Montag, 30. Oktober 2017

Heiße Luft oder Sturm?

Martin Ferber hat in seinem Artikel am 30.10. den Stand der Sondierungen zu einer Jamaika-Koalition analysiert:


Martin Ferber zeigt sich überrascht, mit welcher Geschwindigkeit die dunklen Wolken aufzogen:
"Dass der Weg nach Jamaika lange und beschwerlich werden würde, war allen Beteiligten von Anfang an bewusst. Dass es aber so schnell zur Krise kommen würde, überrascht denn doch."
Weiter schreibt er:
"Die ersten Verhandlungen zu den Themen Klimaschutz und Migration erwiesen sich als ein bloßer Austausch der jeweiligen Maximalforderungen – gepaart mit der Aufforderung an alle anderen, Bereitschaft zum Kompromiss zu zeigen, ohne selber von seinen Positionen abzurücken. Zu viele rote Linien aber führen in die Sackgasse, aus der kein Herauskommen mehr möglich ist."
Als Zuschauer reibt man sich die Augen und fragt sich, ob das noch Verhandlungstaktik ist oder schon Sturheit. Natürlich darf jede Partei in den Gesprächen wiederholen, was sie im Wahlprogramm versprochen hat. Allerdings muss auch klar sein, dass ein Wahlprogramm keine Politik ist, sondern eine Politikabsicht mit der Präambel "Falls ich alleine regierte, dann ...".
Welch Wirkung das Wahlprogramm auf das politische Verhalten hat, beschreibt Martin Ferber so:
"Unübersehbar ist, dass in allen Parteien die Angst vor dem ungewöhnlichen Bündnis und seinen möglichen Folgen größer ist als der Mut, bewährte Pfade zu verlassen und politisches Neuland zu betreten."
Angst ist das Stichwort, das die Wahl und die jetzigen Sondierungen überformt. Allerdings ist es vor allem die Angst vor der AfD:
  • Die etablierten Parteien ließen sich die Themen für den Wahlkampf von der AfD diktieren.
  • Als der Einzug der AfD absehbar war, sollte der dienstälteste und nicht mehr der lebensälteste Parlamentarier die konstituierende Sitzung eröffnen.
  • Die Grünen fordern verstärkte Öffentlichkeit in Ausschüssen, um die AfD bloß zu stellen -  die AZ hat berichtet.
  • Die CSU ist nur noch ein Schatten ihrer selbst und versucht, die AfD auf der Standspur rechts zu überholen.
Als ob die politische Linie der AfD so neu wäre in Deutschland, dass die Panik gerechtfertigt wäre. Bisher war dieses Gedankengut in anderen Parteien versteckt. Nun türmt es sich zu einem braunen "gärigen Haufen" (Alexander Gauland) auf und durchbricht die beschauliche Oberfläche der Bundespolitik. Alle starren auf diesen Haufen, Merkels "Spielraum für Kompromisse" schwindet, Seehofer "kämpft gar ums politische Überleben". Die FDP kokettiert im Übermut ihres erneuten Einzuges in den Bundestag mit ihrer Bedeutung, droht mit der Opposition. Die Grünen sind teilweise regierungswillig (Realos), teilweise nicht - vielleicht sogar regierungsunfähig (Fundis).
Martin Ferber schreibt:
"Damit Jamaika gelingen kann, weil es angesichts des Wahlergebnisses gelingen muss, ist als erstes eine verbale Abrüstung erforderlich. Die jeweiligen Maximalpositionen sind hinlänglich bekannt und müssen nicht täglich lautstark wiederholt werden. Wer vom anderen Bereitschaft zum Kompromiss einfordert, muss sie selber unter Beweis stellen. Die Union braucht einen Erfolg bei der Migration und Zuwanderungsbegrenzung, die Grünen beim Klimaschutz, die FDP in der Steuerpolitik. Das lässt sich über kluge Beschlüsse organisieren, in denen sich alle Seiten wiederfinden."
Recht hat er, doch der Zuschauer reibt sich stärker die Augen, es schmerzt langsam. Da sitzen vier Parteien beieinander, die das Hohe Lied der politischen Verantwortung singen und die Demokratie hochhalten. Allenthalben verlautbarten sie, Demokraten müssten gegen die AfD zusammenstehen - nun stehen sie zusammen gegeneinander. Gleichzeitig ignorieren sie das Grundprinzip demokratischen Handelns: den Kompromiss. Was könnte entstehen, wenn
  • die Union die Stimme eines modernen deutschen Konservativismus wäre
  • die Grünen Umwelt- und vielleicht soziales Gewissen wären
  • die FDP der liberale Wächter vor überbordendem Staatsagieren mit Blick auf das in Zukunft Kommende wäre
Aus dieser Mischung ließe sich ein großer Teil der Antworten rühren auf die Fragen, die sich Deutschland, Europa und der Welt derzeit stellen. Doch vor lauter Angst vor der lauten AfD fällt den Köchen der Rührlöffel aus der Hand und sie nehmen das Stöckchen auf, das die AfD ihnen hinhält. So wird das kein Sturm, der die Luft reinigt. So ist die Ankündigung, die AfD mit guter Politik bekämpfen zu wollen nur heiße Luft - mit gärigem Eindruck.

