Samstag, 7. Oktober 2017

Roller und Dobrindt ohne Zukunft

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 7.10. die Lösungsmöglichkeiten zwischen den Unionsparteien und zwischen möglichen Jamaika-Koalitionären beleuchtet:


Walter Rollers Leitartikel

Natürlich hat Walter Roller recht: der Streit um die Obergrenze ist lösbar, auch wenn das "nach den massiven Stimmenverlusten der Union noch komplizierter geworden" sei. Möglicherweise bietet "ein Einwanderungsgesetzt [...] hierfür Mittel und Wege". Unverständlich jedoch, warum er Kanzlerin Merkel Starrköpfigkeit vorwirft. Sie bleibt auf ihrer Position, die sie seit langem vertritt. Seehofer hingegen macht das Bäumchen-wechsel-Dich-Spiel, mal nennt er die Obergrenze Koalitionsbedingung, dann stellt er sie hinter den Wahlsieg zurück, um sie nach der Wahl wieder als Bedingung hervorzukramen. Das ist ärgerlich, das ist opportunistisch. Mit seinem vehementen Auftreten für die Obergrenze benimmt er sich wie ein trotziges Kind im Kindergarten, wie Suppen-Kaspar. Walter Roller wirft nur denen Starrköpfigkeit vor, die nicht für eine Obergrenze sind, für Trotzköpfe hat er keine passende Bezeichnung parat.
Walter Roller schreibt von begrenzten Aufnahmemöglichkeiten. Bloß gut, dass nicht unbegrenzt Einlass verlangt wird. Weiter schreibt er, es könne "nun mal nicht jeder, der hier ein besseres Leben sucht, eingelassen werden". Die Möglichkeiten unseres "reichen Landes" seien begrenzt, er nennt "Wohnungen, Schulen, Lehrer oder Arbeitsplätze". Die Argumentation verfängt jedoch nicht, weil die genannten Grenzen keine naturgesetzlichen sind. Es sind politische Grenzen. Über viele Jahre hat es die Politik versäumt, mittels geeigneter Wohnungsbaupolitik für genügend Wohnraum zu sorgen - nun explodieren Mieten und Immobilienpreise. Über Jahre wurde bei Polizei und Sicherheit gespart, nun wird es als Großtat verkauft, wenn Polizeistellen geschaffen werden. Die Forderung einer Obergrenze ist deshalb ein Ausfluss der und eine Ablenkung von politischen Fehl- oder Nichtentscheidungen der letzten Jahre.
Den eigentlichen Hintergrund der Obergrenze offenbart Walter Roller, wenn er schreibt, "die Masseneinwanderung" habe "in weiten Bevölkerungskreisen eine soziale und kulturelle Verunsicherung ausgelöst und die Gesellschaft polarisiert". Daraus zieht er den Schluss, "eine 'Obergrenze' [sei] umso dringlicher". Das ist falsch. Die Obergrenze soll lediglich die Verunsicherung beenden, sie ist ein Opium des Volkes.

