Sonntag, 22. Mai 2016

Walter Rollers Europawende

Die Augsburger Allgemeine hat am 21.05. in der Printausgabe einen Leitartikel von Walter Roller veröffentlicht, in dem er Ursachen beschreibt, warum die Bürger Europas sich zunehmend abwenden:

 

Walter Rollers Europasicht

Walter Roller bezieht klar Stellung für Europa, wenn er schreibt:
"Das europäische Projekt, ein Glücksfall der Geschichte, dümpelt vor sich hin."
"Jeder der 28 EU-Staaten, auch das starke Deutschland, stünde ohne die Union schlechter da. Die eminenten ökonomischen Probleme in Ländern wie Frankreich haben nichts mit der EU, sondern mit hausgemachten Fehlern und reformerischen Versäumnissen zu tun."
Beiden Aussagen kann ich gerade heraus zustimmen. Walter Roller benennt Entwicklungen und Vorkommnisse, die zeigen, warum sich Bürger und Staaten von Europa abwenden. Er zeigt, welche Ursachen hierfür in Frage kommen:
"Immer mehr Staaten fehlt der Wille zur Einigung."
"[...] die Union fände die Kraft zu einer Art Neustart und überzeugte die Europäer davon, dass sie in der Welt von morgen Deutsche, Italiener oder Österreicher bleiben, in großen Fragen jedoch nur Seit an Seit bestehen können."
"Das Unbehagen an einer zentralistischen EU [...] hat im Laufe der Jahre immer mehr zugenommen [...]"
"Wenn Populisten trotzdem zunehmend Gehör finden, so hat das vor allem mit der mangelhaften Lösung von Problemen und mit dem Gefühl vieler Menschen zu tun, dass die EU-Eliten hinter verschlossenen Türen über die Köpfe der Menschen hinweg regieren."
Damit beschreibt Walter Roller die Gefühlslage vieler zutreffend.
 

Walter Rollers Demokratiefehler

Andere Stellen des Leitartikels lassen mich jedoch mit Verwirrung zurück.
"Das Unbehagen an einer zentralistischen EU, die ihre weitreichenden Entscheidungen ohne hinreichende demokratische Legitimation trifft, hat im Laufe der Jahre immer mehr zugenommen [...]"
Das ist der populistische Duktus einer AfD, die in plebiszitären Entscheidungen den Traumgipfel der demokratischen Legitimation sehen. Meint Walter Roller Einzelfälle oder meint er die politische Systematik der EU insgesamt? Meinte er letzteres, läge er falsch, wie ein Blick auf Art. 14 des EU-Vertrages zeigt:
"(1) Das Europäische Parlament wird gemeinsam mit dem Rat als Gesetzgeber tätig und übt gemeinsam mit ihm die Haushaltsbefugnisse aus. Es erfüllt Aufgaben der politischen Kontrolle und Beratungsfunktionen nach Maßgabe der Verträge. Es wählt den Präsidenten der Kommission."
"(3) Die Mitglieder des Europäischen Parlaments werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier und geheimer Wahl für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt."
Der eine Teil des europäischen Gesetzgebers ist also über demokratische Wahlen bestimmt. Damit sind die Entscheidungen des EU-Parlaments so demokratisch legitimiert, wie Gesetze durch den Deutschen Bundestag demokratisch legitimiert Zustande kommen. Zum Rat schreibt Art. 16 EU:
"(2) Der Rat besteht aus je einem Vertreter jedes Mitgliedstaats auf Ministerebene, der befugt ist, für die Regierung des von ihm vertretenen Mitgliedstaats verbindlich zu handeln und das Stimmrecht auszuüben."
Der Rat ist mit Gesandten der Mitgliedsstaates besetzt. Die Mitgliedsstaaten sind demokratisch, sonst dürften sie nicht in die EU, wie die Diskussion um den Beitritt der Türkei zeigt. Die Gesandten handeln für die entsendende Regierung verbindlich. Die Regierungen der EU sind demokratisch bestimmt worden, somit sind ihre Gesandten ebenfalls demokratisch legitimiert. In Summe sind also beide Teile des europäischen Gesetzgebers demokratisch legitimiert und damit die verabschiedeten Gesetze und andere Vorgaben.

