Freitag, 19. April 2024

Stephan Brandner irrlichtert über Politrassismus

 Der AfD-Politiker Stephan Brandner hat eine Website zu "Politrassismus" veröffentlicht:


Danach sei Rassismus "so etwas [...] wie 'gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit'". Dabei versteht er die AfD (er sagt "uns - auch in den Parlamenten") als eine Gruppe. Das Einende dieser Gruppe sei die Nähe zur AfD, ein Wehren "gegen Einheitsmedien und -meinungen", "Menschen, die bürgerlich, vernünftig und patriotisch sind!".

Stephan Brandner tut so, als sei eine politische Meinung gleichwertig zu einer ethnischen Zuordnung von Menschen durch Geburt. Er schreibt über eine Ausgrenzung, die ein "Individuum allen wegen ihrer politischen Orientierung" ausgrenzt und steigert sich bis in die Klage über körperliche Attacken.

Es gibt Gewalt gegen AfD. Auch andere Parteien sind betroffen:


In Erinnerung bleiben von der AfD vor allem die bis heute nicht geklärten (angeblichen?) Angriffe auf Weidel, Chrupalla, Jurca und andere, die in den (alternativen) Medien breit ausgerollt wurden, von Ermittlungsbehörden jedoch nicht geklärt werden konnten.

Brandner versucht hier, aus einer Vermischung von physischer Gewalt und inhaltlichem Widerspruch ein Amalgam zu rühren, um berechtigte Kritik an politischen Positionen der AfD zu delegitimieren. AfD-Positionen seien "vernünftig", wer sie kritisiert grenzt aus, weil die AfD ja eine Gruppe (Rasse) sei. So will er die Inhalte der AfD - die sich bei genauem Hinsehen grundsätzlich schlecht begründen lassen - immunisieren. 

Mit typischem #ArgumentierenWieAfD schließt er sein Konvolut und betont, die AfD und er selbst seien "strikt und eindeutig gegen jede Form von Ausgrenzung". Seine vorherigen Zuschreibungen "Gutmenschen", "Heuchelei", "linksfaschistoides Verhalten" etc. hat er nach dem ersten Absatzumbruch offensichtlich bereits vergessen.

Die Veröffentlichung ist nichts weiter als ein hanebüchener Versuch, sich selbst und die AfD insgesamt in einer Opferrolle darzustellen.

Sonntag, 6. Februar 2022

Vom Aus der Impfpflicht

Deutschland diskutiert die Impfpflicht, um der Corona-Pandemie Herr zu werden. Während die einen eine solche Pflicht für notwendig erachten, um die Pandemie zu überwinden, lehnen andere sie ab, weil sie einen Eingriff in die Freiheit bedeute. 

Im Folgenden sollen Gründe genannt werden, warum es keine Impfpflicht geben wird. Entweder, weil sie politisch nicht umsetzbar ist oder weil sie von Gerichten nachträglich als unzulässig angesehen wird. Die Gründe werden ohne den Freiheitsbegriff der Impfpflicht-Ablehner und ohne ein moralisches Argument der Befürworter auskommen. Insbesondere sind die Gründe keine, die sich Schwurbler auf die Fahnen heften sollten. Wer befürchtet, es würde in Deutschland Faschismus oder eine Diktatur eingeführt, vom Impfen würden Männer schwul und Frauen unfruchtbar, es gäbe einen Ausrottungsplan, der Impfstoff sei Gentherapie und experimentell etc., der hat sich ohnehin längst von einem argumentativen Diskurs verabschiedet.

Ungeachtet der Gründe, warum ich nicht mit einer Impfpflicht rechne, halte ich die Impfung selbst für sinnvoll.

Derzeit gibt es in Deutschland eine Impfpflicht für bestimmte Berufe. Damit sollen v.a. sog. vulnerable Gruppen geschützt werden, Menschen in Pflege- und Heilanstalten. Nun wird diskutiert, diese Impfplicht  auf weitere Gruppen bzw. alle auszudehnen. Manche fordern, sie müsse alle über 50 Jahre betreffen, manche möchten sie bereits ab 18 sehen. 

Was soll mit der Impfpflicht erreicht werden? In den Anfangszeiten der Pandemie hoffte man, jeder Einzelne könne sich schützen durch eine Impfung, weil sie eine Ansteckung verhindere. Als Impfstoffe verfügbar wurden zeigte sich, dass der Schutz nicht so zuverlässig vor Ansteckung schützt wie erhofft.  Mit dem Auftreten der Virusvariante Omikron ging dieser Infektionsschutz nochmals zurück. Nach derzeitigem Stand schützen die vorhandenen Impfstoffe eher vor schweren Krankheitsverläufen als vor einer Infektion selbst. Damit hat sich auch die Argumentation für eine Impfung verschoben. Nicht mehr der Infektionsschutz steht im Mittelpunkt, sondern der Schutz des Gesundheitssystems. Dies betrifft v.a. die Krankenhäuser, die davor bewahrt werden sollen, mit Corona-Infizierten belegt und überlastet zu werden und so für andere Erkrankte keine Kapazitäten mehr zu haben.


Impfpflicht als Ultima Ratio?

Alle Befürworter sind sich einig, eine Impfpflicht sei eine Ultima Ratio, ein letztes Mittel, um die Pandemie einzudämmen. Doch das Argument greift nicht:

  1. Beim Einsatz des letzten Mittels müssten vorher alle milderen Mittel erfolglos eingesetzt worden sein. Doch das ist keineswegs der Fall. Abgesehen von lokalen Maßnahmen zur Steigerung der Impfquote beließ es die Politik bei Appellen. Während in den USA beispielsweise Geldprämien bezahlt wurden für Impfungen, gab es in Deutschland vielleicht eine Bratwurst. Eine Impfprämie wurde diskutiert, jedoch nie eingeführt, ja nicht einmal ernsthaft ausprobiert.
    Zudem: Als Impfstoffe noch entwickelt bzw. anfänglich eingesetzt wurden, war von einer erforderlichen Impfquote von 80% die Rede. Derzeit sind in Deutschland ca. 75% geimpft. Das ist so nahe am Zielwert, dass eine Impfpflicht nicht angemessen ist.
  2. Eine Impfpflicht soll die Überlastung des Gesundheitswesens verhindern. Eine solche Überlastung lässt sich einerseits auf Patientenseite durch Verringerung der Einlieferungen vermeiden. Da soll die Impfpflicht ansetzen. Andererseits könnte die Überlastung vermieden werden durch Ausbau der Kapazitäten. Auch hier ist nicht zu erkennen, dass die Politik sich ernsthaft bemüht hätte. Außer wortreichen Bekenntnissen, dass der Pflegeberuf besser bezahlt werden müsse, ist nichts passiert.
Es ist also nicht zu sehen, dass die Politik bisher alles versucht hätte, um die Impfpflicht als letzte Waffe zu vermeiden. 

