Samstag, 31. März 2018

Demokratieverständnis der AfD im Bundestag

Ich weiß nicht, ob das ein Ritterschlag ist:


Was es jedenfalls ist: ein klares Zeichen, welches Verständnis die Fraktion der AfD im Bundestag von Demokratie, Meinungsfreiheit und politischer Teilhabe hat.
Natürlich hat jeder das Recht, auf Twitter beliebigen Accounts zu folgen oder sie zu ignorieren. Für Parlamentarier gelten eventuell etwas andere Maßstäbe, weil das Amt eines Abgeordneten bestimmte Verpflichtungen gegenüber dem Bürger mit sich bringt. Für Fraktionen als institutionelle Gebilde im Bundestag gelten sicherlich andere Maßstäbe. Bürger von der politischen Teilhabe auszuschließen, nur weil sie nicht die Meinung der Fraktion teilen oder die Fraktion auf Fehler in ihren Verlautbarungen hinweisen, ist undemokratisch. Demokratiewidriges Verhalten einer Fraktion, die sich sonst sehr genau auskennt mit demokratischen Gepflogenheiten und "Zensur" schneller rufen kann als andere "Meinungsfreiheit" denken.
Deshalb habe ich die AfD-Bundestagsfraktion per Mail angeschrieben und die Aufhebung der Sperre beantragt:


In meinen Tweets verwende ich immer wieder den Hashtag #NixVerstehen, vor allem bei Tweets der AfD bzw. aus dem Umfeld der AfD, die bekannte Fakten negieren oder sonst wie absurd sind. Vielleicht ist die Account-Sperre wieder ein Fall für #NixVerstehen im Zusammenhang mit demokratischen Grundregeln.

Samstag, 24. März 2018

Islamdebatte - nötig oder Nonsens?

Die Augsburger Allgemeine hat am 20.3. über den Ärger der CSU berichtet, als Merkel in ihrer Regierungserklärung Seehofer zurechtgewiesen habe:


Seehofers Sandkasten

Im Bericht heißt es:
"'Ich werde meine Politik nicht um ein Jota ändern', sagte Seehofer dem Spiegel. Der CSU-Chef erklärte, die Aussagen Merkels in der Regierungserklärung hätten ihn vollkommen unvorbereitet getroffen. 'Dafür fehlt mir jegliches Verständnis.'"
Hatte Seehofer seine Behauptung, der Islam gehöre nicht nach Deutschland, mit Merkel abgestimmt? Offensichtlich nicht. Nach den Aussagen Merkels benimmt er sich nun wie ein Kind, das im Sandkasten alle drangsaliert und dann beleidigt reagiert, als es von Erwachsenen geschimpft wird wegen seines unmöglichen Verhaltens.
Rudi Wais hat die Vorgänge kommentiert und schreibt von "Szenen einer Ehe":


Rudi Wais schreibt:
"Eine Kanzlerin, die einem ihrer wichtigsten Minister öffentlich in die Parade fährt, [...] darf sich nicht wundern, wenn in ihrer Koalition jeder für sich und jeder gegen jeden arbeitet."
Warum richtet er diesen Vorwurf nicht gegen Seehofer, der mit Blick auf die bayerische Landtagswahl und vor Angst vor der AfD jede Gelegenheit nutzt, eine möglichst harte Linie zu fahren und dabei gegen bekannte Positionen seiner Koalitionspartner CDU und SPD zu agitieren? Rudi Wais nennt doch, "was ein Regierungsbündnis im Innersten zusammenhält: Loyalität, Fairness, eine gewisse Disziplin auch".  Ja, dann soll das bitte auch für die CSU gelten. Auch sie kann keine Rabatte dieser Werte für sich beanspruchen, nur weil ihre absolute Mehrheit in Bayern gefährdet scheint. Rudi Wais sagt voraus:
"Der nächste Ehekrach ist nur noch eine Frage der Zeit."
Diese Voraussage habe ich in meinem Blog schon oft getroffen. Jedes Mal, wenn die CSU sich mit der Kanzlerin angeblich versöhnt habe, fehlte mir der Glaube. Erneut liefert das Seehofer die Bestätigung, dass er dem Sandkasten nicht entwachsen ist.

