteht aus mehreren Teilen und widmet sich im hinteren Teil (ab Seite 137) der Frage: "Wer unterstützt Pegida?" Hiernach haben den größten Einfluss auf die Zustimmung zu den Zielen von Pegida & Co eine rechtsextreme Einstellung und die Islamfeindschaft. An dritter Stelle ("Signifikante, aber sehr schwache Einflussgrößen", Seite 145) steht Verschwörungsmentalität. Bei Anhängern von Verschwörungstheorien dürfte das Suchen nach gemeinsamer Sicht besonders ausgeprägt sein. Da wird schnell die "Lügenpresse" gesehen, Ablehner einer Verschwörung als naiv.
Noch ist Deutschland kein rechtsextremes Land. Je mehr auch und vor allem Jüngere mit einem Social-Media-Tunnelblick durch das Leben laufen, desto mehr ist ein demokratisches Deutschland in Gefahr. Dabei meine ich nicht die unappetitlichen Hetzer, die Drohungen und Schimpfwörter stammeln - das ist zu offensichtlich. Ich meine diejenigen, die im Glauben an Information und Austausch in einer Social-Media-Glaskugel sitzen und es nicht merken. Diejenigen, die sofort auf die Straße gehen, um gegen eine Vergewaltigung zu demonstrieren, die nur in sozialen Netzwerken existierte. Diejenigen, die sich gegenseitig Einzelfälle solange bestätigen, bis sie glauben, alle Fälle wären so wie der Einzelfall.

Freitag, 10. Juni 2016

Rechte opfern sich

Wilfried Züfle hat in der Printausgabe den Bericht zur Anfechtung der Bundespräsidentenwahl in Österreich durch die FPÖ am 10.6. kommentiert:


Er umreißt die Masche der Rechten korrekt: "Die Rechte liebt die Opferrolle". Sie präsentiert sich als Opfer des Systems.
Die FPÖ in Österreich ist hier bereits einen Schritt weiter. Sie opfert sich selbst auf dem Altar der Hirnlosigkeit. Ein Beispiel ist die Anfrage der FPÖ im österreichischen Parlament über Wettermanipulation:
"Abseits von plumpen Verschwörungstheorien wird immer wieder der Vorwurf laut, dass das Verfahren der Wettermanipulation durch Sprühflüge vermehrt eingesetzt wird - auch in unseren Regionen."
Ein gewisser "Ing. Norbert Hofer" (nicht zu verwechseln mit Dipl.-Ing.; Hofer stellte sich zur Wahl zum Bundespräsidenten) war Adressat des Schreibens, mit dem das Bundesministerium für  Land -und Forstwirtschaft, Umwelt und Wasserwirtschaft antwortet:
"Als Ergebnis aller Recherchen kann aufgrund der derzeit zur Verfügung stehenden Informationen zusammengefasst werden, dass keine wie auch immer gearteten Hinweise auf die tatsächliche Durchführung solcher Versuche oder entsprechende Pläne bestehen."
Jetzt kann man natürlich sagen: Prima, wenigstens eine Partei, die sich quasi abseits des Mainstreams mit relevanten Themen beschäftigt. Andererseits verweist das auf das weite Feld der Opferrollen, in denen sich die FPÖ tummelt. Die Partei selbst wird angefeindet, weil sie die wahren Österreicher vertritt gegen Multikulti, gegen Globalisierung, gegen alles. Das System arbeitet gegen die Partei, weil die Partei Mängel im System aufdeckt. Immer ist es eine Mischung aus einem durchaus denkbaren Anlass (wie die Verfehlungen bei der Wahl, sofern sie sich bewahrheiten sollten) und einer darauf aufsetzenden Fantasie (wie die Anzahl der betroffenen Falschstimmen). Die Vorwürfe müssen aufgeklärt, die notwendigen Konsequenzen gezogen werden. Ob die Konsequenzen so weitreichend sind, wie die FPÖ sich das ausmalt (teilweise Neuwahlen) oder nur zu einer Neuauszählung ohne Ergebnisauswirkung führen, wird sich weisen.
Die FPÖ hat eine längere rechtspopulistische Erfahrung als Pegida und AfD. Dennoch wird es interessant, welche der "bewährten" Methoden der FPÖ die deutschen Pendants wann übernehmen bzw. kopieren. Gemein ist diesen Methoden:
  • Kaum eine Verschwörungstheorie ist zu blöd, als dass sie sich nicht verwenden ließe.
  • Durch geschickte Propaganda (über soziale Medien) lassen sie sich streuen, wobei sie als Wortmeldungen von Parteimitgliedern daherkommen, die sich der Partei zuordnen, notfalls aber auch als Einzel- oder Privatmeinung formal von der Partei trennen lassen.
  • Wenn's daneben geht, wird ein Missverständnis behauptet oder ein falsches Zitat in der "Lügenpresse".
  • Wenn's ganz daneben geht, wird Unwissen behauptet ("Ich kenne ihn nicht und käme daher auch nicht auf die Idee, ihn als Persönlichkeit abzuwerten", AfD-Mann Gauland über Boateng, beispielsweise in der Neuen Osnabrücker Zeitung)
Die völlige intellektuelle Schmerzfreiheit und das völlige Fehlen einer Schamgrenze lässt für mich nur einen Schluss zu: Die Rechte opfert sich selbst auf dem Altar der Stimme des Volkes. Das ist echter Heldenmut, echter Einsatz für das Land! Mein Aufruf: Opfert Euch doch bitte alle!

