Sonntag, 6. Mai 2018

Lehren aus Ellwangen

Rudi Wais hat am 5.5. in der Augsburger Allgemeinen einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er "Lehren aus Ellwangen" zieht:


Rudi Wais schreibt:
"Ellwangen: Das ist seit dieser Woche ein Synonym für Kontrollverlust und politische Überforderung. Ein Menetekel."
Bewohner einer Asylunterkunft hatten sich zu einer Gruppe formiert und eine von der Polizei versuchte Abschiebung eines Togolesen verhindert. Im Angesicht der Gruppe und des aus dieser Gruppe heraus entstehenden Widerstandes hatten die Beamten ihren Versuch abgebrochen. Während dieses Vorganges soll es Faustschläge gegen ein Polizeifahrzeug gegeben haben, ernstlich verletzt wurde niemand.
Rudi Wais kennt sich aus mit dem Alltag im Umfeld von Asyl:
"Dass Abschiebungen wie in Ellwangen plötzlich aus dem Ruder laufen , dass Piloten sich weigern, jemanden nach Afghanistan oder in den Irak auszufliegen, dass Ärzte in letzter Minute mit einem Attest zur Hand sind oder Pässe auf wundersame Weise verschwinden: das ist inzwischen ernüchternder Alltag in Deutschland."
Sind "in letzter Minute" Atteste zur Hand, ist das nicht ernüchternd, sondern ich frage mich, warum sie nicht schon früher zur Hand waren (bei wirklicher Erkrankung) beziehungsweise welche Spielräume bei der Beurteilung von Symptomen sinnvoll sind. Denn kurzfristig erstellte Atteste sind ja kein Beweis für per se unlauteres Verhalten von Ärzten. Wenn Piloten die Zwangspassagiere nicht mitnehmen wollen, so steht dies im Einklang mit ihren verantwortungsvollen Aufgaben und ist ebenfalls nicht ernüchternd. Will Rudi Wais Piloten zur Zwangsmitnahme verpflichten, sollte er verbeamtete Piloten fordern oder Abschiebungen mit Staatsflugzeugen. Oder beides.
Auch ein Blick auf die von Rudi Wais genannten Zahlen lohnt:
"Jeder vierte der 230.000 Menschen, die das Land eigentlich längst wieder verlassen müssten, hat nicht einmal eine Duldung – tatsächlich abgeschoben aber wurden im vergangenen Jahr lediglich 24.000 abgelehnte Bewerber."
Ein Viertel von 230.000 Personen habe keine Duldung, das sind etwa 58.000 Menschen. Die restlichen sind demnach geduldet und nicht zur Ausreise verpflichtet. Den 58.000 Ausreisepflichtigen stünden 24.000 Abgeschobene gegenüber, das sind gut 40%. Keine zu schlechte Quote und sicherlich keine Kapitulation des Rechtsstaats "vor seinem eigenen Unvermögen". Und noch weit entfernt davon, dass "das großzügigste Asylrecht an eine Grenze" stoße.
Zweifelsohne ist es Aufgabe der Asylverfahren zu unterscheiden zwischen denen, "die unseren Schutz und unsere Hilfe benötigen, und denen, die nur ihr Glück in Deutschland versuchen". Zweifelsohne muss "ein negativer Bescheid [...] Folgen für den Bewerber" haben. Denn es gehört zum Wesen des Rechtsstaats, dass Entscheidungen dieses Staates umgesetzt werden, sobald die Entscheidungen rechtskräftig sind. Rechtskraft erlangen sie nach dem Ende des Verfahrensweges oder vielmehr -zuges, wenn mehrere Instanzen sequentiell involviert sind. Rudi Wais nennt dies richtig "eine rechtsstaatliche Pflicht". Zu der gehört jedoch auch, beispielsweise Atteste, sofern sie zu Recht ausgestellt wurden, angemessen zu berücksichtigen. Nicht alle Atteste unterminieren in einem Asylverfahren den Rechtsstaat.