Debatte zum Islam in Deutschland

Ausgangspunkt der Debatte war Seehofers Behauptung, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Damit widersprach er einem ehemaligen Bundespräsidenten, der Kanzlerin. Doch er erhält Unterstützung von Markus Blume, dem Generalsekretär der CSU:
"Auch der neue CSU-Generalsekretär Markus Blume attackierte indirekt Merkel. Wer Seehofers Satz als Akt der Ausgrenzung sehe, 'der handelt böswillig und versteht die Debatte nicht', sagte Blume unserer Redaktion. Der Parteichef habe ja im nächsten Satz auch erklärt, 'dass selbstverständlich die Menschen muslimischen Glaubens zu diesem Land gehören'. Blume fügte hinzu: 'Es geht hier um die Frage der kulturellen Identität und was dieses Land im Innersten zusammenhält.'"
Sofort wird Widerspruch als "böswillig" bewertet, es fehle Verständnis für die Debatte. Wenn es eine Debatte wäre. Auf eine solche lässt sich die CSU überhaupt nicht ein, hat sie doch nur böswillige Nichtversteher als Gegner. Sie behauptet, es ginge um kulturelle Identität und ist nicht bereit, die Basis ihrer Argumentation - die christliche Prägung Deutschlands - zu debattieren. Bei der "Leitkultur" hieß es wiederholt, die wäre vor allem durch das Grundgesetz definiert. Doch da steht beispielsweise:
  • Artikel 1: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Man mag darin humanistische Züge erkennen. Die ebenfalls genannten Menschenrechte sind keine allein christlichen Errungenschaften.
  • Artikel 2 benennt die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Entfaltung. Auch hier kein spezifisch christlicher Anspruch.
  • Artikel 3 macht alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Dies ist eine Errungenschaft der Aufklärung. Frauen und Männer seien gleichberechtigt, ein Anspruch, dem die christliche Religion noch heute nicht entspricht, siehe katholisches Priesteramt.
  • Artikel 4 sichert die freie Religionsausübung zu. Auch hier kein Primat christlicher Elemente.
  • Artikel 20 schließlich beschreibt Deutschland als demokratischen und sozialen Bundesstaat. Demokratie ist keine christliche Erfindung.
Unschwer ist zu erkennen, dass Deutschland von vielem geprägt ist. Vorworte mit Bezug zu Gott vermögen daran nichts zu ändern. Die deutsche Gegenwart ist die Summe vieler historischer Strömungen, Denkwelten, Philosophien. Wenn nun manche glauben, das religiöse Element herausheben zu können, liegen sie methodisch falsch. Wenn sie zusätzlich glauben, mit diesem Element andere Religionen - vielmehr: eine bestimmte, den Islam - dominieren zu können, sollten sie lange und intensiv über die Gretchenfrage nachdenken.
Zu weiteren Aussagen von Markus Blume heißt es:
"Blume kündigte eine harte Auseinandersetzung mit dem Islam an: 'Wenn wir von Religionsfreiheit reden, dann gehört es zu unserem Land auch dazu, dass wir dem Islam aufzeigen, wo die Grenzen der Religionsfreiheit sind.' Religiöse Überzeugungen oder gar die Scharia könnten niemals die Rechtsordnung, das staatliche Gewaltmonopol oder den staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag ersetzen."
Die Grenzen der Religionsfreiheit sind im Strafrecht zu finden. Die Rechtsordnung setzt ebenfalls Grenzen. Doch warum sollen Islamschulen den "Bildungs- und Erziehungsauftrag" in Frage stellen, andere Privatschulen nicht? Ergänzend ist zu fragen, warum für das Christentum andere Grenzen der Religionsfreiheit gelten sollen als für den Islam. Vielleicht muss man dem Islam gegenüber die Grenzen öfter verteidigen, öfter auf die Grenzen hinweisen. Doch deswegen gelten die identischen Grenzen.
Markus Blume weiter:
"Er warnte davor, die Diskussion nicht zu führen: 'Wenn jeder, der eine klare Position formuliert und sich nicht im Beliebigkeitsblabla der elitären Mitte aufhält, sofort den Stempel Spalter bekommt, ist das nicht gut.'"
Ahja, hier "klare Position", dort "Beliebigkeitsblabla der elitären Mitte". Von dort käme auch sofort der Spalter-Stempel geflogen. Eine solche Opfer-Haltung zeigt sonst vor allem die AfD, die sich bei Widerspruch als Opfer stilisiert. Doch die CSU lässt kaum eine Gelegenheit aus, sie zeigt sich als #AFDkopie.
Markus Blume weiter:
"Spaltend sei eher 'die Unterdrückung einer notwendigen Debatte'."
Ob das spaltend ist, sei dahingestellt. Es würde schon reichen, wenn die Unterdrückung schädlich wäre. Doch für eine Unterdrückung müsste sich die CSU überhaupt auf eine Debatte einlassen. Solange sie das nicht tut und lediglich ihre Position mit quasi-religiösem Sendungsbewusstsein lautstark hinausposaunt, läuft Blumes Vorwurf ins Leere. Seehofer bleibt im Sandkasten hocken und Blume spielt mit.

Debattenhoheit oder: Simple Welt

Walter Roller hat in der gleichen Ausgabe der AZ, die auch eine Sonderausgabe zu 1968 ist, einen Leitartikel veröffentlicht zu den 68ern und zu ihrem zwiespältigen Erbe:


Walter Roller schreibt über die 68er, jedoch finden sich Anknüpfungspunkte zur Islamdebatte. Er sieht die 68er, die "[antiautoritäre], nach Teilhabe, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung aller Frauen und Männer [strebende] Bewegung" als Gewinner der Geschichte. Walter Roller schreibt:
"Und die weit überwiegende Mehrheit der Bevölkerung schätzt ja die liberale, weltoffene, tolerante, säkulare Gesellschaft, die ohne die 68er nicht zustande gekommen wäre. Wer will schon zurück in eine Zeit, in der es die Prügelstrafe gab, 'wilde Ehen' und Homosexualität verfemt waren und berufstätige Mütter angefeindet wurden? Oder wer findet es nicht gut, dass Bürger mitreden können, sich nicht mehr zu ducken brauchen vor staatlichen Autoritäten und die Herrschenden sich ständig erklären müssen?"
Trotzdem meint Walter Roller, Alexander Dobrindt zitieren zu müssen mit linker Meinungsherrschaft, meint "volkspädagogisches Eiferertum zur Umerziehung der bürgerlichen Mitte" unterstellen zu müssen. Er verortet Brandmarkung und Sprachverbote:
"Es hat sowohl mit dessen operativen Auswüchsen als auch mit jenem moralgetränkten Korrektheitsdenken zu tun, das jede Abweichung von der 'richtigen' Linie als 'rechts' brandmarkt und Sprachverbote verhängt."
Moment, hatte er nicht ein paar Worte vorher linke Meinungsherrschaft angeführt? Als links darf diffamiert werden, was "liberale, weltoffene, tolerante, säkulare Gesellschaft" anstrebt, der Gegenvorwurf "rechts" soll dann jedoch verboten sein für jene, die nicht so liberal, nicht so weltoffen, nicht so tolerant und nicht so säkular sind? Damit bedient er sich der gleichen Methoden, derer sich Markus Blume bedient: die eigene Position wird als unterdrückt behauptet.
Walter Roller weiter:
"Der Konservatismus, der Tradition und Familie schätzt, das Tempo von Veränderungsprozessen bremsen will und das bewährte Vorhandene erst über Bord wirft, wenn sich das Neue als besser erweist, hatte noch nie ein ausbuchstabiertes Programm. Doch das wachsende Unbehagen vieler Menschen über die Dominanz des 68er-Denkens ist mit Händen zu greifen."
Er hält Kurs, behauptet weiterhin Unterdrückung einer Meinung durch eine andere. Es ist schon seltsam: Konservativismus, Populismus, Nationalismus speisen ihre Berechtigung, ihre Ansprüche aus der Behauptung eines Feindes. Das vereinfacht natürlich, eine Debatte zu fordern. Denn auf inhaltliche Argumente kann weitgehend verzichtet werden, ebenso auf die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Position der Debattengegner. Schöne einfache Welt.