Weitere Gründe

Darüber hinaus gibt es weitere Argumente, warum eine Impfpflicht nicht kommen wird:

  • Das Auftreten der Omikron-Variante hat gezeigt, dass das Virus rasch mutiert und so bestehende Impfstoffe in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigen kann. Eine Impfpflicht lässt sich nicht schlüssig damit zu begründen, es sollen zukünftig Infizierte vermieden und das Gesundheitssystem geschützt werden, wenn nicht klar ist, welche Wirkung die verwendeten Impfseren auf die nächste Virusvariante haben werden. Tritt eine neue Variante auf, müssten die Impfstoffe angepasst werden, was - überspitzt - bis zum Auftreten einer weiteren Variante dauern würde, gegen die dann die Stoffe wieder nicht optimal schützen. D.h. es würde bei einer Impfpflicht ein Impfstoff eingesetzt, dessen Schutzwirkung bereits in naher Zukunft fraglich ist. Eine Impfpflicht stünde auf tönernen Füßen.
  • In den Anfangszeiten der Pandemie wurde das Ziel ausgegeben, eine Impfquote von 80% müsse erreicht werden. Mit der Omikron-Variante und ihrer deutlich höheren Infizierungsmöglichkeit ist die Zielgröße auf inzwischen 90% oder 95% gestiegen. Die nächste Variante könnte diese Zielwerte wieder vermindern, wenn sie weniger ansteckend ist, oder auch erhöhen. Jedenfalls kann kein belastbares operationales Ziel angegeben werden, das mit der Impfpflicht erreicht werden soll. Und ohne Ziel lässt sich die Impfpflicht nicht begründen.
  • Die Impfpflicht solle, so die aktuelle Argumentation, das Gesundheitssystem vor dem Kollaps bewahren. Doch das Virus mutiert, wodurch sich einerseits die Möglichkeiten einer Infektion sowie die Schwere der Erkrankung selbst ändern. Omikron ist wesentlich ansteckender als sein Vorgänger, hat dagegen wohl einen milderen Verlauf. Je milder der Verlauf, desto weniger Gefahren für das Gesundheitssystem. Niemand weiß, wie sich zukünftige Varianten entwickeln werden. Vielleicht noch mildere Verläufe? Oder schwerere? Und wie hilft hierbei die jeweilige Impfung? Wo wie z.B. bei Masern und seinem "stabilen" Virus eine Impfpflicht begründbar ist, ist sie es bei dem stark mutierenden Corona-Virus nicht.
  • In Deutschland gibt es kein Impfregister. Es ließe sich also nicht überprüfen, ob alle Verpflichteten tatsächlich geimpft sind. Die Pflicht müsste deshalb kontrolliert werden. Doch es könnten nicht alle überprüft werden. Dass Kontrolleure von Wohnung zu Wohnung ziehen, ist nicht zu erwarten. In Österreich gibt es eine Impfpflicht, die z.B. von der Polizei bei Verkehrskontrollen geprüft wird. Doch warum sollen nur Autofahrer geprüft werden? Oder Zugreisende? Oder Fahrgäste im Nahverkehr? Oder Menschen mit Arbeitsplatz durch Arbeitgeber? Es würden also v.a. bestimmte Personengruppen eine Impfpflicht zu spüren bekommen, weil sie einer "Kontrollgruppe" angehören. Andere, die keiner solchen Gruppe angehören, würden die Pflicht umgehen können. Damit wären nicht alle (egal, ab welchem Alter die Pflicht gelten solle) gleichmäßig verpflichtet und die Durchsetzung einer Impfpflicht systematisch ungerecht.
  • Einige Länder in Europa erlauben inzwischen Lockerungen oder verzichten fast vollständig auf Maßnahmen. Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen, die eine Ausstiegsperspektive fordern. Sogar Markus Söder, unter der Merkel-Regierung noch im "Team Vorsicht und Umsicht", hat nach dem Regierungswechsel in Berlin ebenfalls die Seite gewechselt und macht sich für Lockerungen stark.
    Manche fordern Lockerungen noch im Februar, andere für Ostern. Ihnen gemein ist, dass die Lockerungen in Kraft wären, wenn eine Impfpflicht eingeführt würde. Wenn die Politik einerseits für Lockerungen von Corona-Maßnahmen ist, kann sie nicht andererseits eine Impfpflicht fordern. Sie kann sich lediglich weiterhin für eine Impfung stark machen, sie aber nicht verpflichtend wollen, weil die Lockerungen ja gerade das Potential haben, mehr Infizierte zu produzieren und das Gesundheitssystem zu überlasten.
Mit ihrer zögerlichen Haltung hat sich die Politik zum Thema Impfpflicht selbst aus dem Spiel genommen. Wo sie im Frühjahr/Sommer 2021 noch gute Argumente gehabt hätte, hält sie heute nurmehr rieselnden Sand in der Hand. Die Impfpflicht ist deshalb eine Sandburg ohne Bestand.

Mittwoch, 22. April 2020

Coronatote vs. Hitzetote - Eine Streitschrift

Bundeskanzlerin Merkel hat ausgeführt, Deutschland dürfe sich nicht in Sicherheit wiegen. Das Coronavirus sei nicht besiegt.


Sie warnte schließlich vor "Öffnungsdiskussionsorgien". Dafür wurde sie scharf kritisiert. Ein Kommentar in der Tagesschau findet die Kritik von Merkel "anmaßend":

Das kann so gesehen werden. Sollte Merkel mit ihrer Äußerung gemeint haben, eine Diskussion über Lockerungen des Lockdown sei überhaupt unnötig, ist muss das als anmaßend gesehen werden.
Ein Kommentar in den Tagesthemen findet Merkels Kritik "unverschämt":


In einer Partei eine Diskussion abzuwürgen, mag im Sinne des Vereinswesens durchgehen. Ein gesellschaftliches Verbot einer Diskussion ist unverschämt. Auch wenn Krisen prädestiniert sind für die Exekutive, muss sie sich dennoch einer demokratischen Diskussion stellen. Diese zu unterbinden oder sogar zu verbieten, verdient schärfste Kritik. Zurecht.