Alexander Dobrindts Interview

Bereits aus dem Leitartikel bleibt der Sinn und die Lösungsqualität der Obergrenze fragwürdig. In seinem Interview in der gleichen Ausgabe der AZ macht auch Alexander Dobrindt, nunmehr Vorsitzender der CSU-Landesgruppe, einige beachtliche Aussagen. Auf die Frage, warum die Obergrenze für die CSU unverhandelbar sei, sagt er:
"Uns geht es darum, für die Zukunft Regelungen zu schaffen. Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Wir müssen Vorsorge treffen, dass sich ein Jahr wie 2015 nicht wiederholen kann."
Erstens: Ein Jahr wie 2015 wird sich nicht wiederholen, da die Zeit eine Richtung hat - oder war das die Integration? Oder beides? Egal. Zweitens: Was soll der Hinweis auf 60 Millionen Menschen auf der Flucht im Kontext mit der Obergrenze? Oh je, kommen die nun alle zu uns, nach Bayern? Dann aber schnell!
Dobrindt weiter, mit Walter Roller auf einer Linie:
"Die Integrationsfähigkeit unseres Landes hat eine Obergrenze. Wir können unserem Land keine Lasten zumuten, die nicht zu bewältigen sind."
Wie oben: hier wird eine Objektivität behauptet, als ob es sich bei der Obergrenze um die Lichtgeschwindigkeit handele, die nicht überschritten werden kann. Die Obergrenze ist kein Grenze der Integrationsfähigkeit, sondern des Integrationswillens. Die CSU schielt zur AfD und unterschätzt deshalb die Fähigkeit. Allerdings sei das alles nicht so einfach, wendet Dobrindt ein:
"Die Obergrenze ist deutlich komplexer als ihre Verengung auf ein Wort. Sie hat einen thematischen Unterbau, zu dem das Bekämpfen von Fluchtursachen genauso gehört wie das Sichern von Grenzen, das Beschleunigen von Rückführungen oder das Ausweiten der sicheren Herkunftsstaaten. Kurz gesagt: Es geht um ein umfassendes Regelwerk."
Auf den ersten Blick fällt schon auf, dass er nur eine echte Lösung (Fluchtursachen) anbietet, aber drei Scheinlösungen (Grenzsicherung, Rückführung, sichere Herkunftsstaaten). Damit wird er der Komplexität des Themas nicht gerecht. Er vereinfacht wie die AfD, die glaubt, mittels Abschottung würde der Themenkomplex gelöst. Denn Dobrindts Hauptziel ist:
"In einem sollten sich alle aber einig sein: Das Auftreten der AfD im Bundestag darf keine Dauereinrichtung sein. Wir müssen ein gemeinsames Interesse haben, diese Wähler zurückzugewinnen."
Im Hinterkopf gärt noch die Losung, rechts neben der Union dürfe es keine legitimierte Partei geben. Warum nicht? Warum soll es nicht ein paar Irrlichter im Parlament geben, die (extrem) rechte Positionen vertreten und sich mit jeder Aussage weiter von der Möglichkeit einer Regierungsverantwortung entfernen? Es ist ehrenhaft, wenn die CSU versucht, der AfD Wähler abzuwerben. Es ist jedoch unehrenhaft, wenn sie sich dazu auf dem Gebiet der AfD deren Analysen und deren "Lösungen" bedient. Vor lauter Angst vor einer offenen rechten Flanke und dem Versuch, eine heile Welt von gestern zu konservieren, vergisst die CSU, sich ins Morgen zu begeben. Sie versäumt es, Konservatives zu modernisieren.