Die Essenz des Nonsens

In die Islamdebatte brachte sich Eva-Maria Otto ein, sie schrieb einen Leserbrief:


Sie schreibt, ein "gedeihliches Zusammenleben" sei nur möglich, "wenn Religion Privatsache bleibt". Wer das anders sehe, der solle "unser Land wieder verlassen". Zuvor führt sie aus, Deutschland sei "ein christlich geprägtes Land". Was nun: ist das Land christlich geprägt und alle müssen sich an den daraus entstehenden religiösen Vorgaben orientieren? Oder ist Religion Privatsache und religiöse Vorgaben existieren nicht? So viel Widersprüchlichkeit in den Argumenten offenbart, mit welchem Nonsens hierzulande manche Debatten geführt werden. Und wie schnell Koffer in Griffweite sein sollten.

Samstag, 17. März 2018

Bayerischer Doppelpass

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen am 17.3. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Situation der CSU beschreibt, nachdem Horst Seehofer Bundesinnenminister und Markus Söder Ministerpräsident geworden war:


Walter Roller schreibt im Hinblick auf die bayerische Landtagswahl im Herbst:
"Horst Seehofer musste gehen, weil die Partei ihm keinen Sieg mehr zutraute [...]. Die Landtagsabgeordneten glauben, den Retter in Markus Söder gefunden zu haben."
Deshalb seien die "Versuche Seehofers, den Aufstieg des Finanzministers zu verhindern [...] zum Scheitern verurteilt" gewesen. Söder war "der stärkste und durchsetzungsfähigste", Konkurrenten waren seinem "Ehrgeiz und der Wucht" nicht gewachsen. Walter Roller bescheinigt Söder "großes Talent und viel administrative Erfahrung". Richtig, Söder weiß, wie's geht. In einer Umfrage der AZ, ob Söder Bayern spalten oder vereinen würde, zeigte sich das Talent:
"Seit klar ist, dass Markus Söder bayerischer Ministerpräsident wird, hat der 51-jährige Franke eine echte Charmeoffensive gestartet. Und die scheint sich auszuzahlen. Söder, der lange als extrem polarisierend galt, kann zum Amtsantritt ermutigende Umfragewerte vorweisen. Eine Mehrheit der Bayern glaubt nicht, dass Söder als Landesvater die Bevölkerung spalten werde."
Dabei wird nicht nur die "Charmeoffensive" geholfen haben, sondern die Wandlung vom "Flegel zum Staatsmann", wie Uli Bachmeier in der AZ den neuen Markus Söder porträtierte. Söders Anfänge waren flegelhaft:
"Er war ungestümer Vorsitzender der Jungen Union und rüpelhafter CSU-Generalsekretär."
Gut, der Drang der Jugend. Zu seiner Zeit als Minister, also in den letzten zehn Jahre, heißt es:
"Intern gab es zwar noch illustre Gerüchte über veritable Wutausbrüche. Da soll schon mal ein Handy gegen eine Wand geflogen und ein Glastisch zu Bruch gegangen sein. Doch die Metamorphose vom Flegel zum Staatsmann nahm ihren Weg."
Dabei half ihm auch sein Geschick im Umgang mit denen, denen er als Minister Gutes tun konnte:
"Obendrein gab es einen angenehmen Nebeneffekt für Söder: Er war es, der die Förderbescheide höchstselbst auch noch in die abgelegensten Orte brachte und damit zugleich Werbung in eigener Sache machte."
Uli Bachmeier fragt im Portrait:
"Ist der Mann, der heute im Landtag vereidigt wird, noch derselbe, der einst auf dem Schulhof keiner Schlägerei aus dem Weg ging? Es sieht nicht danach aus."
Na, hoffentlich! möchte man rufen. Zwischen Schulzeit und dem Verhalten eines 50jährigen sind Unterschiede notwendig. Walter Roller schreibt:
"Wann immer der Laden auseinanderzufliegen drohte, obsiegte am Ende das gemeinsame Machtkalkül über die Rauflust."
Nicht nur die Rauflust zwischen Seehofer und Söder, sondern auch die in Söder. Das Machtkalkül machte möglich, was in Anbetracht des gegenseitigen Unwillens zwischen Seehofer und Söder unmöglich schien:
"Söder beackert Bayern, Seehofer hält Wacht in Berlin - und beide spielen miteinander den 'Super-Doppelpass'"
Kooperation. Jedoch:
"Die Frage ist nur, ob die beiden verfeindeten Spielmacher das hinkriegen"
Solange sie ihr Ego hinter das Machtkalkül stellen, wird die Antwort wohl Ja lauten. Wie schnell des Machtkalküls wegen Positionen, Auftreten etc. verändert werden, zeigt sich an Seehofers Islam-gehört-nicht-zu-Deutschland-Auslassung, zeigt sich an Söders Metamorphose. In seinem Kommentar zu Söder schreibt Holger Sabinsky-Wolf von politischem Kalkül:
"Er ist also zu dieser Metamorphose vom Polarisierer zum Landesvater gezwungen. Denn wenn er überhaupt eine Chance auf die absolute Mehrheit mit seiner CSU haben will, darf Söder nicht nur um AfD-Wähler werben, sondern muss auch in liberaleren Milieus wählbar werden."
Ich frage mich, wie glaubwürdig eine solche Metamorphose sein kann. Immerhin ist das kein Wandel von einem Teenager zu einem 50jährigen, sondern von einem Verhaltensteenager zum Landesvater in wenigen Wochen bzw. Monaten. Ich frage mich, welches Verhalten denn den wahren Söder zeigt: Ist er der Rüpel, der sich zusammennimmt? Oder ist er schon immer landesväterlich, setzte sich jedoch eine Rüpelmaske auf? Letztendlich ist die Antwort egal, denn ein solcher Wandel in so kurzer Zeit lässt sich nicht glaubwürdig argumentieren. Es ist Schauspielerei, um des Machtkalküls Willen. Die Sollbruchstelle der Schauspielerei nennt Walter Roller:
"[...] einen schärferen Kurs bei der Begrenzung der Zuwanderung und in Fragen der inneren Sicherheit [...] [um] die rechte Konkurrenz AfD in Bayern klein zu halten [...] ohne die Stammkunden der bürgerlichen Mitte mit zu scharfen Tönen zu vergraulen"
Um den Koalitionsvertrag im Bund wurde lange verhandelt. Seehofer wird ausscheren, sobald er sich mit einem "schärferen Kurs" profilieren zu können glaubt. Söder wird sich die Maske des Landesvaters krampfhaft vors Gesicht drücken, und gleichzeitig einem "schärferen Kurs" das Wort reden. Denn auch er wird den Kampf gegen die AfD auf deren Gebiet ausfechten. Er wird wie Seehofer nicht versuchen, die Menschen vom braunen Sumpfgelände auf gefestigtes Gebiet zu locken. Er wird selbst hingehen und sich braune Stiefel holen.
Schon mehrfach habe ich darauf hingewiesen, wie nahe die CSU bei manchen Positionen den Rechtspopulisten der AfD oder der FPÖ steht. Die große Wandlungsfähigkeit der Proponenten der CSU aus Gründen des Machterhalts hat in meinen Augen ebenfalls populistische Züge. Die Frage wird sein, wie lange sich Bürger und Wähler von der jeweils aktuellen Maske blenden lassen. Wann werden sie Ehrlichkeit und Authentizität einfordern? Ja, Wahlen werden nicht nur mit Inhalten gewonnen. Doch wenn Wahlen zunehmend Persönlichkeitswahlen werden, muss der Anspruch der Wähler höher sein. Nicht der bessere Schauspieler, der bessere Mensch möge gewinnen.