Samstag, 28. Oktober 2017

Storchennest - Beatrix' Rechtsauffassung

Beatrix von Storch hat sich geäußert zur Frage, ob der Islam eine Religion sei und deshalb Religionsfreiheit nach dem deutschen Grundgesetz genießt:


Nach Beatrix von Storch könne eine Religion keine Religionsfreiheit genießen, soweit sie Zivil- und Strafrecht regele. Frau von Storch, als Denkanstoß ein paar der christlichen Zehn Gebote, die genau das regeln:
  • Du sollst nicht töten
  • Du sollst nicht stehlen
  • Du sollst nicht falsches Zeugnis ablegen wider Deinen Nächsten 

Seien Sie konsequent. #TrauDich

Mittwoch, 18. Oktober 2017

Demos Emotio regiert

Jüngst gab es den Vorschlag, einen muslimischen Feiertag einzuführen, die Augsburger Allgemeine berichtete beispielsweise über das Entsetzen in der CSU. Walter Roller kommentierte in der Ausgabe vom 18.10. die Diskussion:


Walter Roller schreibt, es stünde jedem Muslim frei, "seinen Glauben zu leben und nach seiner Fasson glücklich zu werden". Allerdings bedürfe es dazu nicht eines islamischen Feiertages. Denn "Deutschland [sei] christlich-jüdisch geprägt; die Feiertagskultur [spiegele] dies wider". Ich frage mich, warum dann im deutschen Feiertagskalender so wenig Überschneidung mit dem Kalender jüdischer Feiertage zu finden ist. Mit der behaupteten jüdischen Mitprägung kann es nicht weit her sein, wenn sich diese nicht in der "Feiertagskultur" widerspiegelt. Das Argument der Prägung ist deshalb nicht stichhaltig. Zudem: Bei etwa 82,3 Millionen Einwohnern in Deutschland sind 46 Millionen Mitglied der katholischen oder evangelischen Kirchen; das ist etwas mehr als die Hälfte. Reicht die Hälfte, um von einer Prägung zu sprechen?
Die behauptete Prägung sei "ein Stück von dem Kitt, der das Land" zusammenhalte, Identität vermittele. Es ist jedoch keine religiöse Identität, die mit den die Prägung widerspiegelnden Feiertagen generiert wird. Wie viele Bürger begehen die Feiertage in Hinwendung zur Religion und wie viele nutzen die Feiertage als freie Tage? Die Feiertage mögen eine religiöse Grundlage haben. Von dieser Grundlage haben sie sich großteils abgekoppelt und für die Mehrheit der die Feiertage konsumierenden Bürger ist die Grundlage nicht mehr relevant. Anders gesagt: auch Atheisten und Muslime haben am Ostermontag frei, Christen müssen nicht beten oder in die Messe.
Walter Rollers eigentliches Argument wird klar mit den beiden Sätzen:
"Warum daran rütteln in einer Zeit, die ja dringender denn je der selbstbewussten Pflege von Tradition und der Besinnung auf Herkunft bedarf?"
"Zweitens schürt dieser Vorstoß nur die diffuse Angst vor einer schleichenden, aus falscher Toleranz hingenommenen 'Islamisierung' des Landes."
Warum bedarf es "dringender denn je" einer "selbstbewussten Pflege von Tradition", einer "Besinnung auf Herkunft"? Ja, Traditionen sollen gepflegt werden, schon weil sie als Teil des kulturellen Erbes ein Wert an sich sind. Allerdings darf die Pflege eigener Traditionen nicht einher gehen mit einer Ausgrenzung und Abwertung anderer Traditionen. Walter Roller sagt es selbst: "nach seiner Fasson glücklich werden", seiner eigenen. Gebetsmühlenartig wird dies für Nicht-Christen eingeschränkt, weil die behauptete Prägung des Landes dies nicht anders zulasse. Mit einer solchen Sicht wird Kultur statisch, obwohl die Geschichte zeigt, wie wandelbar kulturelle Sachverhalte sind. Herkunft als Teil eines Traditionenkonstrukts vermag erklären, warum bestimmte Traditionen gepflegt werden. Sie kann aber überhaupt kein Argument sein, daraus besondere Rechte abzuleiten.
Walter Roller gibt zu, diffuse Ängste vor einer schleichenden Islamisierung des Landes existierten und dürften nicht geschürt werden. Richtig. Doch genau diese Ängste schürt er, wenn ein muslimischer Feiertag als Bedrohung der behaupteten christlich-jüdischen Prägung wahrgenommen wird, weil falsche Toleranz einer Islamisierung Vorschub leiste. Selbstbewusste würden Islamisierungsaktivitäten widerstehen, weil sie sich ihrer Traditionen und Herkunft selbst bewusst wären. Sie könnten - um die Vokabel zu benutzen - tolerant sein. Sie müssten nicht zwanghaft Elemente ihrer Tradition gegenüber anderen durchsetzen. Das Nebeneinander von Traditionen wäre keine Parallelgesellschaft, sondern normal. Aus diesem Blickwinkel ist der Ruf, die eigene Tradition müsse verteidigt werden, kein Zeichen der Stärke. Es ist das Eingeständnis eigener Schwäche und die Unterstellung, traditionsteilende Nachbarn wären ebenso schwach.
Nicht nur die Ängste sind diffus. Wenn es um die Frage geht, ob Geschäfte am Sonntag öffnen dürfen oder nicht, wird nicht oder kaum das christliche Argument bemüht. Da geht es um Entschleunigung, um Familie, um Abstand vom Kommerz. Die Forderung, der Sonntag müsse frei bleiben, damit genügend Zeit für den Kirchgang bleibt, wird nicht erhoben. Dies zeigt ebenfalls die Beliebigkeit einer Argumentation, die auf der behaupteten christlichen Prägung aufbaut.
Hinweise auf inhaltlich schwache, dafür diffusere Argumente finden sich auch im Kommentar von Martin Ferber in der Printausgabe vom 17.10. über die Kanzlerin:


Martin Ferber beschreibt die oft vorgebrachten Argumente:
"Angela Merkel habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt, bringe mit ihrem stoischen 'Weiter-so' die Wähler auf die Palme, nehme die sorgen der Bürger nicht ernst [...]".
Bestätigung fänden die Merkel-Kritiker durch die Wahl in Österreich, wo "dank eines klaren konservativen Profils und einer eindeutigen Positionierung in der Flüchtlingspolitik" die ÖVP stärkste Kraft wurde - so zumindest die Lesart der CSU. War es das konservative Profil oder war es der Nimbus des jungen Polittalents Sebastian Kurz? War es die Flüchtlingspolitik, auf deren Feld die FPÖ über Jahre gezündelt hat? Bei der Wahl in Niedersachsen war die Flüchtlingspolitik nicht sehr präsent, die CDU hat verloren, die SPD gewonnen. Konservatives Profil und Flüchtlingspolitik sind Argumente aus einem Gemischtwarenladen, jeder bediene sich nach seiner Fasson.
Allenthalben wird dargestellt, nur gute Politik könne Wähler von der AfD fernhalten. Nur was ist denn gute Politik in unserer repräsentativen Demokratie? Eine gute Politik zeichnet sich nicht dadurch aus, den diffusen Ängsten, den behaupteten Sorgen und Nöten der auf einer Palme hockenden Bürger blind zu folgen und die einfachsten Lösungsideen umzusetzen. Gute Politik nimmt die Ängste, Sorgen, Nöte wahr und übersetzt sie nach einer sachgerechten Analyse in ethische geleitete Lösungsvorschläge. Die Ethik wiederum ist ein recht stabiles Gebilde von Ansprüchen, die unser Zusammenleben leiten. Religion kann dieser Ethik nicht übergeordnet sein, Religion kann diese Ethik teilen. Wer dagegen glaubt, Diffuses als Kompass für politische Lösungen verwenden zu können, hält für Demokratie, was in Wirklichkeit Demotiokratie ist: Regentschaft beliebig steuerbarer Emotionen, die über das Feigenblatt demokratischer Vorgehensweisen die demokratisch-aufgeklärte Kultur Europas beschädigt. Demotiokratie ist keine gute Politik.

Freitag, 13. Oktober 2017

Richtung der Integration nach CSU

Die Augsburger Allgemeine hatte am 9.10. über den Zehn-Punkte-Plan der CSU berichtet, der im Vorfeld der Abstimmungsgespräche zur Regierungsbildung innerhalb der Union kreiert worden war. Mit den einzelnen Punkten des Planes hatte ich mich schon auseinandergesetzt.
Die CSU hat wiederholt über die Medien verlautbart, die Integration habe eine Richtung, beispielsweise zuletzt via Twitter oder im Jahr 2015 schon im Bayernkurier. Ich habe nun versucht, die klare Richtung der Integration an Hand des Zehn-Punkte-Plans abzuleiten und bin gescheitert. Denn es gibt keine Richtung. Einmal soll der Integrator - also das aufnehmende Gebilde - die Richtung vorgeben, das andere Mal das zu Integrierende:


Vielleicht findet sich jemand, der diese Widersprüchlichkeit aufklären kann.

Montag, 9. Oktober 2017

Motivation trotz Stimmenverlust

Jürgen Marks kommentiert in der Augsburger Allgemeinen vom 9.10. den Zehn-Punkte-Plan, mit dem die CSU in die unionsinterne Abstimmung mit der CDU für die anstehenden Koalitionsgespräche gegangen war:


Jürgen Marks schreibt, die CSU verorte "sich als einzige etablierte Partei rechts der Mitte". Auch vor dem Hintergrund der "bayerischen Landtagswahlen im Herbst" sei es "überlebenswichtig", konservative Inhalte "im Jamaika-Koalitionsvertrag" unterzubringen, um keinen Absturz zu riskieren. Allerdings sei die Wirkung fraglich:
"Der Dauer-Zwist mit den Verletzungen auf allen Seiten hat die Unions-Parteien viele Stimmen gekostet."
Richtig, in einer Jamaika-Koalition müssen Fußabdrücke aller beteiligten Parteien sichtbar sein. Selbstverständlich wird die Union, vor allem die CSU, Konservatives beitragen. Allerdings bleibt - siehe stimmenkostende Verletzungen - offen, ob ein dauerhafter Friede innerhalb der Union entsteht oder ob die neue Legislatur erneut von "Dauer-Zwist" und "Verletzungen auf allen Seiten" geprägt sein wird. Ich bin skeptisch, denn je höher der CSU das Wasser zum Halse steigt, desto mehr wird sie um ihr Profil bemüht sein, rechts der Mitte. Die Koalitionspartner verortet die CSU links der Mitte, im Zweifel also Feindesland. Für die absolute Mehrheit im Landtag, auf die die CSU aus ihrer Sicht ein Anrecht hat, wird sie viel unternehmen. Zudem: trotz Getöse haftet der CSU der Geruch des Umfallens an. Ja, sie hat die Maut durchgesetzt. Aber - und das bleibt präsenter im Wählergedächtnis - sie hat die Obergrenze gefordert, ist dann für die Wahl zurückgerudert und bringt sie nun wieder in Koalitionsgespräche ein. Dieses Hin und Her hat die CSU ebenfalls Stimmen gekostet, nicht nur der "Dauer-Zwist". Daraus drängt sich die Frage auf, welche Zwist-Katalysatoren im Zehn-Punkte-Plan angelegt sind.