Wahlanalyse Bertelsmann-Stiftung

Der Leitartikel von Walter Roller und das Interview mit Alexander Dobrindt stehen in einem bemerkenswerten Zusammenhang mit einem Artikel in der gleichen Ausgabe der AZ, in dem über das Wegbrechen der Wähler aus der Mitte berichtet wird:
"Die Protestpartei verdankt ihr Ergebnis als drittstärkste Kraft vor allem zwei Gruppen: der 'Bürgerlichen Mitte' und dem 'Prekären Milieu'. Bei Wählern der sozialen Unterschicht wurde die AfD mit weitem Abstand stärkste Partei."
"'In keinem anderen Milieu ist der Erosionsprozess der etablierten Parteien und die Dominanz der Nicht- und Protestwähler so weit fortgeschritten wie im Prekären Milieu', schreiben die Forscher in ihrer Analyse."
"Punkten können Union, SPD, FDP und Grüne vor allem in jenen Milieus der Mittel- und Oberschicht, die grundsätzlich positiv gegenüber gesellschaftlichen Fortschritt und Modernisierung eingestellt sind. 'Die AfD wurde ganz überwiegend von Menschen gewählt, die der sozialen und kulturellen Modernisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen', sagt Vehrkamp."
Weiteres Licht in die Angelegenheit bringt die Studie der Bertelsmann-Stiftung selbst. In den einleitenden Sätzen der Website heißt es:
"Die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung ist bei der Bundestagswahl 2017 zum ersten Mal seit 1998 wieder spürbar gesunken. Dies ist vor allem einem 'AfD-Effekt' zuzuschreiben: In den sozial prekären Stimmbezirken, die üblicherweise die niedrigsten Wahlbeteiligungen verzeichnen, konnte die AfD viele Wähler für sich mobilisieren. Infolge dessen stieg die Wahlbeteiligung dort überdurchschnittlich an. Gleichzeitig zeigt sich eine neue Konfliktlinie der Demokratie, die quer durch die Wählerschaft zwischen Modernisierungsskeptikern und -befürwortern verläuft. Zudem verlieren die etablierten Parteien im Milieu der bürgerlichen Mitte Wähler und erreichen im sozial prekären Milieu kaum noch Menschen."
Der Streit um die Flüchtlingspolitik, um die Obergrenze ist lediglich ein Symptom. Die Konfliktlinie ist nach der Studie die "Modernisierung", Skeptiker auf der einen, Befürworter auf der anderen Seite. Dabei kommt der AfD eine besondere Rolle zu:
"'2017 ist es vor allem der AfD gelungen, Nichtwähler und Wähler aus sozial prekären Stimmbezirken in großem Stil zu mobilisieren', erläutert unser Demokratieexperte und Autor der Studie Robert Vehrkamp."
Seit den 1970er Jahren haben die Parteien zugesehen, wie die Wahlbeteiligung in Bundestagswahlen immer weiter zurück ging. Die AfD hat einen Weg gefunden, zumindest in gewissen Bevölkerungsteilen Wahlberechtigte zurück an die Wahlurnen zu führen. Dieses Mobilisierungsvermögen macht der Union und der CSU Angst. 2018 stehen in Bayern Wahlen an und auch dort ist die Wahlbeteiligung in Landtagswahlen über Jahrzehnte gesunken. Es wird zu einem Problem für die CSU, wenn die AfD so mobilisierungsstark sein sollte wie im Bund.
Zur Konfliktlinie wird auf der Website weiter ausgeführt:
"In modernisierungsskeptischen Milieus identifizieren sich die Menschen mit Begriffen wie 'Tradition' oder 'Besitzstandswahrung'. Für modernisierungsoffene Milieus sind dagegen 'Grenzüberwindungen' und 'Beschleunigung' prägende Begriffe. Knapp zwei Drittel aller AfD-Wähler kommen aus Milieus, die eher modernisierungsskeptisch sind. Damit hat die AfD im Parteienspektrum ein Alleinstellungsmerkmal. Denn die Wähler aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien gehören mehrheitlich einem der Milieus der Modernisierungsbefürworter an. Am knappsten fällt diese Mehrheit mit 52 Prozent bei den Unions-Wählern aus, am deutlichsten bei den Wählern der Grünen (72 Prozent)."
Grafisch aufbereitet wird die Konfliktlinie in der Studie, Seite 15, dargestellt:


Die Wahlergebnisse differieren zwischen den Milieus:


Um so mehr frage ich mich, warum die Union nun glaubt, dort die Erlösung zu finden, wo das lauteste Geschrei herrscht und die AfD ein Alleinstellungsmerkmal hat. Oder provokanter: Warum soll Deutschland mit einer Politik in die Zukunft geführt werden, die den Vorstellungen der Modernisierungsskeptiker zuspricht? Im Wahlkampf wurden die Parteien nicht müde zu betonen, es ginge um die Zukunft Deutschlands, die FDP behauptete gar, neu zu denken.

Conclusio

Die Politik hat immer die Aufgabe, in der Gegenwart so zu gestalten, dass die Zukunft bewältigt - besser: gestaltet -  werden kann. Die deutsche Politik war bei dieser Zukunftsgestaltung nicht immer erfolgreich, wie die aktuelle Diskussion um Dieselgate und Elektromobilität zeigen, oder die oben erwähnten Defizite beim Wohnungsbau. Industrie 4.0, Digitalisierung, Globalisierung und Roboterisierung verursachen gravierende Umbrüche. Künstliche Intelligenz (KI) wird zu einer besonderen Herausforderung für die Menschen auf jedem Gebiet, sei es Ethik, Arbeitswelt, soziale Gerechtigkeit. Manchen Menschen gehen diese Veränderungen zu schnell, anderen nicht schnell genug. Doch eines ist klar: die Veränderungen werden kommen, sie werden wirken. Sie werden keine Rücksicht nehmen, ob einzelne Menschen, Regionen oder Staaten ihnen skeptisch oder aufgeschlossen gegenüber sind. Wenn die Politik es ernst meint mit der Zukunft, dann muss sie endlich anfangen, an der Zukunft zu arbeiten. Wenn die Union und besonders die CSU glaubt, mit einer Politik für Modernisierungsskeptiker die AfD als Partei der Modernisierungsskeptiker ausstechen zu können, riskiert sie Deutschlands Zukunft und steht dabei auf einem ethischen Sumpf.

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