Das sagt das Infektionsschutzgesetz

Zu Beginn der Coronakrise, die von großer Überraschung um das Ausmaß der Virusfolgen gekennzeichnet war, war das harte und schnelle Reagieren zu verstehen. Weder waren die Ansteckungswege noch die Konsequenzen für die Betroffenen klar, so dass in Anbetracht der Lebensgefahr für Erkrankte eine vehemente Maßnahme argumentierbar war.
In der Zwischenzeit hat die Wissenschaft über das Virus einiges gelernt. Es wurden Erfahrungen gesammelt im Umgang mit dem Virus und die Gesellschaft hat die Gefährdung ernst genommen. Doch es ist kaum erkennbar, wie diese Fortschritte bisher in Regierungshandeln ihren Niederschlag gefunden hätten. Weiterhin wird geredet, als ob jede Infektion zum Tode führen würde. Weiterhin wird gehandelt, als ob die gesamte Bevölkerung Träger des Virus und Ansteckungsverdächtig im Sinne §2 Nr. 7 IfSG wäre. Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil zu Masern festgestellt:
"Beim Krankheitsverdächtigen sind die objektiven Anhaltspunkte angesichts einschlägiger Krankheitssymptome dichter als beim Ansteckungsverdächtigen, bei dem sich die Verdachtslage allein aus dem (möglichen) Kontakt mit infizierten Personen oder Gegenständen ergibt. Beim Kranken (§ 2 Nr. 4 IfSG) und beim Ausscheider (§ 2 Nr. 6 IfSG) besteht demgegenüber Gewissheit über die Aufnahme von Krankheitserregern und damit über das Vorliegen der Gefahr, dass der Erreger auf andere Menschen weiter übertragen werden kann. Das Oberverwaltungsgericht spricht daher zutreffend von einem Stufenverhältnis innerhalb der Legaldefinitionen in § 2 Nr. 4 ff. IfSG. Hierbei stellt der Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG die geringsten Anforderungen an den Gefahrensachverhalt."
Das Gericht unterscheidet also zwischen verschiedenen Graden, verschiedenen Stufen der Gefährlichkeit von Personen für Ansteckung anderer. Um als Ansteckungsverdächtiger zu gelten, reichen bereits geringere Anforderungen als z.B. bei Krankheitsverdächtigen - hier müssen beispielsweise Symptome erkennbar sein, die ein Ansteckungsverdächtiger noch nicht zu zeigen braucht (v.a. Inkubationszeit).
Weiter führt das Urteil aus:
"Die Aufnahme von Krankheitserregern ist im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG 'anzunehmen', wenn der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte (Bales/Baumann, a.a.O. § 2 Rn. 13; Schumacher/Meyn, Bundes-Seuchengesetz, 2. Aufl., 1982, § 2 S. 10). Die Vermutung, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss naheliegen. Eine bloß entfernte Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Demzufolge ist die Feststellung eines Ansteckungsverdachts nicht schon gerechtfertigt, wenn die Aufnahme von Krankheitserregern nicht auszuschließen ist (anders die abweichende Formulierung in § 1 Abs. 2 Nr. 7 des Tierseuchengesetzes - TierSG - zur Legaldefinition des ansteckungsverdächtigen Tieres). Andererseits ist auch nicht zu verlangen, dass sich die Annahme 'geradezu aufdrängt'. Erforderlich und ausreichend ist, dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil."
Um als Ansteckungsverdächtiger zu gelten, reicht nicht die Behauptung, wegen einer langen Inkubationszeit und unklaren Kontakten könne nicht ausgeschlossen werden, die Person sei noch nicht angesteckt. Es muss zumindest die Annahme, jemand habe sich bereits angesteckt, wahrscheinlicher sein als das Gegenteil. In der derzeitigen Situation mit dem Conoravirus und dem derzeitigen Handeln der Regierung findet eine solche Abwägung nicht mehr statt. Die weitreichende Kontaktsperre, das Schließen von Geschäften, das Verbot von Besuchen in Heimen und Krankenhäusern stellt einen Generalverdacht dar, dass jeder jeden anstecken könnte.

Kritik an der Regierung

Vor dem Hintergrund, dass die Regierung alle Bewohner des Landes unter einen Generalverdacht stellt, dass sie Maßnahmen setzt und berechtigte Fragen, ob die Maßnahmen so wie getroffen notwendig sind, als "Öffnungsdiskussionsorgien" bezeichnet, muss ihr klar "STOP" entgegen gehalten werden. Es kann nicht angehen, dass sich die Regierung dem Dialog oder der Diskussion verschließt, wie es weitergehen soll.
Zu aller erst ist die Zeitspanne zu berücksichtigen, um die es sich handeln wird. Das RKI stellt zu Recht fest, das Virus sei nicht weg, selbst wenn sich die Infektions- und Sterbezahlen positiv entwickeln:


Bei der Frage, wie lange Maßnahmen also notwendig sein werden, handelt es sich um einen Zeitraum, der mindestens in Monaten zu messen ist. Selbst wenn ein Impfstoff morgen gefunden würde, wäre er auf Grund des Zulassungsverfahrens erst Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres verfügbar. Noch gibt es keinen Impfstoff, der in ein Zulassungsverfahren gehen könnte.
Selbst wenn sich die Regierung einer Diskussion über eine Lockerung verschließt, muss von ihr erwartet werden zu klären, wie sie einen Zeitraum von etwa einem Jahr gestalten will. Bisher kommt sie kaum über wenige Tage hinaus. Sie droht lediglich, Lockerungen müssen zurückgenommen werden, wenn sich die Viruslage verschlechtern würde. Gut. Aber sie ist nicht in der Lage oder nicht willens, ein Bild zu zeichnen, wie sie bei Fortschreibung der aktuellen Viruslage die nächsten zwölf Monate gestalten will. Statt dessen feiert sie sich und Merkel und Söder als Helden. Nein, es sind keine Helden. Sie sind Verwalter der Krise, aber keine Gestalter.
Zum anderen ist es so, dass die Lebensgefahr für Erkrankte eben nicht gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt ist. Das RKI berichtet, ein Drittel der Toten durch oder mit Corona seien in Heimen gestorben:


