Dienstag, 13. März 2018

(Über)leben mit Hartz IV

Rudi Wais hat in der Augsburger Allgemeinen am 13.3. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Aussagen des designierten Gesundheitsministers Jens Spahn zu Hartz IV kommentiert:


Je hitziger die Debatte, desto hilfreicher sei „ein Blick auf die Fakten“, schreibt Rudi Wais. Richtig. Deshalb zuerst die Aussagen von Jens Spahn, die beispielsweise das Handelsblatt so beschreibt:
"Spahn hatte der Funke Mediengruppe gesagt, die Tafeln 'helfen Menschen, die auf jeden Euro achten müssen. Aber niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe'. Deutschland habe 'eines der besten Sozialsysteme der Welt'. Die gesetzliche Grundsicherung werde mit großem Aufwand genau bemessen und regelmäßig angepasst.
Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut, führte Spahn weiter aus. 'Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht.' Er fügte hinzu: 'Mehr wäre immer besser, aber wir dürfen nicht vergessen, dass andere über ihre Steuern diese Leistungen bezahlen.'"
Der Widerspruch entspann sich vor allem an der Einordnung, Hartz IV bedeute nicht Armut und Hartz IV würde jedem das geben, was er zum Leben brauche.

Regelsätze nach Hartz IV

Rudi Wais ergänzt in seinem Leitartikel die Aussagen mit Beträgen:
"Nehmen wir ein Ehepaar mit zwei Kindern, vier und zwölf Jahre alt, das auf Hartz IV angewiesen ist. Es erhält heute 1284 Euro im Monat und je nachdem, wo die Familie lebt, im Schnitt noch einmal 644 Euro für die Wohnung und die Heizung. Macht 1928 Euro, zusätzliche Leistungen wie die kostenlose Krankenversicherung, Schulbücher oder Zuschüsse für Klassenfahrten nicht mitgerechnet. Kommt ein drittes Kind dazu, werden aus 1928 Euro schon 2381 Euro. Bei einem Alleinstehenden sind es zwar nur vergleichsweise bescheidene 737 Euro, viele Friseusen aber verdienen heute nur unwesentlich mehr."
Wie kommt er auf diese Zahlen? Ausgangspunkt sind die sog. Regelsätze (oder Regelbedarf), die - wie Rudi Wais richtig schreibt - "zum Jahreswechsel um 1,7 Prozent angehoben wurden". Sie betragen seit Januar 2018:

Regelbedarf 2017 2018
Regelbedarf für Alleinstehende/ Alleinerziehende 409€ 416€
RL unter 25-Jährige im Haushalt der Eltern / Strafregelleistung für ohne Zustimmung ausgezogene U 25’er 368€ 374€
Kinder 0 bis 5 Jahre 327€ 332€
RL für Kinder von 6 bis unter 14 Jahre 237€ 240€
Kinder 14 bis unter 18 Jahre 291€ 296€
Volljährige Partner innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft 311€ 316€