Dienstag, 13. März 2018

(Über)leben mit Hartz IV

Rudi Wais hat in der Augsburger Allgemeinen am 13.3. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Aussagen des designierten Gesundheitsministers Jens Spahn zu Hartz IV kommentiert:


Je hitziger die Debatte, desto hilfreicher sei „ein Blick auf die Fakten“, schreibt Rudi Wais. Richtig. Deshalb zuerst die Aussagen von Jens Spahn, die beispielsweise das Handelsblatt so beschreibt:
"Spahn hatte der Funke Mediengruppe gesagt, die Tafeln 'helfen Menschen, die auf jeden Euro achten müssen. Aber niemand müsste in Deutschland hungern, wenn es die Tafeln nicht gäbe'. Deutschland habe 'eines der besten Sozialsysteme der Welt'. Die gesetzliche Grundsicherung werde mit großem Aufwand genau bemessen und regelmäßig angepasst.
Hartz IV bedeute nicht Armut, sondern sei die Antwort der Solidargemeinschaft auf Armut, führte Spahn weiter aus. 'Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht.' Er fügte hinzu: 'Mehr wäre immer besser, aber wir dürfen nicht vergessen, dass andere über ihre Steuern diese Leistungen bezahlen.'"
Der Widerspruch entspann sich vor allem an der Einordnung, Hartz IV bedeute nicht Armut und Hartz IV würde jedem das geben, was er zum Leben brauche.

Regelsätze nach Hartz IV

Rudi Wais ergänzt in seinem Leitartikel die Aussagen mit Beträgen:
"Nehmen wir ein Ehepaar mit zwei Kindern, vier und zwölf Jahre alt, das auf Hartz IV angewiesen ist. Es erhält heute 1284 Euro im Monat und je nachdem, wo die Familie lebt, im Schnitt noch einmal 644 Euro für die Wohnung und die Heizung. Macht 1928 Euro, zusätzliche Leistungen wie die kostenlose Krankenversicherung, Schulbücher oder Zuschüsse für Klassenfahrten nicht mitgerechnet. Kommt ein drittes Kind dazu, werden aus 1928 Euro schon 2381 Euro. Bei einem Alleinstehenden sind es zwar nur vergleichsweise bescheidene 737 Euro, viele Friseusen aber verdienen heute nur unwesentlich mehr."
Wie kommt er auf diese Zahlen? Ausgangspunkt sind die sog. Regelsätze (oder Regelbedarf), die - wie Rudi Wais richtig schreibt - "zum Jahreswechsel um 1,7 Prozent angehoben wurden". Sie betragen seit Januar 2018:

Regelbedarf 2017 2018
Regelbedarf für Alleinstehende/ Alleinerziehende 409€ 416€
RL unter 25-Jährige im Haushalt der Eltern / Strafregelleistung für ohne Zustimmung ausgezogene U 25’er 368€ 374€
Kinder 0 bis 5 Jahre 327€ 332€
RL für Kinder von 6 bis unter 14 Jahre 237€ 240€
Kinder 14 bis unter 18 Jahre 291€ 296€
Volljährige Partner innerhalb einer Bedarfsgemeinschaft 311€ 316€

Damit ergibt sich für das Familienbeispiel von Rudi Wais:
Alleinstehende + Volljähriger Partner + Kind unter 5 + Kind unter 14 = 1.284€.
Zumindest in 2017. Für 2018 ergeben sich ein paar Euro mehr, nämlich 1.304€. Diese Unschärfe tut jedoch der Argumentation von Rudi Wais keinen Abbruch. Aus den Regelsätzen ist das zweite Beispiel von Rudi Wais nicht ersichtlich. Trotz dieser Unschärfe im Zahlenwerk, richtig ist:
"Große Sprünge können mit solchen Summen weder eine Friseuse noch die Familie in unserem Beispiel machen."
Für die beispielhafte Familie kann das auch nicht der Anspruch sein, denn:
"Das nach seinem Erfinder, dem früheren VW-Vorstand Peter Hartz, benannte System, soll existenzielle Not ja gerade verhindern, indem es ein Mindestmaß an Einkommen und sozialer Teilhabe ermöglicht, finanziert von der Solidargemeinschaft der Steuerzahler und für jeden von uns da, der seinen Lebenunterhalt [Fehler im Original, Anm.] nach dem Verlust eines Arbeitsplatzes oder einem anderen Schicksalsschlag nicht mehr selbst bestreiten kann."
Es soll das Mindestmaß an Einkommen gesichert werden. Finanziert wird die Leistung von der Solidargemeinschaft. Deshalb ist es wichtig, die Hilfe richtig zu dosieren. Rudi Wais schreibt dazu:
"Der Staat lässt seine Bürger nicht im Stich. Die Berechnung der Regelsätze, die zum Jahreswechsel um 1,7 Prozent angehoben wurden, folgt klaren, nachvollziehbaren und vom Verfassungsgericht gebilligten Kriterien, indem sie sich an der Entwicklung der Preise und der Nettolöhne orientiert."
Das ist nicht richtig, die Höhe der Regelsätze orientiert sich nicht an Preisen oder Löhnen. Ein Blick in das Gesetz lohnt hier und schafft Klarheit:
  • Regelsatz:
    § 20 SGB 2. Buch beschreibt den Regelsatz als zur "Sicherung des Lebensunterhalts [...] sowie persönliche[r] Bedürfnisse des täglichen Lebens" dienend.
  • Berechnung des Regelsatzes:
    § 5 ERGB beschreibt den Bedarf eines Erwachsenen, § 6 ERGB den von Kindern. Ausgangspunkt sind nach § 1 ERGB "Sonderauswertungen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 zur Ermittlung der durchschnittlichen Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte". Rudi Wais irrt also, da für die Berechnung nicht Preise und Löhne relevant sind, sondern Verbrauchsausgaben einkommensschwacher Haushalte.
  • Entwicklung des Regelsatzes:
    § 7 ERGB beschreibt unter Verweis auf § 28a SGB 12. Buch die Fortschreibung des Regelsatzes, wobei hier "die Preise aller regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen" und "die durchschnittliche Nettolohn- und -gehaltssumme je durchschnittlich beschäftigten Arbeitnehmer" verwendet werden. 
Die Entwicklung der Regelsätze, orientiert an allgemeinen Wirtschaftsdaten, steht weniger in der Kritik als die absolute Höhe. So ist für einen alleinstehenden Erwachsenen in § 5 ERGB für 2013 für die Ernährung bei monatlicher Bedarf von 137,66€ genannt, für Kleidung 34,60€, für Gesundheitspflege 15,00€ und für Freizeit und Kultur 37,88€. Fünf Jahre später sind die Beträge etwas höher, dennoch lässt sich zu Recht fragen, welche Form der Ernährung mit etwa 140€ im Monat möglich ist: Analogkäse und Fastfood oder eine ausgewogene Ernährung? Oder: Wieviel Kinderarbeit muss man akzeptieren, um sich für gut 30€ zu kleiden?