Zehn-Punkte-Plan

Die AZ hat den Plan im Wortlaut abgedruckt. Die CSU ist danach der Meinung, ein "weiter so" dürfe es nicht geben, und wer weiter so machen will, habe nicht verstanden. Die Union sei prägend für Deutschland und habe "die politische Mitte mit der demokratischen Rechten vereint". Deshalb müsse sie wieder "ihren angestammten Platz Mitte-Rechts ausfüllen". Kürzlich hatte Walter Roller einen Rechtsruck geleugnet, mit dem CSU-Plan findet er nun bestätigt statt.
Der Zehn-Punkte-Plan im Einzelnen:
"1. Weil die Menschen eine bürgerlich-konservative Politik wollen. [...] Die Wähler setzen auf die Werte und Prägung des Landes, wollen Recht und Ordnung, wünschen Sicherheit und Wohlstand für alle. [...]"
Mir drängt sich die Frage auf, wer denn "die Menschen" seien. Ist das ein ähnlicher Anspruch, wie ihn die AfD erhebt, wenn sie vom Volk spricht? Dennoch: Recht, Ordnung und Sicherheit sind en Vogue, seit Deutschland islamisiert und von marodierenden Einbrecher- und Vergewaltigerbanden heimgesucht wird. Ob die Gefahr so groß ist wie der Eindruck davon, ist fraglich. Selbst mit der Kriminalitätsstatistik zur Hand ließe sich trefflich über die richtige Interpretation der Zahlen streiten.
 "2. Weil wir kein politisches Vakuum entstehen lassen dürfen. Wenn bis auf die CSU alle etablierten Parteien links der Mitte wahrgenommen werden, dann ist das ein Problem. [...]"
Eine unbewiesene Behauptung, die jedoch auf einer Linie liegt mit der Behauptung, die Menschen wollten eine bürgerlich-konservative Politik. Das Problem entsteht aus dem Unionsanspruch, die rechteste der etablierten Parteien zu sein.
"3. Weil wir die Spaltung der Gesellschaft überwinden müssen. Wir dürfen die Antwort auf die zentralen Konfliktlinien nicht den Extremen von links und rechts überlassen."
Ja, die Antworten der Extremen werden kaum zu einer tragfähigen und verantwortungsvollen Lösung führen. Die Frage ist jedoch, welcher Spalt die Gesellschaft trennt. Ist rechts und links noch eine sinnstiftende Kategorisierung oder inzwischen überholt - man schaue nur auf die Wählerwanderung von Linken und SPD zur AfD. Oder auf die Wahlanalyse der Bertelsmann-Stiftung, die mit der unterschiedlichen Offenheit gegenüber Modernisierung argumentiert.
"4. Weil bei der Modernisierung alle mitkommen müssen. [...] Es ist die Stunde der Union, alle mitzunehmen. Wir können Veränderungen nicht verbieten oder sie einfach laufen lassen. Aber wir müssen sie gestalten."
Ja. Doch dafür wird ein Zehn-Punkte-Plan nicht reichen, weil die Veränderungen zu vielfältig sind. Es muss klar gemacht werden, dass es keine raschen Lösungen geben kann, wie beispielsweise die jahrelange Diskussion um die Besteuerung von Internet-Konzernen zeigt. Und: Ehrlichkeit bei den Grenzen der eigenen Gestaltungsmacht ist notwendig, denn die Veränderungen lassen sich "nicht verbieten". Die AfD wurde groß mit dem vermittelten Eindruck, Nationalismus löse alle Probleme.
"5. Weil man bei großen Aufgaben auch an die kleinen Leute denken muss. Deutschland hat viel Verantwortung in Europa und der Welt übernommen. Aber es darf nie der Eindruck entstehen, dass die eigene Bevölkerung zu kurz kommt. [...]"
Der diffuse Begriff der eigenen Bevölkerung ist kritisch, weil nicht klar ist, wer damit gemeint ist. Sind es die Bürger Deutschlands, Deutsche, alle die hier leben? Es ist natürlich richtig, dass Deutschland trotz seiner Verantwortung in der Welt und Europa auch an Deutschland denken muss. Mit der Unklarheit des Begriffs der eigenen Bevölkerung sind auch nationalistische Konzepte möglich, wie sie die AfD vertritt. Und das ist unvertretbar.
"6. Weil zu Offenheit und Freiheit auch Obergrenze und Leitkultur gehören. Grenzenlose Freiheit macht Angst. Und Angst ist der größte Feind einer offenen Gesellschaft. Deshalb brauchen wir eine bürgerliche Ordnung der Freiheit: das heißt einen durchsetzungsfähigen Staat, eine klare Begrenzung der Zuwanderung und einen Richtungspfeil für die Integration."
Bei bürgerlicher Ordnung fällt mir Biedermeier ein. Zusammen mit Punkt 5 wird's gar biedermeierlich. Oder ist das schon eine AfD-Kopie? Wiederum zeigt sich: Wo Obergrenze und Leitkultur gefordert wird und wo die Integration eine Richtung hat, mangelt es am Integrationswillen, nicht am -können. Integration hat nicht eine Richtung, sie hat zwei: auf einander zu. Und wieder schafft es die CSU nicht, bei einer Begrenzung klar zu trennen zwischen Asyl/Flucht und Migration. So bleibt nur ein Topf übrig, in dem auch die AfD kräftig rührt.
"7. Weil gesunder Patriotismus und Liebe zur Heimat wichtig sind. Wir können stolz sein auf das, was Deutschland in den letzten 70 Jahren erreicht hat. Die Werte und Prägung unserer Heimat sorgen für Identität und Zusammenhalt. Nur wer der eigenen Sache sicher ist, kann anderen offen und tolerant begegnen. [...]"
Deutschland kann stolz auf seine Leistungen sein. Doch warum wird der Untergang der Indentität und des Abendlandes vermutet, wenn Schwule und Leben heiraten wollen? Vielleicht ist man sich der Sicherheit der eigenen Sache doch nicht so sicher und kämpft deshalb um Symbole.
"8. Weil es die konservative Stimme braucht gegen Denkverbote und Meinungspolizei. Genauso gefährlich wie ein radikaler Populismus von rechts ist der blinde Populismus gegen rechts. Alles, was nicht im Geist der Alt-68er steht, gilt als rechts und damit schlecht. [...]"
Meinungspolizei, Denkverbote, Alt-68er-Diffamierung, Populismus-Vorwürfe. Das könnte von der AfD kommen. Und ich zweifle nun noch stärker am Sinn der in Punkt 3 genannten Rechts-Links-Kategorie, wenn die CSU behauptet, der Vorwurf, rechts zu sein, beträfe alles rechts der Alt-68er. Will sie damit Nebelkerzen werfen, unter deren Schwaden sie echte rechte Inhalte wieder salonfähig machen will?
"9. Weil wir uns nur so von der AfD erfolgreich abgrenzen können. [...] Wir müssen die AfD knallhart bekämpfen - und um ihre Wähler kämpfen."
Ja, die AfD muss und soll bekämpft werden, mit demokratischen Mitteln und neuerdings im Bundestag. Das heißt aber nicht, im Revier der AfD-Inhalte zu wildern, sondern die Wähler zu überzeugen, dass es zu AfD-Lösungen eine bessere Alternative gibt. Sonst wird die Union zu einem Mitspieler in der AfD-Liga.
"10. Weil inzwischen selbst der Zeitgeist konservativ ist. Normalerweise sieht der Konservative den Zeitgeist eher skeptisch. Doch heute ist das Konservative das neue Moderne. Anders gesagt: Konservativ ist wieder sexy. [...]"
Wie hieß es einst von Berlin? Arm, aber sexy. Die CSU findet sich so sexy, weil der Zeitgeist konservativ sei. Sie jubelt, weil sie Zeitgeist mit Moderne verwechselt. Mit zeitgeistig-konservativen Antworten auf die Fragen der Moderne wird sie Gefahr laufen, die Veränderungen und deren Konsequenzen in biedermeierlicher Beschaulichkeit zu verpassen. Sie vermag damit vielleicht Modernisierungs-Skeptiker (Bertelsmann-Studie) einlullen. Ob sie dauerhaft sexy bleibt, wenn sie "das Konservative als das neue Moderne" feiert und nicht das Konservative modernisiert und fit macht für morgen, wird sich weisen.
Für eine Jamaika-Koalition finden sich nicht zu viele Stolpersteine, die vorhandenen sind jedoch nicht zu unterschätzen. Wird der Koalitionsvertrag sauber verhandelt, sollten wir - bis zum nächsten Wahlkampf - Ruhe vor dem "Dauer-Zwist" haben. Außer die CSU lässt sich wieder von der AfD die Themen diktieren.