Wenn es also Hinweise gibt, dass die Gefahr vom Virus für verschiedene - vielleicht derzeit noch nicht gut greifbare - Personengruppen unterschiedlich ist, muss von der Regierung eine gute Erklärung verlangt werden können, warum sie die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht des Ansteckens stellt.
Die Forderung muss viel stärker sein. Es geht nicht nur um eine Erklärung, warum die in dieser Breite Maßnahmen notwendig sind. Es geht vielmehr darum zu erklären, warum sie jeden weiteren Tag in gleichem Maße notwendig sind. Die Wissenschaft lernt jeden Tag das Virus besser kennen. Die Gesellschaft lernt jeden Tag den Umgang mit den Maßnahmen und wie zielführend die Maßnahmen sind. Nur die Regierung lernt nicht, wie diese Änderungen in politische Aktivitäten übersetzt werden können. Sie führt die selben Erklärungen an wie zu Beginn der Krise. Sie lobt die Bevölkerung inzwischen bis zum Erbrechen für die Disziplin. Doch eines tut sie nicht: sie erklärt nicht, warum die Maßnahmen so bleiben müssen, wie sie sind. Mit dem Lob der Bevölkerung will sie ablenken von ihrem Nichterklären. Mit jedem Tag, wo die Nebenwirkungen der Maßnahmen mehr sichtbar werden, mit jedem Tag, wo die Menschheit mehr über das Virus lernt, muss die Erklärung und Rechtfertigung der Regierung für ihr Handeln stärker, besser argumentiert werden.
Das leistet die Regierung nicht. Sie leistet sich dafür einen Flickenteppich der Maßnahmen. In einem Bundesland dürfen große Läden Teilbereiche abgrenzen, um innerhalb der 800-qm-Beschränkung zu öffnen, in anderen Bundesländern nicht. Gesichtsmasken sollen helfen, andere nicht anzustecken. Aber offenbar ist dies nur in manchen Bundesländern relevant. Dass alle Masken tragen müssen, ohne dass im Gegenzug Tests ausgeweitet werden, um zu ermitteln, wer die Masken überhaupt tragen sollte, setzt dem Flickenteppich nur eine weitere Ebene hinzu. Diesen Flickenteppich mit föderalen Zuständigkeiten zu "erklären", ist eine glatte Themenverfehlung. Sechs, setzen.
Derzeit ist das Argument der Regierung der Schutz von Gesundheit und Leben. Ein valides Argument. Zumindest wenn es um Spaßbäder, Fußballspiele oder das Oktoberfest geht. Es bleibt abzuwarten, wie viele Menschen im Sommer den Hitzetod sterben müssen, weil sie nicht in Schwimmbäder und an Seen dürfen, um sich abzukühlen, bevor die Regierung bessere Argumente für die Maßnahmen und deren Fortdauer liefert. Die Punsch- und Glühweinkocher braucht 2020 jedenfalls kein Wirt auszupacken. Auch hier können wir warten, bis der Beschluss gefällt wurde. Auch hier liefert die Regierung keine Perspektive. Dabei ist Perspektive - kein konkreter Stufenplan auf einem Lösungsweg! - mit das Wichtigste, was in einer Krise notwendig ist.

Freitag, 17. April 2020

Lockdown bis zum Sanktnimmerleinstag

Die Bundesregierung hat am 15.04.2020 Schritte beschlossen, um aus dem bis dahin geltenden Lockdown in langsamen Schritten auszusteigen. Obwohl es Beschlüsse auf Bundesebene gibt, können die Bundesländer von diesen Beschlüssen abweichen, um auf die jeweilige Situation besser eingehen zu können. Die Lockerungen umfassen, wie die AZ berichtet, beispielsweise Geschäfte bis 800 Quadratmetern oder Buchhändler, Fahrrad- und Autogeschäfte (unabhängig von der Größe), die demnächst wieder öffnen dürfen. Dazu hat Stefan Stahl einen Kommentar am 16.04. verfasst:


Stefan Stahl schreibt:
"Doch Deutschland steht vor einem langen Marsch zurück zur Normalität, ob im Handel oder an den Schulen."
Damit ist zu rechnen, auch wenn derzeit die Politik sich um klare Aussagen drückt. Sie gibt einen Ausblick immer nur für die nächsten Tage, vielleicht wenige Wochen. Was fehlt, ist eine klare Perspektive, die der Sehnsucht nach Normalität ein Gegengewicht geben könnte. Stefan Stahl schreibt:
"Die Sehnsucht nach einer raschen Rückkehr zur Normalität wirkt groß. Doch Sehnsucht ist in Corona-Zeiten kein guter Ratgeber. Seiner Sehnsucht nachzugeben, kann tödlich enden. Zur Sehnsucht müssen sich Geduld, Leidensfähigkeit und Umsicht gesellen."
Geduld und Umsicht, ja. Dabei wird als Gegenszenario immer ein überhasteter, übereilter, mithin unvernünftiger Ausstieg dargestellt, wie der Teaser eines Artikels vom 13.04. im Spiegel zeigt:
"Die Bundesregierung will in der kommenden Woche über mögliche Szenarien für den Exit aus dem Lockdown beraten. Schon jetzt warnen Politiker vor einem überhasteten Aussetzen der Maßnahmen."
Als ob es nur diese beiden Pole gäbe: lebensrettend geduldige Lockerungen vs. übereiltem, tödlichem Ausstieg.
Derzeit haben sich die Vorsichtigen durchgesetzt und lediglich kleine Maßnahmen wurden beschlossen. Es ist ja vernünftig, Festivals, Sportveranstaltungen und alle anderen Veranstaltungen zu untersagen, bei denen viele Menschen sich sehr nahe kommen werden. Allerdings bleibt unklar, warum manche Maßnahmen so wie beschlossen beschlossen wurden. Ein paar Beispiele:
  • Geschäfte bis 800 Quadratmetern dürfen öffnen. Die Grenze von 800 qm ist willkürlich. Es gibt kein valides Argument, das die Schließung eines Geschäfts mit 810 qm erklären könnte.
  • Bestimmte Geschäfte dürfen unabhängig von der Größe öffnen, wie Buch- oder Autohändler. Warum die Gefahr in einem 1.000 qm Buchladen eine andere sein sollte als in einem 1.000 qm Elektromarkt, ist nicht einsehbar.
  • Die besonderes strengen Maßnahmen in Bayern begründet Markus Söder mit der Nähe zu Italien. Österreich ist näher an Italien und hat die Geschäfte unter bestimmten Auflagen bereits geöffnet. 
  • In Österreich ist die Flächengrenze für Geschäftsöffnungen 400 qm, in Tschechien 200 qm und in Deutschland 800 qm.
  • In Österreich müssen die Autohändler geschlossen bleiben, in Deutschland dürfen sie öffnen.
  • In Dänemark öffnen die Schulen wieder, in Deutschland bleiben sie geschlossen bzw. es werden nur die Abschlussklassen wieder aktiviert.
Dies zeigt, dass es keine "Killerargumente" für oder gegen einzelne Maßnahmen gibt. Selbst am wissenschaftlichen Fundament entstehen Zweifel, denn was unterscheidet Geschäfte in Deutschland, Osterreich und Tschechien so sehr voneinander, dass Flächenbegrenzungen um den Faktor vier variieren. Dass Autohändler in Deutschland öffnen dürfen, hat eher mit der hiesigen Autoindustrie zu tun und nichts mit dem Virus und seiner Ansteckungs- und Erkrankungsgefahr.
Die Maßnahmen sind politische Maßnahmen. Je unterschiedlicher die Maßnahmen in Regionen und Ländern ausfallen, desto schwächer wird das Argument der Politik, die Maßnahmen müssten so und könnten nicht anders sein. Wenn dann willkürliche Grenzen gezogen werden wie die Größengrenzen, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich Gerichte damit beschäftigen werden. Es wird sehr zweifelhaft sein, dass der Gleichheitsgrundsatz gewahrt wird, wenn ein Damenbekleidungsgeschäft mit 790 qm öffnen darf, das daneben liegende Herrengeschäft mit 810 qm jedoch geschlossen bleiben muss.
Gregor Peter Schmitz hat in der AZ vom 17.04. einen Kommentar veröffentlicht:



Gregor Peter Schmitz schreibt:
"Dennoch gibt es natürlich immer die Wahl, kleinere oder größere Schritte zu machen. Daher muss niemanden befremden, dass es unter den Bundesländern - und ihren Politikern - unterschiedliche Ansichten zum Tempo beim Ausstieg aus dem Stillstand gibt. Immerhin bewegen sich in dieser Krise alle im Neuland, sogar die Wissenschaft."
Das ist richtig. Weiter schreibt er:
"Aber Leben mit der Pandemie wird nicht nur aus Verordnen bestehen, auch aus Vermitteln: zwischen vielen Sorgen und Interessen."
Auch das ist richtig. Doch mit dem Vermitteln hapert es. So gibt die Politik keine wirkliche Perspektive. Wenn die Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung notwendig sind, bis Herdenimmunität erreicht oder ein Impfstoff verfügbar ist, geht es nicht um Wochen, sondern um Monate, vielleicht Jahre. Derzeit gehen Optimisten davon aus, dass ein Impfstoff im nächsten Jahr verfügbar sein könnte. Das wäre wahrscheinlich früher als die Herdenimmunität, die durch gebremste Ausbreitung des Virus erreicht werden kann. Die Politik sagt nicht, ob und wann große Kaufhäuser öffnen dürfen. Sie sagt nicht, wann Restaurants öffnen dürfen. Sie sagt nicht, wie der Sommerurlaub (veilleicht nur in Deutschland) möglich sein soll, wenn Hotels geschlossen bleiben. Es bleibt abzuwarten, wie im Sommer die Stimmung im Lande ist, wenn Badeseen gesperrt bleiben.
Das Bild, das die Politik derzeit vermittelt, ist das einer vorsichtigen und perspektivlosen Politik. Auch wenn Stefan Stahl schreibt, für die Vorsicht müssten wir uns mit Nachsicht bedanken, mag das heute und morgen zutreffen. Doch wenn die Politik zaudernd die Geduld über Gebühr strapaziert, wird die Nachsicht ein Ende finden. Denn weder eine fehlende Perspektive noch die teilweise schwach begründbaren Maßnahmen sind geeignet, die Nachsicht geduldig am Leben zu halten.

Samstag, 4. April 2020

Rechtsstaatspartei? Die Selbstentlarvung der AfD

Die AfD stellt sich selbst in vielerlei Hinsicht als besonders dar. Sie sei patriotisch. Sie sei konservativ. Sie sei Rechtsstaatspartei, wie Jörg Meuthen in einem Tweet darstellte:


Es gibt viele weitere Selbstdarstellungen, die die AfD als die Vertreterin der Rechtsstaatlichkeit behaupten. Ein Artikel der AfD Kompakt, dem Mitgliedermagazin der AfD, titelt am 16.01.2019:
„Wir sind eine Rechtsstaatspartei und stehen uneingeschränkt hinter der FDGO.“
Die Selbstdarstellung geht so weit, dass die AfD sogar eine eigene Seite eingerichtet hat mit dem Titel "Wir sind Grundgesetz". Allerdings widmet sie sich dort nicht dem Grundgesetz als solchem, sondern dem angeblichen Missbrauch, entstanden durch den Bericht des Verfassungsschutzes zur AfD und deren Beobachtung.
Wer sich so der Rechtsstaatlichkeit verschreibt, muss sich auch in ihr messen lassen. Das erfordert natürlich ein Verständnis für die Vorgänge im rechtsstaatlichen Kontext. Das jüngste Beispiel ist das Urteil des EuGH, in dem Polen, Tschechien und Ungarn ein Bruch des EU-Rechts bescheinigt wurde, weil sie nicht die getroffenen EU-Beschlüsse zu Verteilung von Flüchtlingen umgesetzt haben, wie beispielsweise die FAZ berichtet hat. Die Begründung einer Gefahr sei nicht ausreichend erfolgt, wie der EuGH schreibt:
"Er hat jedoch klargestellt, dass sich diese Behörden, um sich auf die vorgenannten Gründe berufen zu können, am Schluss einer Einzelfallprüfung auf übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien stützen müssen, die den Verdacht stützen, dass der betreffende Antragsteller eine solche gegenwärtige oder potenzielle Gefahr darstellt."
Die Rechtmäßigkeit der Weigerung der drei Staaten, den Beschluss umzusetzen, ist also an der nicht ausreichenden Begründung des vorgebrachten Arguments gescheitert.