Armut

In den Aussagen von Jens Spahn ging es auch um Armut. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung nennt zwei Arten der Armut:
"Als absolute Armut ist dabei ein Zustand definiert, in dem sich ein Mensch die Befriedigung seiner Grundbedürfnisse nicht leisten kann. Relative Armut beschreibt Armut im Ver­hältnis zum jeweiligen Umfeld eines Menschen."
Als Operationalisierung der Armut gibt das Ministerium an:
"Bei der Messung von Armut haben sich verschiedene Ansätze durchgesetzt. Die Weltbank definiert Menschen als extrem arm, wenn sie weniger als 1,90 US-Dollar pro Tag zur Verfügung haben. Bei diesem Ansatz wird die Kaufkraft des US-Dollars in lokale Kaufkraft umgerechnet. Das heißt, dass extrem arme Menschen nicht in der Lage sind, sich täglich die Menge an Gütern zu kaufen, die in den USA 1,90 US-Dollar kosten würden. Die 1,90-Dollar-Grenze wird als finanzielles Minimum angesehen, das eine Person zum Überleben braucht."
Vergleicht man diese 1,90 US-Dollar mit dem Hartz IV-Regelsatz von über 400€, wird klar, dass extreme Armut, dass überlebensbedrohende Armut, mit Hartz IV nicht droht. Allerdings ist diese Armutsgrenze für Deutschland wenig hilfreich und wird in Diskussionen nicht verwendet. Hier spielt die relative Armut eine Rolle. Sie wird berechnet "vom Median des Netto-Äquivalenzeinkommens" und bezeichnet Menschen als armutsgefährdet, wenn sie weniger als 60% des Medians als Einkommen haben und als arm bei weniger als 40%.
Aus dieser relativen Berechnung von Armut wird auch klar, warum Sozialverbände eine steigende Armut beklagen. Wenn Löhne steigen, wandert der Median nach oben, der die Armutsgrenze definiert. Personen mit geringem Einkommen und kleinen (oder keinen) Einkommenszuwächsen bleiben zwar absolut stehen, im Vergleich zum Median rutschen sie ab. Bei einer geringen oder kaum vorhandenen Inflation bedeutet dies aber nicht, dass sie sich (viel) weniger leisten können. Es ist deshalb richtig, was Rudi Wais schreibt:
"Unterm Strich jedoch ist das System nicht so schlecht und ungerecht, wie es von Sozialverbänden, der Linkspartei oder den Gewerkschaften gerne gemacht wird."
Andererseits liegt die Grenze für Armut durchaus in der Nähe der Regelsätze für Hartz IV:

Statistik: Einkommensgrenzen zur Einstufung in Arm und Reich für Singles und Paare auf Basis des monatlichen Nettoeinkommens | Statista
Mehr Statistiken finden Sie bei Statista

Wobei bedacht werden muss, dass zu den Regelsätzen beispielsweise die Miete hinzukommt, so dass die Einkommensgrenzen in der Regel übersprungen werden können.
Jens Spahn meint:
"Mehr wäre immer besser"
Ja, schon. Doch Rudi Wais sieht eine Gefahr:
"Je großzügiger die staatliche Hilfe bemessen ist, umso geringer wird der Anreiz für ihre Bezieher, sich wieder eine Arbeit zu suchen."
Hier schnaubt er wieder, der alte Atem der frühen Industrialisierung. Arbeiter seien grundsätzlich faul, müssten aufs Schärfste überwacht werden, jeder Handgriff müsse vorgegeben werden, weil sie selbst nur nach Umgehungsmöglichkeiten suchen würden. Diese Sicht hat sich inzwischen in der modernen Sicht auf Arbeit, Management, Beruf verändert. Menschen wird zugetraut, etwas zu können und zu wollen, sogar für und nicht nur im Unternehmen zu arbeiten. Ja, es wird einzelne geben, die sich in einer Hartz-IV-Hängematte den Rest ihres Lebens vorstellen können. Die Frage ist jedoch, wie hoch deren Anteil ist und mit welchem Recht die in Sippenhaft genommen werden sollen, die diese Hängematte nicht anstreben.

Conclusio

Jens Spahn hatte gesagt:
"Damit hat jeder das, was er zum Leben braucht."
Rudi Wais hatte zu Beginn seines Leitartikels dies aufgegriffen und gefragt und geantwortet:
"Reicht Hartz IV zum Leben? So neoliberal-kühl und abgehoben der designierte Gesundheitsminister Jens Spahn auch klingt: In der Sache hat er recht."
Richtig, Hartz IV sichert jedem zu, was er zum Leben braucht. Besser wäre die ehrliche Aussage, Hartz IV sichert jedem das zu, was der Gesetzgeber, die Gerichte, die Gemeinschaft als zum Leben nötig erachten. Denn die Regelsätze orientieren sich ja nicht an dem, was jeder zum Leben braucht. Sie sind keine Einzelfallsätze, orientiert am persönlichen Bedarf, sondern sie zielen auf einen mehr oder weniger fiktiven Durchschnitt ab. Deshalb sollten die Aussagen von Jens Spahn und Rudi Wais korrigiert werden: Hartz IV sichert das Überleben. Doch reicht das zum Leben?