Walter Rollers Haushaltsfehler

Er schreibt:
"Spanien und Portugal, die seit Jahren gegen die im 'Stabilitätspakt' festgelegten Defizitgrenzen verstoßen, kommen ein weiteres Mal mit einer sanften Ermahnung davon. Auch andere notorische Schuldensünder wie Frankreich, Italien und Belgien können auf Nachsicht zählen. Der Pakt ist zur Farce verkommen."
Da sei die Lektüre des AZ-Berichts über Günther Oettinger empfohlen, der darauf hinweist, dass es durchaus gute Gründe gibt, mit der wörtlichen Anwendung der Haushaltsvorgaben vorsichtig zu sein. Denn es hilft niemandem, wenn sich Deutschland wegen der Durchsetzung eines Sparkurses auf die Schulter klopfen kann, in den jeweiligen Ländern dann aber Euroskeptiker Wahlerfolge feiern und damit die europäische Idee weiter schwächen. Günther Oettinger verweist selbst auf die Schwierigkeit, einen "klugen Mittelweg" zu finden. Es ist eben nicht klug, wie Walter Roller nur nach strenger Durchsetzung des Stabilitätspaktes zu rufen. Das zeigt sich beispielhaft mit einem Blick auf das Bruttoinlandsprodukt von Spanien, das im Jahre 2008 über 1,6 Billionen US-$ betrug und bis zum Jahre 2015 bis unter 1,2 Billionen US-$ einbrach. Im gleichen Zeitraum stieg die Arbeitslosenrate von etwa 11% auf etwa 22%. Bei diesen Zahlen, die einen Hinweis auf sinkende Steuereinnahmen einerseits und erhöhte Ausgaben andererseits geben, ist eine kluge Abwägung der Folgen einer strengen oder eben weniger strengen Auslegung des Stabilitätspaktes nicht nur klug, sondern notwendig.
Direkt weiter schreibt Walter Roller:
"Die Schuldenmacherei geht weiter, als ob sich damit Wachstum erzeugen ließe."
Was soll man dazu sagen? Es ist die Grundlage jedweder Theorie zur Wirtschaftspolitik, dass Mehrausgaben Wachstum erzeugen würden, entweder weil sie direkt zu einer (Konsum)Nachfrage führen oder weil sie die Investitionslust der Unternehmen anregen. Natürlich macht es Sinn zu überlegen, in welcher Situation Mehrausgaben über Schulden bzw. keinesfalls über Schulden zu ermöglichen sind. Das oft bemühte deutsche Grundgesetz, das die deutsche Schuldenbremse definiert, lässt in Art. 109 GG selbst Ausnahmen zu:
"(3) Die Haushalte von Bund und Ländern sind grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Bund und Länder können Regelungen zur im Auf- und Abschwung symmetrischen Berücksichtigung der Auswirkungen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung sowie eine Ausnahmeregelung für [...] außergewöhnliche Notsituationen, die [...] die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, vorsehen."
Wo Walter Roller so tut, als sei Verschuldung Teufelszeug, lässt das Grundgesetz einen sachlich gebotenen notwendigen Spielraum.

Walter Rollers EZB-Fehler

Walter Roller schreibt:
"Die EZB, nach dem Vorbild der Bundesbank konstruiert, druckt Geld auf Teufel komm raus, hält damit südeuropäische Staaten verbotenerweise über Wasser und schröpft die Sparer mit ihrer Null-Zins-Politik. Dies alles geschieht ohne demokratische Kontrolle."
Hält er die Konstruktion der deutschen Bundesband für undemokratisch? Aus gutem Grund sind europäische Notenbanken unabhängig. Sie sollen gerade nicht dem Wollen von Regierungen unterworfen sein. In Art. 127 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union steht:
"(2) Die grundlegenden Aufgaben des ESZB bestehen darin, die Geldpolitik der Union festzulegen und auszuführen, [...]"
Die EZB legt die Geldpolitik fest und hat dabei ihre Zielvorgaben zu beachten (ebenfalls Art. 127 AEUV):
"(1) Das vorrangige Ziel des Europäischen Systems der Zentralbanken (im Folgenden 'ESZB') ist es, die Preisstabilität zu gewährleisten. Soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Union [...]"
Ein Problem mit ungenügender Preisstabilität hat die EU derzeit nicht. Also kann die EZB die allgemeine Wirtschaftspolitik unterstützen. Das tut sie mit ihren Mitteln, um den besonders von der Finanzkrise betroffenen Staaten zu helfen. Man mag nun über einzelne eingesetzte Mittel streiten. Doch Walter Roller stellt die Aktivitäten der EZB unter Generalverdacht.

Fazit

Auch wenn Walter Roller sich pro-europäisch äußert und berechtigt den Finger auf manch wunden Punkt legt, macht er diesen positiven Eindruck zunichte, wenn er Demokratiedefizite anführt, ohne sie zu begründen. Er macht sich nicht einmal die Mühe, seine Vorwürfe an konkreten Beispielen zu belegen. Er schreibt:
"Die simplen Parolen radikaler Parteien, die den Rückzug hinter nationale Mauern predigen und der EU die Schuld an hoher Arbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen zuschanzen, sind polemischer Unfug."
Polemik vermag ich in seinen Worten nicht zu erkennen. Im Kern schwimmt er jedoch in eine ähnliche Richtung. Unauffällig im Ton, weniger deutlich als Mitte April, und darum umso perfider. Er klärt nicht auf, er liefert Munition für diejenigen, die glauben "EU-Eliten [würden] hinter verschlossenen Türen über die Köpfe der Menschen hinweg regieren."

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