Sonntag, 19. Februar 2017

Der Zauber des Martin Schulz

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen vom 18.2. einen Leitartikel veröffentlicht über die Aussichten der SPD, mit dem Kanzlerkandidaten Martin Schulz die anstehende Bundestagswahl zu gewinnen:


Walter Roller schreibt:
"Martin Schulz hat das Kunststück vollbracht, die in der Depression versunkene SPD binnen weniger Wochen zu neuem Leben zu erwecken. [...] Und, noch erstaunlicher: Im direkten Vergleich mit der Kanzlerin hat der Mann, der bundespolitisch bis dato keine Rolle spielte, die Nase vorn."
Wirklich erstaunlich. Zum Aufstieg des Martin Schulz schreibt Walter Roller:
"Das Phänomen Schulz ist nicht so rätselhaft, wie es auf den ersten Blick erscheint. Der Mann kommt an, weil er glaubwürdig und entschlossen wirkt und mit klaren Worten auch das Gemüt der Menschen erreicht. Da ist ein neues, den meisten eben noch unbekanntes Gesicht, das – endlich – eine Alternative verheißt. Schulz profitiert von dem Überraschungseffekt und der Erleichterung darüber, dass der politische Wettbewerb der Volksparteien um die Mitte wieder an Spannung gewinnt – was der Demokratie ganz guttut."
Mehr dürfte tatsächlich kaum dahinter stecken. Das Herumgeeiere mit absehbar chancenlosen Herausforderern der Kanzlerin war wahrlich nicht spannend. Dass klare Worte wirken, zeigen auf der politischen Bühne viele, bis hin zum Populismus. Wolfgang Schäuble hat diesen Vorwurf bereits gemacht und Schulz mit Trump verglichen. Ein gewisser Populismus tut dem Politgeschäft gut: Inhalte müssen verkauft werden und wenn der Verkäufer gut ankommt bei den Wählern, macht er einen guten Job. Allerdings darf das verkäuferische Talent nicht nur eine Kulisse für die Leere dahinter sein. Es müssen auch die Inhalte stimmen. Populisten im banalen, negativen Sinn haben hier nichts zu bieten, sie schreien ihre einfachen "Lösungen" mit einfachen Worten hinaus und hoffen, dass ob der Lautstärke keiner die Qualität ihres Angebotes ernsthaft prüft. Ob der Zauber von Martin Schulz nachhaltig wirkt, beschreibt Walter Roller so:
"Der Hype um den zum 'Erlöser' (SPD-Vize Schäfer-Gümbel) hochstilisierten Europapolitiker wird sicher nicht von Dauer sein und spätestens dann abflauen, wenn es der Überflieger Schulz mit den Mühen der Ebene zu tun bekommt und die Bürger mehr hören wollen als flotte Sprüche und emotionale Ansprachen."
Damit dürfte er richtig liegen. Bisher ist nichts über die Ebene bekannt, die Mühen verstecken sich noch im Freudentaumel. Einige der Mühen deutet Walter Roller als Fragen an:
"Wie will die SPD dafür sorgen, dass es 'gerechter' zugeht? Sie hat ja die meiste Zeit seit 1998 (mit)regiert.
Wie hält es Schulz mit der Flüchtlingsfrage und der inneren Sicherheit? Was passiert mit den Steuern? Will Schulz Europas Schulden noch immer auf Kosten der Deutschen vergemeinschaften?"
Das Aushängeschild der Wahl soll die soziale Gerechtigkeit werden, wie ich in meinem letzten Eintrag darstellte und auf mögliche Fallen hinwies, die sich Martin Schulz selbst gestellt haben könnte. Bisher lässt die SPD offen, was sie unter sozialer Gerechtigkeit überhaupt verstehen will. Wikipedia nennt das Konzept "seit jeher umstritten und vielschichtig", als eine Ausprägung wird eine Variante der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) dargestellt. In der Studie der FES "Ungleichheit bekämpfen! Wo der deutsche Wohlfahrtsstaat jetzt investieren muss" heißt es bereits im ersten Satz des Vorwortes:
"82 Prozent der Menschen in Deutschland sind inzwischen der Meinung, dass die soziale Ungleichheit in Deutschland zu groß ist."
Noch im Vorwort wird weiter ausgeführt:
"Eine Mehrheit fühlte sich zudem nicht gut gegen die Risiken im Falle von Arbeitslosigkeit, Krankheit und Pflegebedürftigkeit sowie beim Einkommen im Alter abgesichert. Und immerhin knapp 40 Prozent der Befragten gaben an, dass sie nicht mehr glauben, dass sozialstaatliche Leistungen zu mehr Gleichheit in der Gesellschaft führen. Zwei Drittel der Befragten äußern zudem die Sorge, dass die soziale Ungleichheit inzwischen ein Ausmaß erreicht hat, welches der nachhaltigen wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland schadet.