Samstag, 7. Oktober 2017

Roller und Dobrindt ohne Zukunft

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 7.10. die Lösungsmöglichkeiten zwischen den Unionsparteien und zwischen möglichen Jamaika-Koalitionären beleuchtet:


Walter Rollers Leitartikel

Natürlich hat Walter Roller recht: der Streit um die Obergrenze ist lösbar, auch wenn das "nach den massiven Stimmenverlusten der Union noch komplizierter geworden" sei. Möglicherweise bietet "ein Einwanderungsgesetzt [...] hierfür Mittel und Wege". Unverständlich jedoch, warum er Kanzlerin Merkel Starrköpfigkeit vorwirft. Sie bleibt auf ihrer Position, die sie seit langem vertritt. Seehofer hingegen macht das Bäumchen-wechsel-Dich-Spiel, mal nennt er die Obergrenze Koalitionsbedingung, dann stellt er sie hinter den Wahlsieg zurück, um sie nach der Wahl wieder als Bedingung hervorzukramen. Das ist ärgerlich, das ist opportunistisch. Mit seinem vehementen Auftreten für die Obergrenze benimmt er sich wie ein trotziges Kind im Kindergarten, wie Suppen-Kaspar. Walter Roller wirft nur denen Starrköpfigkeit vor, die nicht für eine Obergrenze sind, für Trotzköpfe hat er keine passende Bezeichnung parat.
Walter Roller schreibt von begrenzten Aufnahmemöglichkeiten. Bloß gut, dass nicht unbegrenzt Einlass verlangt wird. Weiter schreibt er, es könne "nun mal nicht jeder, der hier ein besseres Leben sucht, eingelassen werden". Die Möglichkeiten unseres "reichen Landes" seien begrenzt, er nennt "Wohnungen, Schulen, Lehrer oder Arbeitsplätze". Die Argumentation verfängt jedoch nicht, weil die genannten Grenzen keine naturgesetzlichen sind. Es sind politische Grenzen. Über viele Jahre hat es die Politik versäumt, mittels geeigneter Wohnungsbaupolitik für genügend Wohnraum zu sorgen - nun explodieren Mieten und Immobilienpreise. Über Jahre wurde bei Polizei und Sicherheit gespart, nun wird es als Großtat verkauft, wenn Polizeistellen geschaffen werden. Die Forderung einer Obergrenze ist deshalb ein Ausfluss der und eine Ablenkung von politischen Fehl- oder Nichtentscheidungen der letzten Jahre.
Den eigentlichen Hintergrund der Obergrenze offenbart Walter Roller, wenn er schreibt, "die Masseneinwanderung" habe "in weiten Bevölkerungskreisen eine soziale und kulturelle Verunsicherung ausgelöst und die Gesellschaft polarisiert". Daraus zieht er den Schluss, "eine 'Obergrenze' [sei] umso dringlicher". Das ist falsch. Die Obergrenze soll lediglich die Verunsicherung beenden, sie ist ein Opium des Volkes.

