Samstag, 27. Februar 2016

Europas verspielte Zukunft

Wlater Roller weist in seinem Leitartikel darauf hin, die Flüchtlingsfrage würde zur Schicksalsfrage der EU:


Ja. Einer der Grundpfeiler der EU, die Solidarität und das Miteinander, wird zugewuchert von Nationalstaaterei, Kleinmut und Egoismen.
Walter Roller schreibt am Ende, dass "[g]anz Europa [...] begreifen [muss], dass die Flüchtlingsfrage alle betrifft und jeder Staat seinen humanitären Beitrag leisten muss". Richtig, das mögen sich Europas Mächtige ganz groß auf's Tapet schreiben.

Walter Rollers zwiespältige Forderung

Einige Teile des Leitartikels gemahnen jedoch zur Vorsicht. Mit der Bezeichnung als "moderne Völkerwanderung [,die] Europas politische und kulturelle Landschaft verändern wird" leistet er diffusen Ängsten Vorschub, die eine Islamisierung des Abendlandes über sich hereinbrechen sehen und dabei verkennen, dass nicht jeder Muslim als Missionar agiert. Walter Roller weist hin, "die Politik [habe] es in der Hand, den Rückfall in die nackte Nationalstaaterei zu verhindern und die Flüchtlingszahlen [...] auf ein verkraftbares Maß zu verringern". Richtig. Nur bleibt das Verkraftbare unklar und lässt Raum für Scheinlösungen wie "der Beschluss Österreichs, im Bunde mit neun Balkanstaaten den Ansturm von Flüchtlingen, Asylbewerbern und Armutsgrenzen an den eigenen nationalen Grenzen zu stoppen". Dabei erkennt er selbst den Schein der Lösung, wenn er im nächsten Satz "auf das Risiko [hinweist], das Not leidende EU-Mitglied Griechenland in eine Art Flüchtlingslager der EU umzufunktionieren."
Walter Roller hat Sympathien mit der Grenzschließung Österreichs. Dabei lässt Österreichs Obergrenze Luft für mehrere Tausend Durchreisende nach Deutschland. Damit legt Österreich die Grundlage für das, was gemeinhin als illegale Einreise tituliert wird: Aus einem sicheren Drittland nach Deutschland einreisen zu wollen, ohne im Drittland Asylantrag zu stellen. Es ist bemerkenswert, wie aus diesem Maßnahmenbündel ein Aspekt gelobt, der der oft so genannten "illegalen Einreise" schlicht ignoriert wird.
Walter Roller schreibt, die "Länder auf der 'Balkanroute' handeln, weil die von der Kanzlerin seit Monaten beschworene europäische Lösung in weiter Ferne liegt." Ganz so einfach ist es nicht. Denn Ungarn zum Beispiel hat seine Grenzen geschlossen, ohne echte Not mit den Flüchtlingen gehabt zu haben - die allermeisten waren auf der Durchreise. Polen weigert sich überhaupt. Was Walter Roller als "handeln" bezeichnet, ist nationalstaatlicher Aktionismus. Wäre die Energie und das Geld in die europäische Lösung gelenkt worden, hätte Europa mehr erreichen können als den Status Quo, in dem "[n]ichts funktioniert - weder der Schutz der Außengrenze noch die Verteilung".
Walter Roller bemerkt, dass "[f]ast alle Staaten [...] die Deutschen im Stich" lassen. Die Ursache macht er im "mit hohem moralischen Anspruch eingeschlagene[n] Sonderweg offener Grenzen" aus. Deutschlands Weg ist wenigstens einer mit moralischem Anspruch. Was andere Länder abliefern ist nicht mit den Ansprüchen Europas an sich selbst in Einklang zu bringen. Deutschlands Weg ist ein Sonderweg, weil kein anderes Land ihn beschreiten mag. Schämen sollten sich die Verweigerer dafür.
Walter Roller fordert, jedes Mitglied Europas müsse seinen Beitrag leisten, "um den Neuankömmlingen Zuflucht zu bieten". Im übernächsten Satz schreibt er dann von "einem an den Grenzen gesetzte[n] Signal für die begrenzte Aufnahmefähigkeit Deutschlands". Das ist zwiespältig, verwirrend. Einerseits soll Deutschland an der Grenze Signale setzen, gleichzeitig sind die von anderen Ländern gesetzten Grenzsignale ein Zeichen mangelnder Solidarität.

Chaotischer Rückstau

In der selben Ausgabe schreibt Mariele Schulze-Berndt über die Folgen der Grenzmaßnahmen für Griechenland:


Österreich spürt bereits erste Folgen:
  • die Innenministerin wurde von der griechischen Regierung ausgeladen
  • die Zahl der Einreisenden hat sich deutlich verringert, ebenso die Anzahl neu gestellter Asylanträge
Wie weit es mit der Solidarität Europas her ist zeigt in Griechenland "die Befürchtung, die aus der Türkei anreisenden Flüchtlinge allein versorgen zu müssen". Die Flüchtlinge werden "vorerst auf drei großen Fähren untergebracht" - ein wahrlich optimaler Ort. Es gibt bereits erste Warnungen "vor einer humanitären Katastrophe, falls zehntausende Flüchtlinge dauerhaft in Griechenland oder an der türkischen Küste festsitzen sollten".
Die Grenzschließungen führen in der Schlepperbranche zu einem Aufblühen der finsteren Geschäfte. Neue Routen werden angeboten, über Albanien oder über die Adria nach Italien. Es wäre schön, Walter Roller würde in seinen Leitartikeln auch solche Reaktionen der an der gesamten Szenerie Beteiligten berücksichtigen, wenn er Signale an deutschen Grenzen fordert. Wenn er glaubt, mit solchen Forderungen die AfD eindämmen zu können, sollte er einen Blick auf die FPÖ werfen, die angekündigt haben, ein "Asyl-Volksbegehren" durchführen zu wollen. Es dürfte nicht überraschen, wenn dabei unsolidarische, uneuropäische Scheinlösungen obsiegen.

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