Mein Warten hat sich
gelohnt! Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts zu Kopftüchern in Schulen
sowie dem Leitartikel von Walter Roller war ich überzeugt, die Leserbriefe
würden eine Offenbarung. So war es. Amen.
Das Urteil des Verfassungsgerichts
Nach 2003 war es den
Ländern freigestellt, selbst zu regeln, wie sie es mit der Religion halten
wollen. In dieser Gretchenfrage entschlossen sich einige Länder nun dazu,
bestimmte religiöse Symbole in Schulen zu verbieten. Das Kopftuch weiblicher
Muslime wurde als ein solches Symbol identifiziert: Es sei das Symbol der
Unterdrückung von Frauen durch Männer in muslimisch geprägten Gesellschaften.
In der Folge war es Muslimas nicht mehr erlaubt, in Schulen ein Kopftuch zu
tragen.
Im aktuellen Urteil
hat das Bundesverfassungsgericht diese Praxis abgelehnt. Es dürfe nicht
pauschal allen Muslimas die Ausübung ihrer Religion eingeschränkt werden.
Vielmehr müsse vor einem Verbot eine konkrete Gefährdung erwartet werden
können.
Der Leitartikel von Walter Roller
Herr Roller spricht
von einem „erstaunlichen Richtungswechsel“, den das Gericht vollzogen habe. Das
Gericht hat geurteilt, dass ein generelles Kopftuchverbot ohne „hinreichend
konkrete Gefahr“ für die Schüler nicht verfassungskonform sei. Herr Roller
findet das neue Urteil unpassend zum Kruzifix-Urteil von 1995. Und er findet,
das Kopftuch sei ein „Symbol der Unterdrückung der Frau“:
Dazu ein paar
Anmerkungen:
- Das Kruzifix-Urteil sollte klarstellen, dass an Wänden aufgehängte christliche Symbole in Klassenzimmern nicht vorgeschrieben werden dürfen. Das aktuelle Urteil bezieht sich auf die Kleidung von Frauen. Das macht einen erheblichen Unterschied, weil ersteres einem Statement einer Institution gleichkommt, letzteres ein persönliches Statement einer Person ist. Somit halte ich das Urteil auch nicht für erstaunlich.
- Das Kopftuch als Zeichen der Unterdrückung der Frau mag in bestimmten Fällen zutreffende Symbolik sein. Es gibt jedoch auch muslimische Frauen, die das Kopftuch freiwillig tragen, weil es ihrem Religionsverständnis entspricht. Zudem: Christliche Symbole wurden benutzt im Zusammenhang mit der Verfolgung von Menschen, die der Ketzerei, Hexerei etc. beschuldigt wurden. Sie wurden benutzt im Zusammenhang mit Kreuzzügen, gewaltsamer Missionierung. Und man könnte auch unterstellen im Angesicht der Missbrauchsfälle, Mönchskutten seien das Symbol für den Missbrauch Schutzbefohlener. Und überhaupt sei die Kleidung christlicher Würdenträger das Zeichen einer verklemmten und menschenfeindlichen Sexualauffassung.
Die Leserbriefe in der AZ
Norbert Schneider fragt
sich, ob „seine (Anm.: der Islam) Rechte über denen des Christentums stehen“.
Da schimmert eine Art Leitkultur durch. Klaus Liedtke befürchtet, „Hardliner“ wollten
„ihre Frauenwertung auch im Öffentlichen Dienst als Vorbild durchsetzen“. Leo
Barisch wähnt schon „die erste Lehrerin in der Burka vor der Klasse“ stehend. Das
Ganze gipfelt im Leserbrief von Friedel Ruppert. Für sie ist es „schlichtweg
unverschämt in einem Gastland (das wir ja immer noch z.Z. sind)
[Klammerausdruck Bestandteil des Zitats]“. Warum ist Deutschland ein Gastland
für alle Muslime? Gibt es nicht auch Menschen mit deutschem Pass und dem Islam
als Religion? Ein Gastverhältnis vermag ich hier nicht zu erkennen.
Ein Gedankenexperiment
Aus den Leserbriefen spricht ein Weltbild der Kategorie „mir san mir“. Hier empfehle ich ein Gedankenexperiment. Es greift die Idee der „Theory
of Justice“ von John Rawls auf. Um Gerechtigkeit zu erreichen, müsse man sich
selbst in einen Schleier des Nichtwissens hüllen. Rawls meint damit, dass man
selbst nicht weiß, auf welcher Seite man steht bzw. stehen wird. Aus dieser
Position heraus sei die Diskussion im Sinne der Gerechtigkeit zu führen.
Übersetzt auf den
aktuellen Fall würde es bedeuten, dass sich die Leserbriefschreiber und Walter
Roller von ihren religiösen Ansichten befreien müssten. Sie wären nicht
areligiös, sondern sie wüssten nicht, ob sie am Ende der Diskussion als
Christen oder als Muslime mit dem Ergebnis leben müssten.
Ich bin überzeugt
davon, sie alle würden sich anders äußern.
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