In einem Atemzug mit denen, die ihr Glück versuchen, nennt Rudi Wais diejenigen, "die ihren Freunden und Verwandten hinterher ziehen oder oder es (Deutschland, Anm.) gar als Operationsbasis für Terror, Drogenhandel und andere kriminelle Machenschaften missbrauchen." Interessant, wie Rudi Wais hier die "Familienmenschen" mit Kriminellen, Terroristen und Drogenhändlern in einen Topf wirft. Dabei wäre es unmittelbar einsichtig, wenn der Rechtsstaat mit Kriminellen und mit "Familienmenschen" einen unterschiedlichen Umgang pflegte. In eine Topf gehören sie deshalb nicht.
Ellwangen sei so etwas wie exemplarisch:
"Horst Seehofer, der neue Innenminister, möchte Asylbewerber deshalb so lange in speziellen Aufnahmezentren kasernieren, bis deren Verfahren abgeschlossen sind."
Ja, das ist Seehofers Absicht. Rudi Wais findet:
"Dass ausgerechnet die Ereignisse von Ellwangen nun als Argument gegen Seehofers Sammelunterkünfte angeführt werden, ist vor diesem Hintergrund mehr als zynisch."
Mit diesem Satz entlarvt sich Rudi Wais. Er entlarvt sein geringes Verständnis für psychische und gruppendynamische Prozesse, die in solchen Sammelunterkünften entstehen können, wo Privatsphäre kaum möglich, die Vergangenheit der Untergekommenen schwierig und ihre Zukunft unklar ist. Er entlarvt sich weiter:
"Auch wenn hunderte von Flüchtlingen über Monate auf engstem Raum zusammen leben müssen, rechtfertigt das ja noch keine Schlägereien und Messerstechereien untereinander, geschweige denn Attacken auf Polizisten."
Wer rechtfertigt denn "Schlägereien und Messerstechereien" oder "Attacken auf Polizisten"? Niemand. Aber es gibt Erklärungsversuche. Doch Rudi Wais:
"Hier zäumen Seehofers Kritiker das berühmte Pferd von hinten auf: Nicht die Unterbringung war in Ellwangen, in Donauwörth und vielen ähnlich gelagerten Fällen das Problem, sondern die Gewaltbereitschaft der Untergebrachten."
"Gewaltbereitschaft der Untergebrachten". Das ist eine fragwürdige Unterstellung. Aber sie passt zur Selbstentlarvung: Wer kein Verständnis entwickeln kann für die gruppendynamischen und psychischen Prozesse in solchen Unterkünften, dem bleibt nur übrig, die Schuld bei den Untergebrachten zu finden. Damit es weiter einfach bleibt, wird denen generelle Gewaltbereitschaft unterstellt.
Vielleicht wünscht sich Rudi Wais "Flüchtlingscontainer": Jeder Flüchtling wird wie ein Container im Freihafen behandelt und soll solange stillstehen, bis über die weitere Verwendung entschieden wurde. Nur sind Menschen keine Container. Niemand käme auf die Idee, in sozialen Brennpunkten von Städten "Jetzt benehmt Euch gefälligst!" zu rufen. Es ist völlig klar, dass ein Dach über dem Kopf und eine warme Mahlzeit nicht ausreicht. Immer geht es bei der Lösung solcher Brennpunkte um Perspektiven für die Betroffenen, um den Umgang mit ihnen. Einer Kasernierung redet hierbei niemand das Wort.
Rudi Wais schließt mit dem Satz, in dem er seine bisherigen Unterstellungen wie Gewaltbereitschaft um den abfälligen Titel "Mob" ergänzt:
"Wer das Asylrecht so missbraucht wie der Mob auf der Ostalb, hat jeden Anspruch auf Asyl verwirkt."
Der AfD-Politiker Udo Stein, Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, meint fast gleichlautend:
"Damit wäre jeder rechtmäßige Anspruch auf Asyl in Deutschland verwirkt und der Antragsteller müsse zumindest in das Land abgeschoben werden, in dem er zuerst sicheren Boden betreten habe."
Interessant, dass die zu ziehenden Lehren immer nur in eine Richtung deuten.

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