Wie reagiert die Rechtsstaatspartei?

Eine Reaktion von Beatrix von Storch, der stellvertretenden Bundessprecherin der AfD, ist auf der Website der AfD veröffentlicht. Darin heißt es:
„Tschechien, Ungarn und Polen haben sich geweigert, den Beschluss der EU umzusetzen und für die gescheiterte EU-Asylpolitik in ihren Ländern die Folgen zu tragen.
Das EuGH-Urteil greift in unerträglicher Weise in die Souveränitätsrechte dieser Länder ein und macht die AfD-Forderung nach Reform der EU an Haupt und Gliedern noch dringlicher.
Solch unangemessene Eingriffe in die nationale Souveränität der EU-Mitgliedsstaaten lehnen wir vehement ab. Das Asylrecht gehört in die Hand der Nationalstaaten und nicht nach Brüssel.“
Mitglieder der EU, die die entsprechenden Verträge unterzeichnet haben, um überhaupt Mitglied sein zu können, würden nun ungerecht behandelt, weil ihre "Souveränitätsrechte" beschädigt seien. Es handele sich um "unangemessene Eingriffe in die nationale Souveränität". Es offenbart sich an der Parteispitze ein grundlegendes Unverständnis für die Bindungswirkung von Verträgen. "Pacta sunt servanda" (lat.; dt. Verträge sind einzuhalten) ist Stoff für jede Grundlagenveranstaltung, die rechtlichen Inhalt behandelt, ob an der Schule oder der Universität.
Beatrix von Storch wird auch von der Fraktion der AfD im Bundestag zitiert:


Hierbei wird überhaupt verzichtet, auf das Urteil inhaltlich einzugehen, es wird die bekannte Linie gefahren, Asylrecht sei in nationalen Händen besser aufgehoben als auf Ebene der EU.
Malte Kaufmann greift zu gröberen Worten, als er in seinem Tweet das Urteil als "Irrsinns-Urteil" bezeichnet:


Gottfried Curio, Sprecher der Fraktion im Bundestag, erklärt über die Website der AfD im Bundestag:
"Die Weigerung Ungarns, Polens und Tschechiens, Migranten per Umverteilungsschlüssel aus Griechenland und Italien zu übernehmen, war gedeckt von den klar umrissenen Dublin-Regeln, wonach das Erstzutrittsland in die EU bei einem Asylverfahren zuständig ist. Die Ablehnung der Umverteilung geschah zudem im Interesse und mit dem Willen der jeweiligen Bevölkerung."
Und weiter führt er aus, die "rechtliche Bevormundung von Staaten durch eine EU" sei abzulehnen. Ferner nehme die Demokratie "Schaden, wenn nicht mehr der Willen des Volkes, sondern der ideologische Standpunkt von Institutionen zum Maßstab des Handelns genommen" werde.

Conclusio

Nun sei es der AfD und allen anderen Personen oder Institutionen unbenommen, Vorkommnisse wie solche Urteile des EuGH politisch zu bewerten. Allerdings handelt es sich bei den Äußerungen der AfD um Bewertungen, die gar nicht auf den Gehalt des Urteils eingehen, sondern lediglich die daraus entstehenden Folgen und Eindrücke diskutieren. Die AfD offenbart damit unwillentlich und vielleicht aus unwissentlich, wie wenig sie von Rechtsstaatlichkeit versteht. Sie ist bestenfalls im Kindergarten der Rechtsstaatlichkeit angekommen.

Montag, 30. März 2020

Corona als Vorwand?

Stefan Lange hat in der Augsburger Allgemeinen vom 30.03.2020 einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er sich mit der absoluten Dominanz des Themas Corona über alle anderen Themen beschäftigt:


Mit
"Vieles steht gerade still, weil das Coronavirus es so will."
findet Stefan Lange einen guten Einstieg in das Thema seines Leitartikels und er führt weiter aus:
"Theater- oder Konzertbesuche gehören wie einige andere Freizeitvergnügungen zu den Dingen, auf die sich in der Corona-Krise verzichten lässt. Regierungsarbeit gehört sicherlich nicht dazu."
Er gibt zu bedenken:
"Je länger das dauert, desto gefährlicher wird es für unsere Demokratie."
Nicht nur die Demokratie wird leiden. Die Wirtschaft stellt die Frage, wie lange der Zustand aushaltbar sein wird, bereits offen. Die Bürger machen großteils mit, noch schweißt der gemeinsame Feind, das Virus, zusammen. Auch hier: Wie lange noch ist es erbauend, nicht selbst einkaufen zu können und sich von Nachbarn helfen zu lassen? Wie lange noch ist es hilfreich, Bücher zu lesen, für die man bisher nie Zeit fand - eine Frage der Prioritäten? Letzteres erinnert an das Mantra der Pendler, die sich die Stunden in vollen Zügen schönreden, die sie nicht mit der Familie verbringen.
Klar ist: Das Virus ist ansteckend, Infizierte können eher sterben als sie es ohne Infektion würden. Dennoch ist die Frage von Stefan Lange berechtigt:
"Auch der Bundestag droht wegen Corona ins Hintertreffen zu geraten. Aus Sicherheitsgründen gab es in der letzten Woche aber nur eine einzige Plenarsitzung, bei der neben dem Bundeswehreinsatz im Irak ausschließlich Corona-Themen beraten wurden. Einen zweiten oder dritten Sitzungstag gab es schon nicht mehr. Wobei sich die Frage stellt, warum die Abgeordneten in ihren geschützten Räumen weniger ins Risiko gehen wollen als die, die sie zuvor noch mit stehenden Ovationen bedachten: Polizisten, Verkäufer, Krankenpfleger."
Diese Frage lässt sich auf andere Gebiete ausweiten:
  • Warum droht, Ostergottesdienste vor leeren Kirchen abzuhalten, wo die Gotteshäuser in der Regel so groß sind, dass mit freien Reihen und Sitzen die Abstandsregeln eingehalten werden können?
  • Warum müssen beispielsweise Bekleidungs- und Elektrogeschäfte schließen, die meist so groß sind, dass sich ein paar Duzend Kunden problemlos aus dem Weg gehen können?
  • Warum darf man nicht alleine auf einer Wiese oder Parkbank sitzen?
  • Warum darf man mit Kollegen an einem gemeinsamen Werkstück arbeiten, beim Mittagessen aber nicht am selben Tisch sitzen?
  • Warum dürfen sich nicht einmal Genesene als Gruppe treffen?
Einen Hinweis auf den Hintergrund liefert die Begründung, warum Motorradfahren zum Vergnügen nicht mehr gestattet sei - mit dem Zweirad zum Einkaufen ist hingegen erlaubt: Die Intensivbetten in Krankenhäusern sollen für Corona-Patienten vorgehalten und nicht von verunfallten Motorradfahrern belegt werden. Und bei Corona ginge es ja schließlich um Menschenleben.
Dabei werden verschiedene Aspekte übersehen:
  • Bei Corona geht es um das Risiko für Menschenleben, nicht um Menschenleben selbst. Wer mit "Menschenleben" argumentiert, tut so, als würde jede Infektion direkt in den Tod führen. Auch wenn die Wissenschaft sich noch nicht einig ist, wie hoch die Sterblichkeit wirklich ist, sicher ist: Die wenigsten Infizierten werden sterben. Selbst in Italien, wo derzeit viele sterben, liegt es nach allem, was derzeit bekannt ist, nicht an der Infektion allein, sondern an Mängeln im dortigen Gesundheits- und Krankenhaussystem. Doch selbst wenn dies in der Risikobewertung berücksichtigt wird: Es werden nicht die meisten sterben.
  • Motorradfahrer steigen auf das Motorrad in der Annahme, dass nichts passieren wird. Wer Angst vor oder beim Motorradfahren hat, tut es nicht. Wenn nun wegen Corona unterstellt wird, jede Fahrt würde im Krankenhaus enden, geht das an der Realität völlig vorbei.
Doch verhält sich die Politik genau so, als ob die jeweils schlimmsten Annahmen real wären, das maximal denkbare Risiko das tatsächliche. Dieser Zugang ist falsch. Es ist richtig, solange die Wissenschaft das Virus nicht kennt, größt mögliche Vorsicht walten zu lassen. Es ist richtig, mit harten Maßnahmen Zeit zu erkaufen, um das Virus besser kennen zu lernen. Wie lange die harten Maßnahmen gerechtfertigt sind, muss hingegen gefragt werden.
In einem Interview mit Sigmar Gabriel in der Augsburger Allgemeinen vom 31.03.2020 sagt dieser zu Recht:
"Wer so tut, als ob es ernsthafte Alternativen zur Beschränkung der sozialen Kontakte geben könnte, der muss doch nur die weltweiten Erfahrungen betrachten: Dort, wo früh und massenhaft getestet wurde, schnell die Kreisläufe unterbrochen wurden und jedem Einzelfall nachgegangen wurde, ist man gerade dabei, wieder aus dem Krisenmodus herauszukommen."
Reduktion der Kontakte und damit ein Abschneiden von Verbreitungswegen sind zweifelsohne die Mittel der Wahl. Weiter sagt Sigmar Gabriel:
"Aber er (Chef der Arbeitsorganisation OECD, Anm.) will doch damit nicht ausdrücken, dass man jetzt naiv und schnell alle getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung des Virus zurücknehmen sollte."
Hoffentlich nicht. Natürlich ist ein Zurücknehmen "aller getroffenen Maßnahmen" nicht geboten. Allerdings ist geboten zu fragen, ob die aktuell gefahrenen breitbandigen Maßnahmen angemessen sind oder nicht durch präzisere Maßnahmen ersetzt werden sollten.
In Südkorea konnten 80% aller koreanischen Fälle auf eine Frau zurückgeführt werden, die fast täglich große Gottesdienste besucht hatte. Im Elsass, einem französischen Corona Hotspot, gilt ein Treffen einer Freikirche als Ausgangspunkt der regionalen Epidemie. Auch in Deutschland sind die Situationen in Gegenden mit hohen Infektionszahlen auf größere Feste wie Karneval (Heinsberg) oder Starkbierfest (Mitterteich/Tirschenreuth) zurück zu führen. Die Augsburger Allgemeine berichtet am 31.03.2020 dazu.
Es ist deshalb falsch, den generellen Lock Down Zustand über lange Zeit aufrecht zu erhalten. Über welche Zeiträume dabei gesprochen wird zeigen die Überlegungen in Österreich, die Schulen erst im September wieder aufzusperren. Es ist angesichts eines Risikos zur Ansteckung und in der Folge eines Risikos, tatsächlich zu erkranken und in der Folge eines Risikos, schwer zu erkranken, nicht darstellbar, dass der Lock Down über Monate aufrecht gehalten wird.
Es wird sinnvoll sein, das Land nicht sofort auf völligen Normalbetrieb zu schalten. Hier könnten Zugangsbeschränkungen zu bestimmten Orten ein Mittel sein, um bestimmte Abstände zwischen Menschen aufrecht erhalten zu können. Es könnten Gesichtsmasken notwendig sein für alle, die sich in die Öffentlichkeit begeben, um andere nicht anzustecken. Es könnte sinnvoll sein, besonders gefährdete Personengruppen besonders zu schützen - ob Besuchsverbote in Altenheimen über Monate dazu zählen, darf bezweifelt werden. Bis dieser Zeitraum verstrichen ist, sind viele einsam, aber halt nicht mit Corona gestorben.
Derzeit ist es so, wie Stefan Lange schreibt: Corona ist für die Politik ein Vorwand. Sie muss sich nicht mit Risiken adäquat auseinandersetzen: Risiken für Gesunde und Erkrankte, für Arbeitnehmer, für Unternehmer, für die Kulturbetriebe, für uns alle. Sie handelt, als sei der Worst Case der wahrscheinliche Fall. Corona ist der Vorwand, nicht mit präzisen Maßnahmen, die schwieriger umzusetzen und aufwändiger zu kontrollieren sind, auf die vorhandene Gefahr zu antworten. Corona Lock Down ist die Atomwaffe, die wirkt. Ihre starken Nebenwirkungen auch.