Damit ergibt sich für das Familienbeispiel von Rudi Wais:
Alleinstehende + Volljähriger Partner + Kind unter 5 + Kind unter 14 = 1.284€.
Zumindest in 2017. Für 2018 ergeben sich ein paar Euro mehr, nämlich 1.304€. Diese Unschärfe tut jedoch der Argumentation von Rudi Wais keinen Abbruch. Aus den Regelsätzen ist das zweite Beispiel von Rudi Wais nicht ersichtlich. Trotz dieser Unschärfe im Zahlenwerk, richtig ist:
"Große Sprünge können mit solchen Summen weder eine Friseuse noch die Familie in unserem Beispiel machen."
Für die beispielhafte Familie kann das auch nicht der Anspruch sein, denn:
"Das nach seinem Erfinder, dem früheren VW-Vorstand Peter Hartz, benannte System, soll existenzielle Not ja gerade verhindern, indem es ein Mindestmaß an Einkommen und sozialer Teilhabe ermöglicht, finanziert von der Solidargemeinschaft der Steuerzahler und für jeden von uns da, der seinen Lebenunterhalt [Fehler im Original, Anm.] nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes oder einem anderen Schicksalsschlag nicht mehr selbst bestreiten kann."
Es soll das Mindestmaß an Einkommen gesichert werden. Finanziert wird die Leistung von der Solidargemeinschaft. Deshalb ist es wichtig, die Hilfe richtig zu dosieren. Rudi Wais schreibt dazu:
"Der Staat lässt seine Bürger nicht im Stich. Die Berechnung der Regelsätze, die zum Jahreswechsel um 1,7 Prozent angehoben wurden, folgt klaren, nachvollziehbaren und vom Verfassungsgericht gebilligten Kriterien, indem sie sich an der Entwicklung der Preise und der Nettolöhne orientiert."
Das ist nicht richtig, die Höhe der Regelsätze orientiert sich nicht an Preisen oder Löhnen. Ein Blick in das Gesetz lohnt hier und schafft Klarheit:
  • Regelsatz:
    § 20 SGB 2. Buch beschreibt den Regelsatz als zur "Sicherung des Lebensunterhalts [...] sowie persönliche[r] Bedürfnisse des täglichen Lebens" dienend.
  • Berechnung des Regelsatzes:
    § 5 ERGB beschreibt den Bedarf eines Erwachsenen, § 6 ERGB den von Kindern. Ausgangspunkt sind nach § 1 ERGB "Sonderauswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 zur Ermittlung der durchschnittlichen Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte". Rudi Wais irrt also, da für die Berechnung nicht Preise und Löhne relevant sind, sondern Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte.
  • Entwicklung des Regelsatzes:
    § 7 ERGB beschreibt unter Verweis auf § 28a SGB 12. Buch die Fortschreibung des Regelsatzes, wobei hier "die Preise aller regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen" und "die durchschnittliche Nettolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer" verwendet werden. 
Die Entwicklung der Regelsätze, orientiert an allgemeinen Wirtschaftsdaten, steht weniger in der Kritik als die absolute Höhe. So ist für einen alleinstehenden Erwachsenen in § 5 ERGB für 2013 für die Ernährung bei monatlicher Bedarf von 137,66€ genannt, für Kleidung 34,60€, für Gesundheitspflege 15,00€ und für Freizeit und Kultur 37,88€. Fünf Jahre später sind die Beträge etwas höher, dennoch lässt sich zu Recht fragen, welche Form der Ernährung mit etwa 140€ im Monat möglich ist: Analogkäse und Fastfood oder eine ausgewogene Ernährung? Oder: Wieviel Kinderarbeit muss man akzeptieren, um sich für gut 30€ zu kleiden?

