Mittwoch, 4. Juli 2018

Seehofers Rechtssicht

Rudi Wais hat in der Augsburger Allgemeinen hat vom 4.7. die Einigung der CSU und der CDU im Migrationsstreit kommentiert:


Rudi Wais schreibt:
"Man kann das eine kleine europäische Lösung nennen oder einen Akt purer Not – in jedem Fall wird das Modell der Transitzentren, das Seehofer durchgesetzt hat, die gemeinsame Flüchtlingspolitik nachhaltiger verändern als jeder EU-Gipfel."
Ich teile die Auffassung, dass Seehofers Durchsetzung nachhaltige Veränderungen hervorrufen wird. Die unmittelbare Wirkung scheint sehr klar auf der Hand zu liegen:
"Wie vor drei Jahren, als ein Land nach dem anderen die Grenzen schloss, bis die Balkanroute abgeriegelt war, gerät auch jetzt halb Europa in Zugzwang."

Seehofers Lösung?

Doch ist das bereits "eine kleine europäische Lösung", nur weil Seehofer Domino spielt mit anderen europäischen Ländern?
"Wenn Deutschland Asylbewerber bereits bei der Einreise stoppt, sollen diese schließlich nicht in Salzburg, Innsbruck oder Linz stranden. Deshalb ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Regierung in Wien dem Plan von CDU und CSU folgt und die Grenzen nach Italien und Slowenien sichert."
Klar ist jedenfalls, dass sich Europa eine Hoffnung nicht zu machen braucht:
"Ob das bereits so disziplinierend wirkt, dass sich insgesamt weniger Menschen auf den Weg nach Europa machen, ist damit zwar noch lange nicht gesagt."
Fluchtursachen sind nicht verschwunden, nur weil ein deutscher Innenminister an deutschen Grenzen Kontrollen verschärft. Er beendet damit keinen (Bürger)Krieg, macht keine Äcker fruchtbarer, bietet Menschen keine Perspektive in ihrer Heimat.
Doch das ist nicht das Ziel der Maßnahmen:
"Von den 68.000 Menschen, die zwischen Januar und Mitte Juni in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben, hätten mehr als 18.000 streng genommen überhaupt nicht einreisen dürfen, weil sie bereits in Italien, in Griechenland oder einem anderen EU-Land registriert sind und dort auf den Ausgang ihres Verfahrens warten müssten. Indem er das Weiterziehen von einem Land ins nächste unterbindet, im Fachjargon Sekundärmigration genannt, begeht Seehofer also keinen humanitären Tabubruch – er folgt lediglich der Logik der sogenannten Dublin-Regelung, die zunächst einmal die Staaten in der Pflicht sieht, in denen ein Flüchtling ankommt, also vor allem Griechenland, Italien und neuerdings auch Spanien."
Es soll vor allem die sog. Sekundärmigration unterbunden werden. Das sei kein humanitärer Tabubruch und lediglich Umsetzung geltenden Rechts. Rudi Wais meint damit die Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Dublin III), in der es in Art. 7 (2) heißt:
"Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt."
Die Verordnung beschreibt, dass der Staat verpflichtet ist, das Verfahren durchzuführen, in dem der Antrag erstmalig gestellt wurde. Das ist jedoch nur die halbe Wahrheit. Denn in Art. 8 (1) heißt es:
"Handelt es sich bei dem Antragsteller um einen unbegleiteten Minderjährigen, so ist der Mitgliedstaat zuständiger Mitgliedstaat, in dem sich ein Familienangehöriger oder eines der Geschwister des unbegleiteten Minderjährigen rechtmäßig aufhält, sofern es dem Wohl des Minderjährigen dient."
Oder in Art. 9:
"Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen — ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat —, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig [...]"
Es ist eben nicht so, dass ausschließlich der Staat des erstmaligen Antrages zuständig ist. Auch die Transitzonen könnten einen juristischen Fallstrick beinhalten, falls Art. 15 analog anwendbar wäre:
"Stellt ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im internationalen Transitbereich eines Flughafens eines Mitgliedstaats einen Antrag auf internationalen Schutz, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags zuständig."
Es ist festzustellen, dass Seehofer einem Teil der Logik der Dublin-Regelung folgt. Und die Zurückweisung an einen anderen EU-Staat ist - da hat Rudi Wais recht - nicht inhuman.
Doch das ist zu kurz gedacht. Es muss bedacht werden, welche Wirkung am Ende der Kettenreaktion geschlossener Grenzen entstehen wird. Wenn in anderen Staaten der EU inhumane Effekte entstehen - überfüllte Lager auf überforderten griechischen Inseln beispielsweise - oder in Drittstaaten, muss dies Seehofer zugerechnet werden.
Rudi Wais nennt es die "zweitbeste Lösung". Nein, es ist noch keine Lösung, es ist lediglich eine getroffene Vereinbarung auf einem Papier zwischen CDU und CSU. Damit das Konstrukt funktioniert, muss die Regierung in rechtliche Regelwerke eingreifen, Gesetze ändern. Ob der Koalitionspartner SPD mitspielt, wird sich weisen. Immerhin gibt es dort prominente Stimmen, die Transitzentren weiterhin ablehnen. Es müssen die deutschen Bundesländer mitspielen, auf deren Gebiet die Zentren eingerichtet werden sollen - außer Bayern sind nicht viele Willige auszumachen. Und schließlich sollen Vereinbarungen mit Ländern getroffen werden, zurückgewiesene Asylbewerber zurück zu nehmen - der Andrang der Freiwilligen ist überschaubar. Der Standard schreibt beispielsweise über das Bayern angeblich so nahestehende Österreich:
"Österreich will nach dem deutschen Asylkompromiss keine Verträge zu seinen Lasten akzeptieren. Dies hat Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) am Dienstag in einer Pressekonferenz mit Vizekanzler Heinz-Christian Strache und Innenminister Herbert Kickl (beide FPÖ) in Wien klargestellt. Die Bundesregierung sei 'sicherlich nicht bereit, Verträge zulasten Österreich abzuschließen', sagte Kurz."
Eine Vereinbarung mit Österreich wäre jedoch der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Konstruktion. Zu anderen Ländern schreibt Rudi Wais:
"Aus ihrer Sicht ist dieses Verfahren zutiefst ungerecht, weil es ihnen einen überproportional hohen Anteil der Flüchtlingslasten aufbürdet – entsprechend groß ist die Neigung in diesen Ländern, Asylbewerber einfach weiterreisen zu lassen."
Damit gäbe es keine gestellten Asylanträge und Dublin-Regelung wäre ausgehebelt. Letztendlich hat Seehofer keine Lösung der Asyl- und Migrationsfrage geschafft. Auch keine zweitbeste Lösung. Er hat das Problem der CSU mit der AfD bei der Wahl zum Bayerischen Landtag externalisiert.