Montag, 12. März 2018

Seehofer rumpelt und stilzt

Die Augsburger Allgemeine berichtet in ihrer Printausgabe am 12.3. über die Ankündigungen des designierten Bundesinnenministers Horst Seehofer und die Reaktionen der Oppositionsparteien:


Seehofer wird zitiert mit Aussagen aus einem Interview in der Bild am Sonntag:
"Wir wollen ein weltoffenes und liberales Land bleiben. Aber wenn es um den Schutz der Bürger geht, brauchen wir einen starken Staat. Dafür werde ich sorgen."
Damit legt Seehofer die Messlatte an. Im Koalitionsvertrag heißt es in Zeile 5762:
"Ein handlungsfähiger und starker Staat für eine freie Gesellschaft"
Winfried Züfle hatte in einem Kommentar in der Augsburger Allgemeinen getitelt: "Terrorabwehr ja, weniger Bürgerrechte nein" und dabei aufgezeigt, zwischen welchen europäischen Werten abzuwägen ist. Wir dürfen gespannt sein, wie Horst Seehofer hierbei die Balance finden will. Denn, so wird er weiter zitiert:
"Es muss in ganz Deutschland Konsens herrschen, dass wir keine rechtsfreien Räume mehr dulden"
Wer wollte da widersprechen? Im Koalitionsvertrag heißt es:
"Wir werden den Rechtsstaat handlungsfähig erhalten."

Polizei und Rechtsstaat

Auch wenn Seehofer härter klingt als der Koalitionsvertrag, lassen sich beide Aussagen in Übereinstimmung bringen. Seehofers Rezept: "Stärkere Polizeipräsenz und mehr Videoüberwachung". Die Präsenz zu erhöhen ist sicher ein probates Mittel, das Sicherheitsempfinden der Bevölkerung zu verbessern. Allerdings weiß der Koalitionsvertrag in den Zeilen 5956ff:
"Die Bereitschaftspolizeien der Länder sowie des Bundes sind eine tragende Säule der inneren Sicherheit und sehen sich einer erhöhten Einsatzbelastung flächendeckend ausgesetzt."
Der Belastung soll mit neuen Polizeistellen (15.000 in Bund und Ländern) entgegengewirkt werden. Gut. Bei der Videoüberwachung hingegen ist Seehofer vielleicht schneller als der Koalitionsvertrag (Zeilen 5962ff):
"Deshalb wollen wir die Videoüberwachung an Brennpunkten einsetzen, sie verhältnismäßig und mit Augenmaß effektiv ausbauen und dabei auch technisch verbessern. Intelligente Videoüberwachung kann dabei eine Weiterentwicklung sein. Deswegen werden wir den laufenden Modellversuch abwarten, prüfen und bewerten."
Als intelligente Videoüberwachung wird eine Gesichts- und vielleicht eine Verhaltenserkennung bezeichnet. Immerhin, der Modellversuch soll abgewartet werden, bevor der Rechtsstaat liberale Bürgerrechte unter die Räder nimmt. Über eine erste Bewertung des Modellversuchs schreibt Netzpolitik.org:
"Was de Maizière einen sehr guten Wert nennt, ist eine zweifelhafte qualitative Einordnung, denn siebzig Prozent Erkennung bedeutet natürlich, dass dreißig Prozent der freiwilligen Tester von der Software in Südkreuz nicht erkannt wurden."
Zur Fehlerkennungsrate, als der Erkennung einer Person, die nicht gesucht wird, heißt es:
"Wenn in einem bestimmten Zeitraum zwanzigtausend Menschen passieren, würden knapp zweihundert Personen fälschlich identifiziert. Solche Fehlalarme können für die Betroffenen ernsthaft folgenreich sein."
Vor einer flächendeckenden Einführung warnt der Deutsche Richterbund. Eine anlasslose und flächendeckende Videoüberwachung und Gesichtserkennung dürfe nicht durchgeführt werden, weil die hierbei einhergehenden Grundrechtseingriffe zu schwer seien. Ein gezielter Einsatz an Kriminalitätsschwerpunkten sei jedoch möglich.
Erste Erkenntnisse aus dem Modellversuch liegen mithin vor. Sicherlich ist es noch zu früh für eine endgültige Abschätzung. Ich bin gespannt, ob Seehofer die nötige Geduld aufbringt oder Fakten schafft.

Migration und Rechtsstaat

Im Bericht heißt es:
"Im Umgang mit kriminellen Asylbewerbern kündigte Seehofer ein kompromissloses Vorgehen an: 'Wer straffällig geworden ist, hat in unserem Land nichts verloren und muss schnellstmöglich abgeschoben werden', betonte er."
Auch hierbei wird die Balance zwischen Härte und Rechtsstaatlichkeit interessant werden. Denn wenn ein ausländischer Täter bei gleicher Straftat und an sich gleicher Strafbemessung zusätzlich mit Abschiebung bestraft wird im Vergleich zu einem deutschen Täter, muss sich der Rechtsstaat die Frage stellen, welche Ungleichbehandlung akzeptabel ist und welche nicht mehr.
Im Koalitionsvertrag heißt es weniger kompromisslos (Zeile 5064f):
"Wer sein Aufenthaltsrecht dazu missbraucht, um Straftaten zu begehen, muss unser Land verlassen."
Der Missbrauch des Aufenthaltsrechts ist etwas anderes als (einmalige) Straffälligkeit. Missbrauch könnte an weitere Voraussetzungen geknüpft sein wie Vorsatz, wie mehrfache Straffälligkeit.
Wenn Seehofer kompromisslos handeln will, wird er die Zustimmung der AfD finden, die in ihrem Wahlprogramm die Forderung so beschreibt:
"Wir fordern daher:
- Erleichterung der Ausweisung, insbesondere die Wiedereinführung der zwingenden Ausweisung auch schon bei geringfügiger Kriminalität
- Verhängung der Ausweisung bereits durch die Strafgerichte"
Noch hat Seehofer nicht klargemacht, wen er in diesem Kontext als Straftäter sieht. Sind es Schwarzfahrer in der Straßenbahn, Apfeldiebe im Supermarkt, Vergewaltiger? Und warum nur kriminelle Asylbewerber? Was ist mit kriminellen Touristen? Was mit Inhabern von Doppelpässen? Die AfD ist hier sehr klar, sie kennt keine Einschränkung auf Asylbewerber:
"Der erhebliche Anteil von Ausländern gerade bei der Gewalt- und Drogenkriminalität führt derzeit viel zu selten zu ausländerrechtlichen Maßnahmen. Insbesondere können sich ausländische Kriminelle sehr häufig auf Abschiebungshindernisse berufen und sind auf diese Weise von Abschiebung verschont."
Sie will sogar in bestimmten Fällen eine erfolgte Einbürgerung zurücknehmen:
"In folgenden Fällen soll eine Rücknahme der Einbürgerung erfolgen:
- bei erheblicher Kriminalität innerhalb von zehn Jahren nach erfolgter Einbürgerung
- bei Mitwirkung in Terrororganisationen (z.B. IS)
- bei Zugehörigkeit zu kriminellen Clans und zwar auch dann, wenn die Rücknahme der Einbürgerung zur Staatenlosigkeit führt"