Armut

In den Aussagen von Jens Spahn ging es auch um Armut. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nennt zwei Arten der Armut:
"Als absolute Armut ist dabei ein Zustand definiert, in dem sich ein Mensch die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nicht leisten kann. Relative Armut beschreibt Armut im Ver­hältnis zum jeweiligen Umfeld eines Menschen."
Als Operationalisierung der Armut gibt das Ministerium an:
"Bei der Messung von Armut haben sich verschiedene Ansätze durchgesetzt. Die Weltbank definiert Menschen als extrem arm, wenn sie weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Bei diesem Ansatz wird die Kaufkraft des US-Dollars in lokale Kaufkraft umgerechnet. Das heißt, dass extrem arme Menschen nicht in der Lage sind, sich täglich die Menge an Gütern zu kaufen, die in den USA 1,90 US-Dollar kosten würden. Die 1,90-Dollar-Grenze wird als finanzielles Minimum angesehen, das eine Person zum Überleben braucht."
Vergleicht man diese 1,90 US-Dollar mit dem Hartz IV-Regelsatz von über 400€, wird klar, dass extreme Armut, dass überlebensbedrohende Armut, mit Hartz IV nicht droht. Allerdings ist diese Armutsgrenze für Deutschland wenig hilfreich und wird in Diskussionen nicht verwendet. Hier spielt die relative Armut eine Rolle. Sie wird berechnet "vom Median des Netto-Äquivalenzeinkommens" und bezeichnet Menschen als armutsgefährdet, wenn sie weniger als 60% des Medians als Einkommen haben und als arm bei weniger als 40%.
Aus dieser relativen Berechnung von Armut wird auch klar, warum Sozialverbände eine steigende Armut beklagen. Wenn Löhne steigen, wandert der Median nach oben, der die Armutsgrenze definiert. Personen mit geringem Einkommen und kleinen (oder keinen) Einkommenszuwächsen bleiben zwar absolut stehen, im Vergleich zum Median rutschen sie ab. Bei einer geringen oder kaum vorhandenen Inflation bedeutet dies aber nicht, dass sie sich (viel) weniger leisten können. Es ist deshalb richtig, was Rudi Wais schreibt:
"Unterm Strich jedoch ist das System nicht so schlecht und ungerecht, wie es von Sozialverbänden, der Linkspartei oder den Gewerkschaften gerne gemacht wird."
Andererseits liegt die Grenze für Armut durchaus in der Nähe der Regelsätze für Hartz IV:

Statistik: Einkommensgrenzen zur Einstufung in Arm und Reich für Singles und Paare auf Basis des monatlichen Nettoeinkommens | Statista
Mehr Statistiken finden Sie bei Statista

Wobei bedacht werden muss, dass zu den Regelsätzen beispielsweise die Miete hinzukommt, so dass die Einkommensgrenzen in der Regel übersprungen werden können.
Jens Spahn meint:
"Mehr wäre immer besser"
Ja, schon. Doch Rudi Wais sieht eine Gefahr:
"Je großzügiger die staatliche Hilfe bemessen ist, umso geringer wird der Anreiz für ihre Bezieher, sich wieder eine Arbeit zu suchen."
Hier schnaubt er wieder, der alte Atem der frühen Industrialisierung. Arbeiter seien grundsätzlich faul, müssten aufs Schärfste überwacht werden, jeder Handgriff müsse vorgegeben werden, weil sie selbst nur nach Umgehungsmöglichkeiten suchen würden. Diese Sicht hat sich inzwischen in der modernen Sicht auf Arbeit, Management, Beruf verändert. Menschen wird zugetraut, etwas zu können und zu wollen, sogar für und nicht nur im Unternehmen zu arbeiten. Ja, es wird einzelne geben, die sich in einer Hartz-IV-Hängematte den Rest ihres Lebens vorstellen können. Die Frage ist jedoch, wie hoch deren Anteil ist und mit welchem Recht die in Sippenhaft genommen werden sollen, die diese Hängematte nicht anstreben.

Conclusio

Jens Spahn hatte gesagt:
"Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht."
Rudi Wais hatte zu Beginn seines Leitartikels dies aufgegriffen und gefragt und geantwortet:
"Reicht Hartz IV zum Leben? So neoliberal-kühl und abgehoben der designierte Gesundheitsminister Jens Spahn auch klingt: In der Sache hat er recht."
Richtig, Hartz IV sichert jedem zu, was er zum Leben braucht. Besser wäre die ehrliche Aussage, Hartz IV sichert jedem das zu, was der Gesetzgeber, die Gerichte, die Gemeinschaft als zum Leben nötig erachten. Denn die Regelsätze orientieren sich ja nicht an dem, was jeder zum Leben braucht. Sie sind keine Einzelfallsätze, orientiert am persönlichen Bedarf, sondern sie zielen auf einen mehr oder weniger fiktiven Durchschnitt ab. Deshalb sollten die Aussagen von Jens Spahn und Rudi Wais korrigiert werden: Hartz IV sichert das Überleben. Doch reicht das zum Leben?

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