Sonntag, 5. Juni 2016

Walter Rollers Unionsspektakel

Die Augsburger Allgemeine bringt am 4.6. einen Leitartikel von Walter Roller über das schwierige Verhältnis der politischen Schwestern CDU und CSU:


Walter Roller beschreibt die Situation zutreffend: Seit vielen "Jahren sind CDU und CSU in der 'Union' vereint", sie "halten [...] zusammen und kämpfen [...] gemeinsam um die Macht". Die CSU "als konservative Korsettstange der Union" - ein schönes Bild. Heute hingegen ist man "in der Sache so weit auseinander", war "nie einander so fremd". Das Ganze kondensiert an der "Flüchtlingspolitik der Kanzlerin, die CDU und CSU entzweit [...] und nun den Dreh- und Angelpunkt des Streits um die Strategie der Union bildet".
Das ist des Pudels Kern. Während Merkel - wenn man so will - die Weite des Raumes hin zur politischen Mitte nutzt, tanzt Seehofer weiter eng an der konservativen Stange. Beide haben jedoch ein Problem mit ihren Wählern: Merkels Weg konnten oder wollten die streng konservativen CDU-Wähler nicht mitgehen, der Weg ist ihnen zu links. Seehofer hingegen bewegt sich nicht von der Stange weg, hat aber das Problem, dass die AfD mit ihrem Gesamtpaket aus Anti-Islam, Anti-Fremd, Anti-EU, Anti-Euro und nicht zuletzt Anti-Establishment auf viele sexier wirkt als es sich Horst Seehofer je trauen würde. Gerade das Anti-Establishment wirkt anziehend für die, die es satt haben, wenn "Seehofer [...] seit Monaten keine Gelegenheit [auslässt], um die Kanzlerin anzugreifen" und Merkel zurückkeilt und "die Schuld an den Wählerverlusten der CSU und deren ständigen Attacken" zuschreibt. Das ist Wasser auf die Mühlen derer, die Politik als Zirkus sehen, im dessen Manege sich nur Clowns bewegen.
Walter Roller beschreibt den "Kern des Konflikts": die CDU hielte "an ihrer Linie fest, weil sie auf die Entzauberung der AfD setzt", die CSU will "der rechten Konkurrenz mit einem stärkeren konservativen Profil das Wasser abgraben". Er fordert:
"Er ist nur zu lösen, wenn die Kanzlerin dem Abstieg ihrer auf 25 Prozent zusteuernden CDU nicht weiter zusieht und die CSU der Versuchung widersteht, ihre Haut durch eine inhaltliche Annäherung an die AfD retten zu wollen."
Richtig. Ich möchte dem eine Denkoption hinzufügen. Wie wäre es, wenn die CDU ihren Weg beibehält und so hofft, mehr Wähler aus der Mitte zu bekommen. Zielgruppe sind Wähler der Grünen, vielleicht auch der SPD. Die CSU hingegen tritt nicht nur in Bayern an, sondern auch in anderen Bundesländern und holt hier die Wähler ab, die sich als Konservative sehen, aber keine AfD-Protestwähler sind. Umfragen bescheinigen der CSU durchaus Wahlchancen außerhalb Bayerns. Das Manöver ist nicht als Kampf der Schwestern konzipiert, sondern als gemeinsamer Plan, weshalb die CDU nicht in Bayern antritt. Somit hätte die Union ein Angebot für gemäßigte und auch strenge Konservative und müsste keine Abwanderung zur AfD befürchten. In einer solchen Konstellation wären die AfD-Wähler so weit rechts bzw. so frustrierte Protestwähler, dass sie für "normale" Parteien ohnehin kaum mehr erreichbar wären.