Nichts gelöst, doch was erreicht?

Da Seehofers Aktionen keine Lösung brachten für ein Problem, sondern lediglich sein Problem bzw. das der CSU im Wahlkampf lösten, bleibt die Frage, ob er denn überhaupt etwas erreicht hat.
Fiktionen hat Seehofer geschaffen. Bisher waren Menschen eingereist, wenn sie deutsches Staatsgebiet betreten haben. Mit dem Winkelzug von Transitzentren soll es möglich sein, dass Menschen, die da sind, doch nicht hier sind, weil sie in einem Nichtstaatsgebiet (?) leben sollen. Als Law-and-Order-Proponent lehnt Seehofer rechtsfreie Räume ab, hier will er sie unter anderem Namen gerade schaffen.
Rekursive Rücktritte hat Seehofer geschaffen. Als Mittel der Erpressung hat er mit Rücktritt gedroht. Davon trat er dann zurück und bleibt im Amt. Wie lange? Das weiß niemand, nicht einmal Seehofer selbst. Absehbar ist jedoch, dass es wie im Winter 2017 lediglich ein Fake-Friede sein wird.
Flurschaden auf europäischem Boden hat Seehofer geschaffen. Rudi Wais schreibt, Seehofer wolle "eine europäische Lösung offenbar durch die Hintertür erzwingen". Doch Seehofers Vorgehen ist nicht europäisch. Es ist national. Seehofer legt seine Last auf die Schultern anderer. Er verrät die europäische Idee. Rudi Wais meint mit Bismarck, Politik "sei die Kunst des Möglichen". Ja, des Möglichen, nicht des Einfachsten. Populistische Lösungsfiktionen haben aktuell Hochkonjunktur. Seehofer reitet genau diese Welle.
Personenbeschädigungen hat Seehofer erreicht. Er hat sich beschädigt, er hat sich und die CSU in eine Sackgasse manöveriert, wie die AZ in einem Bericht schreibt. Und weiter:
"In seiner Partei sind Kritiker und Gegner überzeugt: 'Er muss gehen, so oder so.' Diese Stimmen werden wohl auch nach der am Montag gelungenen Einigung im Asylstreit nicht verstummen."
"Der Parteichef und seine Mitstreiter hätten 'sich eingemauert in einem Turm und jeden Kontakt zum normalen Leben verloren'."
Doch er hat nicht nur sich selbst beschädigt, auch Merkel. Sie ist eine der wenigen Personen, die glaubhaft und ausdauernd die europäische Idee verfolgen.
Es mag sein, dass sich Seehofer an geltendes Recht gehalten hat mit seinen Vorschlägen - Juristen werden das zu gegebener Zeit klären. Sein erpresserisches Vorgehen und seine nationale "Lösung" sind jedoch nicht vereinbar mit der politischen Kultur und der Idee Europas.

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