Montag, 30. Dezember 2019

Griechische Kinderlager

Christian Grimm hat in der Augsburger Allgemeinen vom 20.12. einen Leitartikel veröffentlicht zu der Diskussion, ob 4.000 im griechischen Flüchtlingslager Moria unter unmenschlichen Umständen befindliche Kinder nach Deutschland geholt werden sollen, wie der Grüne Habeck vorschlug, oder nicht, wie Innenminister Seehofer sagt:


Christian Grimm schreibt, Europa habe "nichts gelernt aus der Flüchtlingskrise des Jahres 2015". Es sei ein Keil zwischen europäische Staaten und "in die Gesellschaften dieser Staaten getrieben" worden. Nun drohe eine Weiderholung des Dramas, weil auf griechischen Inseln wieder mehr Menschen ankommen. Die Zunahme der Ankünfte steigt, obwohl das Abkommen mit der Türkei weiter gilt, nach dem Ablandungen zu verhindern sind und die Türkei im Gegenzug Geldzahlungen in Milliardenhöhe erhält.
In Anbetracht der unmenschlichen Zustände im Lager, die sich durch den Winter verschlimmern werden, hatte Grünen-Chef Habeck gefordert, die etwa 4.000 Kinder sollten nach Deutschland geholt werden. Christian Grimm schreibt:
"Doch Innenminister Horst Seehofer lehnt das ab. Der CSU-Politiker hat die Bundesregierung hinter sich und er hat recht mit seiner Position. Es braucht eine Einigung zwischen den Staaten Europas darüber, wie sie mit Flüchtlingen umgehen wollen."
Nun, eine Einigung ist seit der Eskalation der Lage im Jahr 2015 nicht erzielt worden. Seit damals ist klar, dass der Dublin-Modus nicht funktionieren kann, nach dem die Erstankunftsländer für die Asylverfahren zuständig sind. Wenn sich alle Ankünfte auf wenige Länder konzentrieren, ist dies weder im Sinne der europäischen Gemeinschaft noch von diesen Ländern administrativ zu bewerkstelligen.
Einen Alleingang Deutschlands schließt Christian Grimm aus:
"Ein Alleingang Deutschlands darf sich aus zwei Gründen nicht wiederholen. Er würde einerseits den fragil gewordenen Zusammenhalt der Gesellschaft noch weiter schwächen, das Klima noch rauer machen. Das Land braucht Zeit, um die Hunderttausenden Neuankömmlinge zu integrieren. Andererseits würde eine einsame Geste der Bundesregierung eine europäische Lösung noch weiter erschweren. So ist es vor vier Jahren geschehen, als Kanzlerin Angela Merkel die Grenzen offen ließ."
Ja, Neuankömmlinge sind zu integrieren, sofern sie eine Bleibeperspektive haben. Einen Modus dafür zu entwickeln, hatte Deutschland vier Jahre Zeit. Wurden solche Anstrengungen unternommen und würde eine weitere Aufnahme den gesellschaftlichen Zusammenhalt so schwächen, dass im Gegenzug gerechtfertigt ist, Kinder in elenden Zuständen zu belassen? Zweifel bleiben.
Ein Alleingang würde eine europäische Lösung erschweren, kann als Argument nicht ernst genommen werden, weil einige Staaten Europas gar keine Lösung anstreben, sondern sich ihr schlicht verweigern. Die Visegrád-Staaten wie Orbans Ungarn und Polen fallen hier besonders auf. Es sind die Staaten, die in Europa auch wegen Verstößen gegen europäische Rechtsgrundsätze auffallen. Mit der Zurückhaltung bei der Aufnahme der Kinder haben sich die Verweigerer durchgesetzt, durch sture Passivität, durch das Abmelden vom europäischen Gemeinsinn. Das kann es nicht sein.
Christian Grimm schreibt jedoch:
"Trotz dieser politischen Blockade darf Europa nicht einfach wegsehen vom Elend auf den Inseln in der Ägäis. In einer gemeinsamen Kraftanstrengung müssen die Lager winterfest gemacht werden."
Das ändert nichts daran, dass die Lager völlig überbelegt sind, Moria auf Lesbos beispielsweise fünffach. Es mangelt an Infrastruktur, an Gesundheitsversorgung, an Personal. Wie da innerhalb von Tagen eine gemeinsame Kraftanstrengung möglich sein soll, ist unklar.
Christian Grimm schreibt:
"Eine europäische Lösung wird es nur geben, wenn auf den griechischen Inseln direkt über einen Asylantrag entschieden wird. Dafür sollten Flüchtlingszentren mit europäischer Unterstützung aufgebaut werden."
Es scheint, als ob die Lagerinsassen das Faustpfand abgeben sollen für eine europäische Einigung. Je schlechter die Zustände, desto eindrücklicher das Faustpfand. Doch das Faustpfand wird nicht wirken. Weder wird es andere Migrationswillige abhalten, nach Europa zu wollen. Noch wird es europäische Staaten beflügeln, eine Einigung zu erzielen. Und die Rechten lachen sich ins Fäustchen, weil ihr gezeichnetes Angstbild wirkt und sie selbst nicht einmal in Regierungsverantwortung sein müssen, um ihre "Politik" umzusetzen.
Christian Grimm titelt, Europa müsse aus den Fehlern im Umgang mit Flüchtlingen lernen. Nach vier Jahren wurde nichts gelernt. Es wurden Ideen lanciert, wie Lager jenseits des Mittelmeeres, die jedoch nie Realität wurden. Panzer rollten am Brenner auf. Die Balkanroute wurde geschlossen. Und heute führen wir wieder die selben Diskussionen? Es wurde nichts gelernt im Umgang mit Flüchtlingen und es besteht wenig Anlass zur Hoffnung, dass dies in den nächsten Jahren anders werden könnte. Die Menschen in den winterlichen Lagern werden im Eis die Strafe erfahren, die gemäß Dante Alighieri im neunten Höllenkreis den Verrätern zuordnet. Verraten haben diese Menschen nichts, die Verräter europäischer Werte und des europäischen Gemeinsinns sitzen weiterhin im Warmen.