Alexander Dobrindts Interview

Bereits aus dem Leitartikel bleibt der Sinn und die Lösungsqualität der Obergrenze fragwürdig. In seinem Interview in der gleichen Ausgabe der AZ macht auch Alexander Dobrindt, nunmehr Vorsitzender der CSU-Landesgruppe, einige beachtliche Aussagen. Auf die Frage, warum die Obergrenze für die CSU unverhandelbar sei, sagt er:
"Uns geht es darum, für die Zukunft Regelungen zu schaffen. Weltweit sind 60 Millionen Menschen auf der Flucht. Wir müssen Vorsorge treffen, dass sich ein Jahr wie 2015 nicht wiederholen kann."
Erstens: Ein Jahr wie 2015 wird sich nicht wiederholen, da die Zeit eine Richtung hat - oder war das die Integration? Oder beides? Egal. Zweitens: Was soll der Hinweis auf 60 Millionen Menschen auf der Flucht im Kontext mit der Obergrenze? Oh je, kommen die nun alle zu uns, nach Bayern? Dann aber schnell!
Dobrindt weiter, mit Walter Roller auf einer Linie:
"Die Integrationsfähigkeit unseres Landes hat eine Obergrenze. Wir können unserem Land keine Lasten zumuten, die nicht zu bewältigen sind."
Wie oben: hier wird eine Objektivität behauptet, als ob es sich bei der Obergrenze um die Lichtgeschwindigkeit handele, die nicht überschritten werden kann. Die Obergrenze ist kein Grenze der Integrationsfähigkeit, sondern des Integrationswillens. Die CSU schielt zur AfD und unterschätzt deshalb die Fähigkeit. Allerdings sei das alles nicht so einfach, wendet Dobrindt ein:
"Die Obergrenze ist deutlich komplexer als ihre Verengung auf ein Wort. Sie hat einen thematischen Unterbau, zu dem das Bekämpfen von Fluchtursachen genauso gehört wie das Sichern von Grenzen, das Beschleunigen von Rückführungen oder das Ausweiten der sicheren Herkunftsstaaten. Kurz gesagt: Es geht um ein umfassendes Regelwerk."
Auf den ersten Blick fällt schon auf, dass er nur eine echte Lösung (Fluchtursachen) anbietet, aber drei Scheinlösungen (Grenzsicherung, Rückführung, sichere Herkunftsstaaten). Damit wird er der Komplexität des Themas nicht gerecht. Er vereinfacht wie die AfD, die glaubt, mittels Abschottung würde der Themenkomplex gelöst. Denn Dobrindts Hauptziel ist:
"In einem sollten sich alle aber einig sein: Das Auftreten der AfD im Bundestag darf keine Dauereinrichtung sein. Wir müssen ein gemeinsames Interesse haben, diese Wähler zurückzugewinnen."
Im Hinterkopf gärt noch die Losung, rechts neben der Union dürfe es keine legitimierte Partei geben. Warum nicht? Warum soll es nicht ein paar Irrlichter im Parlament geben, die (extrem) rechte Positionen vertreten und sich mit jeder Aussage weiter von der Möglichkeit einer Regierungsverantwortung entfernen? Es ist ehrenhaft, wenn die CSU versucht, der AfD Wähler abzuwerben. Es ist jedoch unehrenhaft, wenn sie sich dazu auf dem Gebiet der AfD deren Analysen und deren "Lösungen" bedient. Vor lauter Angst vor einer offenen rechten Flanke und dem Versuch, eine heile Welt von gestern zu konservieren, vergisst die CSU, sich ins Morgen zu begeben. Sie versäumt es, Konservatives zu modernisieren.

Wahlanalyse Bertelsmann-Stiftung

Der Leitartikel von Walter Roller und das Interview mit Alexander Dobrindt stehen in einem bemerkenswerten Zusammenhang mit einem Artikel in der gleichen Ausgabe der AZ, in dem über das Wegbrechen der Wähler aus der Mitte berichtet wird:
"Die Protestpartei verdankt ihr Ergebnis als drittstärkste Kraft vor allem zwei Gruppen: der 'Bürgerlichen Mitte' und dem 'Prekären Milieu'. Bei Wählern der sozialen Unterschicht wurde die AfD mit weitem Abstand stärkste Partei."
"'In keinem anderen Milieu ist der Erosionsprozess der etablierten Parteien und die Dominanz der Nicht- und Protestwähler so weit fortgeschritten wie im Prekären Milieu', schreiben die Forscher in ihrer Analyse."
"Punkten können Union, SPD, FDP und Grüne vor allem in jenen Milieus der Mittel- und Oberschicht, die grundsätzlich positiv gegenüber gesellschaftlichen Fortschritt und Modernisierung eingestellt sind. 'Die AfD wurde ganz überwiegend von Menschen gewählt, die der sozialen und kulturellen Modernisierung zumindest skeptisch gegenüberstehen', sagt Vehrkamp."
Weiteres Licht in die Angelegenheit bringt die Studie der Bertelsmann-Stiftung selbst. In den einleitenden Sätzen der Website heißt es:
"Die soziale Spaltung der Wahlbeteiligung ist bei der Bundestagswahl 2017 zum ersten Mal seit 1998 wieder spürbar gesunken. Dies ist vor allem einem 'AfD-Effekt' zuzuschreiben: In den sozial prekären Stimmbezirken, die üblicherweise die niedrigsten Wahlbeteiligungen verzeichnen, konnte die AfD viele Wähler für sich mobilisieren. Infolge dessen stieg die Wahlbeteiligung dort überdurchschnittlich an. Gleichzeitig zeigt sich eine neue Konfliktlinie der Demokratie, die quer durch die Wählerschaft zwischen Modernisierungsskeptikern und -befürwortern verläuft. Zudem verlieren die etablierten Parteien im Milieu der bürgerlichen Mitte Wähler und erreichen im sozial prekären Milieu kaum noch Menschen."
Der Streit um die Flüchtlingspolitik, um die Obergrenze ist lediglich ein Symptom. Die Konfliktlinie ist nach der Studie die "Modernisierung", Skeptiker auf der einen, Befürworter auf der anderen Seite. Dabei kommt der AfD eine besondere Rolle zu:
"'2017 ist es vor allem der AfD gelungen, Nichtwähler und Wähler aus sozial prekären Stimmbezirken in großem Stil zu mobilisieren', erläutert unser Demokratieexperte und Autor der Studie Robert Vehrkamp."
Seit den 1970er Jahren haben die Parteien zugesehen, wie die Wahlbeteiligung in Bundestagswahlen immer weiter zurück ging. Die AfD hat einen Weg gefunden, zumindest in gewissen Bevölkerungsteilen Wahlberechtigte zurück an die Wahlurnen zu führen. Dieses Mobilisierungsvermögen macht der Union und der CSU Angst. 2018 stehen in Bayern Wahlen an und auch dort ist die Wahlbeteiligung in Landtagswahlen über Jahrzehnte gesunken. Es wird zu einem Problem für die CSU, wenn die AfD so mobilisierungsstark sein sollte wie im Bund.
Zur Konfliktlinie wird auf der Website weiter ausgeführt:
"In modernisierungsskeptischen Milieus identifizieren sich die Menschen mit Begriffen wie 'Tradition' oder 'Besitzstandswahrung'. Für modernisierungsoffene Milieus sind dagegen 'Grenzüberwindungen' und 'Beschleunigung' prägende Begriffe. Knapp zwei Drittel aller AfD-Wähler kommen aus Milieus, die eher modernisierungsskeptisch sind. Damit hat die AfD im Parteienspektrum ein Alleinstellungsmerkmal. Denn die Wähler aller anderen im Bundestag vertretenen Parteien gehören mehrheitlich einem der Milieus der Modernisierungsbefürworter an. Am knappsten fällt diese Mehrheit mit 52 Prozent bei den Unions-Wählern aus, am deutlichsten bei den Wählern der Grünen (72 Prozent)."
Grafisch aufbereitet wird die Konfliktlinie in der Studie, Seite 15, dargestellt:


Die Wahlergebnisse differieren zwischen den Milieus:


Um so mehr frage ich mich, warum die Union nun glaubt, dort die Erlösung zu finden, wo das lauteste Geschrei herrscht und die AfD ein Alleinstellungsmerkmal hat. Oder provokanter: Warum soll Deutschland mit einer Politik in die Zukunft geführt werden, die den Vorstellungen der Modernisierungsskeptiker zuspricht? Im Wahlkampf wurden die Parteien nicht müde zu betonen, es ginge um die Zukunft Deutschlands, die FDP behauptete gar, neu zu denken.

Conclusio

Die Politik hat immer die Aufgabe, in der Gegenwart so zu gestalten, dass die Zukunft bewältigt - besser: gestaltet -  werden kann. Die deutsche Politik war bei dieser Zukunftsgestaltung nicht immer erfolgreich, wie die aktuelle Diskussion um Dieselgate und Elektromobilität zeigen, oder die oben erwähnten Defizite beim Wohnungsbau. Industrie 4.0, Digitalisierung, Globalisierung und Roboterisierung verursachen gravierende Umbrüche. Künstliche Intelligenz (KI) wird zu einer besonderen Herausforderung für die Menschen auf jedem Gebiet, sei es Ethik, Arbeitswelt, soziale Gerechtigkeit. Manchen Menschen gehen diese Veränderungen zu schnell, anderen nicht schnell genug. Doch eines ist klar: die Veränderungen werden kommen, sie werden wirken. Sie werden keine Rücksicht nehmen, ob einzelne Menschen, Regionen oder Staaten ihnen skeptisch oder aufgeschlossen gegenüber sind. Wenn die Politik es ernst meint mit der Zukunft, dann muss sie endlich anfangen, an der Zukunft zu arbeiten. Wenn die Union und besonders die CSU glaubt, mit einer Politik für Modernisierungsskeptiker die AfD als Partei der Modernisierungsskeptiker ausstechen zu können, riskiert sie Deutschlands Zukunft und steht dabei auf einem ethischen Sumpf.

Montag, 2. Oktober 2017

Fertig werden mit der AfD

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen am 2.10. in einem Leitartikel beschrieben, wie Deutschland mit dem Aufstieg der Rechten fertig werden könne:


Walter Roller schreibt zur Verortung Deutschlands nach der Bundestagswahl:
"Im vor 27 Jahren glücklich wiedervereinigten Deutschland ist nun passiert, was seit vielen Jahren in vielen europäischen Staaten die politische Szene maßgeblich prägt: Das Land ist ein Stück weit nach rechts gerückt, eine nationalistische Partei fortan im Bundesparlament vertreten."
Ja, Deutschland ist nach rechts gerückt und die CSU rückt fleißig mit. Deshalb ist die Einschätzung von Walter Roller richtig:
"Vor dem Hintergrund unserer Geschichte wirkt die Tatsache, dass jeder achte Wähler in die Arme einer radikalen, gegen das 'System' ankämpfenden Protestpartei geflüchtet ist, besonders beunruhigend."
Nun kann man darüber diskutieren, ob der Wahlerfolg der AfD bereits beunruhigend ist oder noch nicht und ob sich gerade in der Parlamentsarbeit Möglichkeiten bieten, der AfD die Stirn zu bieten. Walter Roller fordert deshalb zu Recht:
"Wann immer Politiker der AfD antidemokratisch und fremdenfeindlich agieren, müssen sie also auf entschiedenen Widerstand stoßen. Die Demokraten dürfen sich nicht damit abfinden, dass völkische Parolen salonfähig werden. Und sie müssen dem Druck von rechts außen auch in der Sache standhalten."
Nach diesen Sätzen und dem Aufruf zum Widerstand "in der Sache" zeigt Walter Roller Verständnis für eine Wahlentscheidung für die AfD:
"Das kulturelle Unbehagen über die Masseneinwanderung und die Angst vor einer Überforderung des Sozialstaats reichen nämlich weit in die Mitte der Gesellschaft und jener '87 Prozent' hinein. Natürlich zieht die AfD auch viele Menschen an, die sich als Verlierer empfinden und in sozialer Not sind. Aber sie ist nicht nur ein Sammelbecken der 'Abgehängten' und die meisten AfD-Wähler sind auch keine 'Nazis'. Die Wut und der Frust, die sich auch unter Millionen konservativ und national denkender Bürger aufgestaut haben, lassen sich deshalb weder mit sozialpolitischen Maßnahmen noch mit Beschimpfungen wegzaubern."
Die meisten AfD-Wähler seien keine Nazis, keine Abgehängten, auch wenn beides sich in den AfD-Wählern findet. Hier ließe sich trefflich diskutieren, wann jemand noch konservativ bzw. national-konservativ ist und wann die Grenze zum Nazi überschritten wird. In der gleichen Ausgabe der AZ findet sich eine Reportage über Bautzen, die "Stadt, in der die AfD zu Hause ist". In der Printausgabe findet sich eine Grafik mit der geografischen Verteilung der AfD-Zweitstimmen:


Es zeigen sich lokale Auffälligkeiten. Wo Walter Roller behauptet, Unbehagen und Angst reichten "weit in die Mitte der Gesellschaft" hinein, bietet er keine Erklärung für die dargestellte räumliche Verteilung. In der Reportage selbst wird die relevante Frage gestellt:
"Und weshalb wählen gerade in einer Stadt wie Bautzen, in der es kaum Migranten gibt, mehr als doppelt so viele rechts wie im Rest der Republik?"
Eine mögliche Antwort liest sich so:
"Doch ein großer Teil der Menschen in Ostdeutschland und auch in Bautzen fühlte sich abgehängt. 'Mit der Arbeitslosigkeit kam das große Erwachen', sagt Kämpfe: 'Das Nicht-gebraucht-Werden hat viele kaputt gemacht.' Der 74-Jährige spricht von 'Abzockern', die aus dem Westen kamen und einen Betrieb nach dem anderen in die Insolvenz führten."
Der Intendant des Volkstheaters wird zitiert:
"Er sagt: 'Vielen Menschen hier fehlt die Empathie.'"
Sich abgehängt fühlen und fehlende Empathie lassen sich gut mit dem in Einklang bringen, was die AfD als Vorgehensweisen zeigt:
  • Verachtung der Eliten
    Helmut Kohl versprach blühende Landschaften. Es blühte alles mögliche, aber keine Landschaften. Und es dauerte Jahre über Jahre, bis sich überhaupt die ersten zarten Pflänzchen zeigten.
  • Benachteiligung
    Die neuen Bundesländer haben noch immer eine höhere Arbeitslosigkeit, geringere Renten, geringere Löhne, geringere Wirtschaftskraft. Auch wenn sich dies erklären lässt, fühlt es sich für die Betroffenen als Benachteiligung an. Hinzu kommt - was auch die Reportage zeigt - ein Wegfall und eine Entwertung von Berufsausbildungen, Fertigkeiten und Kenntnissen.
  • Lügenpresse
    Die Presse berichtet über abnehmende Arbeitslosenzahlen, zunehmende Gehälter, Wirtschaftsaufschwung. Wen dies nicht erreicht, vermutet nicht unbegründet Lügen.
Die AfD benennt auch Schuldige und macht sie in den Ausländern, den Migranten und Asylbewerbern aus. Dazu:
"Die Rechten, erzählt Wiegel, versuchen den öffentlichen Raum in der Stadt einzunehmen. Sie seien gut organisiert und präsent."
Die Präsenz und die Organisation zeigen Erfolge:
"'Es gibt hier eine breite Akzeptanz für Rechte.' Doch die gebe es nicht nur in Bautzen. Der ganze Osten habe ein großes Problem mit Rechtsextremen. Und das seien nicht nur die Abgehängten, sondern eben auch Akademiker und einflussreiche Geschäftsmänner."
Und auch Walter Roller geht der AfD auf den braunen Leim, weil er der AfD in Problembeschreibung und -behebung folgt:
"Merkels eigentlicher Fehler bestand darin, bei allem humanitären Engagement die Sorgen und Nöte vieler Deutscher nicht ausreichend zur Kenntnis genommen zu haben. Nun kommt es darauf an, die Gesellschaft wieder zusammenzuführen und zu zeigen, dass der Staat die Kontrolle über die Zuwanderung zurückgewinnen will."
Er folgt der AfD beim "Lösungsvorschlag", mit der "Kontrolle über die Zuwanderung" sei eitel Sonnenschein hergestellt. Das ist ein Irrtum.
Wenn in Ostdeutschland die Arbeitslosenquote höher ist als im Westen, müssen dort Arbeitsplätze entstehen. Dafür müssen dort qualifizierte Arbeitskräfte vorhanden sein und bleiben; schlechte Aussichten hierfür, wenn die Arbeitskräfte in den Westen abgeworben werden. Rentner brauchen eine auskömmliche Rentenhöhe und eine verständliche Erklärung für etwaige Unterschiede zu westdeutschen Renten. Das alles hat nichts mit Ausländern zu tun. Alle Maßnahmen, die auf Ausländer zielen, sind bestenfalls ein Placebo.
Für die südlichen alten Bundesländer funktioniert eine solche Argumentation natürlich nicht, weil sie die wirtschaftlich stärksten Regionen in Deutschland sind. Hier mag es daran gelegen haben, dass die CSU lautstark der AfD in Ursachenanalyse und "Lösung" folgte. Es mag daran gelegen haben, dass die meisten Asylbewerber hier zu erst deutschen Boden betraten.
Wenn Walter Roller fordert, die Politik müsse Sorgen, Nöte und Ängste ernst nehmen, rufe ich ihm zu: "Dann tun Sie es doch!" Er tut es nicht, weil er den Empfindungen nicht auf den Grund geht, weil er sich mit einer oberflächlichen Analyse begnügt, weil er Scheinlösungen als "Lösung" propagiert. Das ist um so verwunderlicher, als er selbst schreibt:
"Erstens eine klare Abgrenzung in der Sache und eine harte, mit selbstbewusster Gelassenheit geführte Konfrontation. Und zweitens eine Politik, die Probleme anpackt und zu lösen versucht. Bei beidem besteht gewaltiger Nachholbedarf."
Ein Rechtsruck in Deutschland kann und wird nicht die Lösung sein, das ist Bezirksliga. Damit wird Deutschland nicht mit der AfD fertig. Da kann Deutschland gleich die Hände in den Schoß legen und auf die Selbstzerfleischung der AfD hoffen.
Das Schlusswort gebührt Christian Kämpfe und ich richte es an alle diejenigen, die sich auf die christlich-abendländischen Werte in Europa und Deutschland so viel einbilden und insbesondere an die CSU, die dieses Wertegerüst wie eine Fahne vor sich herträgt, solange es um Bayern geht:
"Ein Christ kann doch nicht fremdenfeindlich sein"