Dies sei, so könnte man argumentieren, lediglich eine subjektive Wahrnehmung. [...] Dass dies aber nur ein Teil der Wahrheit ist, zeigen jüngste Zahlen des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung (vgl. Presseerklärung, Anm.). Demnach ist die soziale Mobilität in Deutschland in den letzten Jahren gesunken. Die Wahrscheinlichkeit, heute arm zu sein, wenn man schon vor 25 Jahren arm war, ist gestiegen. Auch die Einkommens- und Vermögensungleichheit hat in Deutschland seit Beginn der 1990er Jahre zugenommen. Gleiches gilt für die Armutsrisikoquote, die 2015 den höchsten Wert seit der Wiedervereinigung erreicht hat."
Die Autoren schlagen zur Lösung vor, die Betonung des Forderns aufzugeben zu Gunsten des Förderns, das in folgenden sechs Bereichen zur Beseitigung sozialer Ungleichheiten beitragen soll:
  1. Bekämpfung der Kinder- und Bildungsarmut durch Investition in Bildung und frühkindliche Förderung
  2. Übergangssystem für benachteiligte Jugendliche mit individuell betreuenden Bildungscoaches
  3. Bessere Betreuungsschlüssel bei der Vermittlung und Qualifizierung Erwerbsloser, um eine bedarfsgerechte, intensive und individuelle Fallbetreuung zu ermögliche
  4. Investitionen in öffentliche Beschäftigungsförderung
  5. Ausbau des Programms der Sozialen Stadt zur Verhinderung negativer Segregations- und Exklusionstendenzen.
  6. Maßnahmen im Bereich der Schulen, damit gezielte Selbstlern-/ Selbstorganisationsfähigkeiten vermittelt werden, um für die wandelnden Anforderung der digitalen Wissensgesellschaft gerüstet zu sein.
Wie schwer der Aufstieg ist, wie gering also die soziale Mobilität, lässt sich beispielsweise nachlesen im Buch "Rückkehr nach Reims" des französischen Schriftstellers und Soziologen Didier Eribon. In einem Interview mit der Berliner Zeitung sagte er:
"In den 80ern hat vor allem die sozialistische Partei in Frankreich versucht, die Existenz einer Sozialstruktur nach Klassen zu verleugnen. Stattdessen sprach man von der Selbstbestimmtheit des Individuums und dessen Verantwortung für sich selbst. Man sagte den Leuten: 'Wenn du arbeitslos bist und keinen Schulabschluss hast, ist das deine schuld.'
Damit nahm man den Arbeitern ihre Identität. Das Problem ist: Klassen existieren, auch wenn keiner darüber sprechen möchte. Und in dieses Vakuum stieß der FN. Marine Le Pen hat vor einigen Tagen noch in einer Rede gesagt: 'Wir sind diejenigen, die für die Arbeiterklasse kämpfen.' Die AfD in Deutschland und Ukip in Großbritannien machen das Gleiche."
In einem Interview mit der TAZ sagte er:
"Als Erstes muss die Linke aufhören, soziale Forderungen wie ordentliche Gehälter, gute Wohnungen, anständige Arbeitsbedingungen, Pensionen, Sozialversicherung und ein anständiges Gesundheitssystem zu ignorieren. Wir müssen gegen die Zerstörung des Wohlfahrtsstaates in Europa kämpfen."
Hier deckt sich seine Analyse mit den Ergebnissen der Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Die SPD könnte ihr Wahlprogramm entsprechend gestalten und von Martin Schulz glaubwürdig vertreten lassen. Zumindest seine Biographie gäbe das her, da er nicht an Universitäten eine elitäre Ausbildung genossen hat. In einem Beitrag in der Zeitung Der Standard heißt es:
"Die Sozialdemokraten Europas hätten eine riesige Mitschuld am Aufstieg der Rechten. Natürlich spielten die Verwerfungen durch die Wirtschaftskrise eine Rolle. Das Problem sitze aber tiefer, sagt Eribon. 'Viele Menschen fühlen sich abgehängt und ausgeschlossen. Nicht nur ökonomisch, sondern auch politisch. Sie haben keinen Zugang zur Öffentlichkeit, können sich keinen Ausdruck verschaffen.'"
"Die Ursachen für die Entwicklungen in seinem Heimatland sieht Eribon tief in der Gesellschaft verankert. 'Wenn Sie das französische Schulsystem ansehen, dann werden Sie feststellen, dass es nahtlos daraufhin ausgelegt ist, die Reproduktion der Bourgeoisie zu gewährleisten und alle anderen von den oberen Sphären der Gesellschaft auszuschließen.'"
Schulz könnte neben Nichtwählern auch wieder die angestammte Klientel der SPD von der AfD zurückholen. Allerdings lastet ihm derzeit der Vorwurf an, sehr wohl im elitären Stile derer da oben Pfründe und Gelder verteilt zu haben an Vasallen, die es verdient haben. Sollte sich dieser Vorwurf bewahrheiten, wird er unglaubwürdig. Glaubwürdigkeit ist nach Walter Roller eines der Erfolgsaspekte von Martin Schulz. Verspielt Schulz dies, wird mehr nötig sein als ein simpler Zauber, um die SPD zur Kanzlerschaft zu führen.

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