Conclusio

In Bayern ist bald Wahlkampf. Markus Söder wird Unterstützung aus Berlin brauchen. Seehofer wird sie geben. Der CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt erklärt in einem Interview mit der AZ, es wurde in "vergangenen Jahren [...] der AfD zu viel Raum im politischen Spektrum eingeräumt", es beherrsche "die Debatten ein linker Meinungsmainstream". Dennoch gäbe es "keinen Rechtsruck". Böse Zungen behaupten, die AfD fabuliert ebenfalls vom linken Meinungsmainstream und lehnt einen negativ konnotierten Rechts-Begriff für sich ab, sie sei nur nationalkonservativ.
Ich vermute, die Abwägung von Freiheitsrechten versus rechtsstaatlicher Härte wird mit einem Vorsprung für die Härte enden. Dafür wird die Angst vor der AfD sorgen und das Volksempfinden, auf das sich auch Dobrindt berufen hat.

Sonntag, 4. März 2018

Volksparteien - gebraucht oder doch nicht?

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen am 3.3. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Lage und Zukunftsaussichten der Volksparteien analysiert:


Walter Roller schreibt:
"Die große Volkspartei, die möglichst viele Teile und Interessengruppen der Gesellschaft unter ihrem Dach versammeln kann, ist Geschichte. Die klassischen Milieus erodieren – der SPD laufen die Arbeiter, der 'modernisierten' Union konservativ denkende Bürger davon. Die Individualisierung der Gesellschaft geht mit der Auflösung tradierter Parteienstrukturen einher und schwächt die Bindekraft von SPD und Union. Mit den 'Großen' geht es bergab, mit den kleinen, vielfach nur partiellen Interessen verpflichteten Parteien bergauf."
Postengeschacher und stellenweise Abgehobenheit könnte man noch hinzufügen. Für die SPD analysiert Walter Roller:
"Der Niedergang der SPD hat etliche hausgemachte Ursachen. Sie hat seit langem ein Führungsproblem und kein klares Profil. Sie setzt häufig auf falsche Themen und redet ihre Erfolge selber klein."
Und für die Union:
"Doch auch sie ist vor einem Absturz in die Regionen unterhalb der 30 Prozent nicht mehr gefeit. Was der SPD schon vor vielen Jahren durch Grüne und Linkspartei widerfahren ist, bekommt nun die Union an ihrem rechten Rand in Gestalt der konkurrierenden AfD zu spüren."
Eine Volkspartei in Sinne der deutschen Politik versucht, "möglichst viele Teile und Interessengruppen der Gesellschaft unter ihrem Dach [zu] versammeln". Entstanden sind sie im Nachkriegsdeutschland, Wikipedia nennt diese Beispiele:
"Beispiele hierfür sind in Deutschland die CDU/CSU, die sich von Anfang an als überkonfessionelle Volkspartei verstand (im Unterschied zum katholischen Zentrum), sowie die SPD, die sich durch das Godesberger Programm von der Interessenpartei der Arbeiterschaft zur Volkspartei wandelte, indem sie sich z. B. erstmals ausdrücklich auch an Christen und Kleinunternehmer wandte."
Das Konzept der Volkspartei ging auf. Zum Einen war die Auswahl an politischen Parteien eingeschränkt, zum Anderen trafen die Volksparteien mit ihren Angeboten ihre Zielgruppen. Das resultierte in Wahlergebnissen mit 40% bis sogar über 50% für die Volksparteien:


Der Niedergang der Volksparteien ist kein neues Phänomen. Die Grafik zeigt, wie seit den 1970er Jahren ein steter Abwärtstrend der Wahlergebnisse bei Bundestagswahlen zu erkennen ist. Im gleichen Zeitraum kam es zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung von über 90% auf unter 80%. Walter Roller nennt "Individualisierung der Gesellschaft" als einen wesentlichen Grund. Dem kann nicht widersprochen werden. Emanzipation von den Eltern, zunehmendes Selbstbewusstsein und damit einher gehend Erosion der "klassischen Milieus" führen zu einer größeren Meinungsvielfalt, zu einem höheren Anspruch an eine Interessensvertretung - wie sie Parteien sein sollen - und damit zu der grundsätzlichen Frage, wie eine Interessensvertretung, eine Volkspartei diese Vielfalt noch einfangen soll.
In der Marktforschung wurde vor Jahren schon das frühere Konzept der "Zielgruppe" aufgegeben. Im Laufe der Zeit konnten die Segmentierungen nach Alter, Familienstand, verfügbarem Haushaltseinkommen, geografischem Gebiet etc. immer weniger Erklärungen liefern. Deshalb wurde das Konzept der Zielgruppe abgelöst durch das Konzept der "Lebensstile". Andreas Steinle gibt in seinem Artikel "Die Zielgruppe ist tot – es lebe der Lebensstil" ein plakatives Beispiel:
"Sie sind im selben Jahr in England geboren, sind geschieden, haben wieder geheiratet. Ihre Kinder sind erwachsen und ihr Vermögen ist beträchtlich. Beide sind sehr populär. Die soziodemografischen Charakteristika könnten nicht ähnlicher sein. Sie bilden eine 'Zielgruppe' – und könnten dennoch nicht verschiedener sein. Es handelt sich um Prinz Charles und den Rockmusiker Ozzy Osbourne. Schwer vorstellbar, sie gemeinsam in einer Bar anzutreffen, wo sie über den letzten Urlaub reden."
Walter Roller stellt fest, dass die Milieus erodieren. Dazu erneut Andreas Steinle:
"Die Milieuzugehörigkeit verliert jedoch vor dem Hintergrund des Megatrends Individualisierung an Bedeutung. Was sagt die Kategorie Einkommen aus, wenn beispielsweise der 'Performer' (Sinus-Milieus) beschließt, für ein Jahr auszusteigen, um in Afrika ein Hilfsprojekt zu unterstützen oder ein Start-up zu gründen? Was bedeutet Bildung, wenn Schul- oder Studienabbrecher wie Mark Zuckerberg in kürzester Zeit Milliardäre werden können? Sicher sind solche exponierten Persönlichkeiten die Ausnahme, doch in abgeschwächter Form werden eben überall die Ausnahmen zur Regel."
Waren Milieus etwas, in das man hineingeboren wurde, sind Lebensstile etwas Selbstgewähltes. Sie sind deshalb potentiell vielfältiger. Sie sind im Zeitablauf variabel, die Stilzugehörigkeit Einzelner kann sich ändern, mitunter kurzfristig. Und: eine heute akzeptierte Einteilung unterschiedlicher Lebensstile kann morgen als nicht mehr zutreffend verworfen werden.
Schaut man sich die Äußerungen in der Politik an, herrscht noch die Idee der Milieus vor. Der sprichwörtliche "kleine Mann" ist Angestellter oder Arbeiter mit einem nicht hohen Einkommen. Er wohnt in durchschnittlichen Gegenden. Oder die Leistungsträger, eher Akademiker, meist selbständig oder Unternehmer. Wenn die Marktforschung von solchen Gruppierungen abgerückt ist, weil sie nicht mehr funktionierten, warum hält die Politik an ihnen fest?
Walter Roller bietet vier Punkte an, die die Volksparteien bearbeiten müssten, um "Stützpfeiler unserer Ordnung [zu] bleiben und mit ihrer noch immer breiten Verankerung im Volk mehr als andere zum (gefährdeten) Zusammenhalt der Gesellschaft" beizutragen:
"Erstens die Bereitschaft zur inhaltlichen und personellen Erneuerung, die für frischen Wind und klarere Konturen sorgt. Zweitens: Eine Politik des sozialen Ausgleichs, die nicht nur Not lindert, sondern Aufstiegschancen gewährleistet und auch die hart arbeitende Mitte im Auge hat. Drittens: die Wiederherstellung des Vertrauens in den Sicherheit bietenden Rechtsstaat. Viertens: eine Migrationspolitik mit Herz und Verstand, die das Land nicht überfordert und die Probleme konsequent anpackt. Im Umgang mit dieser zentralen Herausforderung wird sich das Schicksal der Volksparteien letztlich entscheiden."
Etwas umformuliert: Walter Roller glaubt, alter Wein in neuen Schläuchen (inhaltliche und personelle Erneuerung) würde reichen. Er glaubt weiterhin an das Konzept der Milieus ("die hart arbeitende Mitte"). Und er glaubt, die Lösung liege in einer konservativen Politikorientierung (Rechtsstaat, Migrationspolitik).
In allen vier Punkten liegt Walter Roller falsch. Probleme mit dem "Sicherheit bietenden Rechtsstaat" sowie mit der Migrationspolitik sind aktuelle Zeitphänomene. Sie weisen auf Problemkerne hin, ohne jedoch die Größe zu erreichen, die lautstark propagiert wird. Man dürfe Probleme nicht kleinreden. Man muss sie aber auch nicht großreden. In einer vielfältigen Parteienlandschaft wird es immer Parteien (am Rand) geben, die jedes dieser Probleme mit mehr Härte, mit mehr Durchgreifen angehen wollen. Wenn die Volksparteien hier ihre Rettung suchen, werden sie zum Nachläufer, der nach der zufällig gerade lautesten Pfeife tanzt. Selbstverständlich muss Politik aktuelle Probleme lösen und darf nicht abwarten, bis sie sich von selbst lösen. Doch das ist kein Garant für den Bestand der Volksparteien.
Eine personelle und inhaltliche Erneuerung muss ins Leere laufen, wenn die Basis der Wähler, die eine milieuorientierte Partei suchen, immer kleiner wird. Die Erneuerungen mögen zu einer zeitweiligen Beruhigung der Situation beitragen können. Sie würden jedoch am strukturellen Problem der Volksparteien nichts ändern. Die Historie zeigt ja: nicht nur der Zuspruch zu den Volksparteien nahm ab und kleine Parteien waren die Gewinner. Der Anteil derer, die keiner Partei ihre Wählerstimme geben wollten, stieg.
Die Diskussion um Volksparteien wird nicht umhin kommen, sich von historischen Wahlergebnissen abzukoppeln. Sie wird eine neue Zielgröße für den Wählerzuspruch in der Mitte definieren müssen. Man wird sehen, ob er bei 20% oder vielleicht 30% liegen wird. Die Volksparteien werden nicht umhin kommen, sich zu fragen, wen sie ansprechen möchten mit ihrer Politik und wie sie dieses "Wen" definieren wollen. Alte Paradigmen - wie das der Union, rechts von ihr dürfe niemand existieren - müssen hinterfragt und gegebenenfalls über Bord geworfen werden. Sonst ziehen sie diejenigen mit in die Tiefe, die nicht loslassen können. Politische Inhalte, wie Walter Roller sie fordert, werden keine langfristige Lösung für die aktuellen Probleme der Volksparteien sein. Sie mögen für eine in die "gute alte Zeit" zurückblickende konservative Partei attraktiv sein. Für eine moderne weniger. Für eine "klassische" SPD sind sie ohnehin nicht kompatibel. Walter Roller erweist sich mit seinem Leitartikel nicht als Fürsprecher der Volksparteien, sondern als Proponent einer Hinwendung zum (rechten) Konservativismus.