Sonntag, 7. Mai 2017

Politische Lehrstücke

In der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen hat Walter Roller einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Präsidentenwahl in Frankreich als ein Lehrstück über das Versagen der politischen Klasse beschreibt:


Ursache oder Wirkung?

Walter Roller schreibt:
"Frankreich ist ein tief gespaltenes Land, von ökonomischem Niedergang und hoher Arbeitslosigkeit geplagt, das die nötigen Reformen versäumt hat und heute der kranke Mann Europas ist. Der Aufstieg des ausländer- und islamfeindlichen Front National hat mit diesen Problemen, dem Versagen der Volksparteien, der Abgehobenheit der Eliten, der misslungenen Integration vieler muslimischer Einwanderer und den terroristischen Attacken zu tun. Es ist diese Gemengelage, die der Rechtspopulistin Millionen von Menschen in die Arme getrieben und auf der anderen Seite des Spektrums zugleich die extreme Linke gestärkt hat."
Walter Roller beschreibt den Zustand Frankreichs Wirtschaft recht zutreffend. Reformunwille oder -unfähigkeit haben zu Niedergang geführt, der Frankreich heute eine hohe Arbeitslosigkeit beschert. Allerdings ist die Frage, wie die misslungene Integration vieler muslimischer Einwanderer einzuordnen ist. Ist sie wirklich die Ursache für den Zuspruch des Front National? Oder ist der Zuspruch lediglich Ausfluss des Erklärungsmodells, das der FN anbietet?
In seinem Buch "Rückkehr nach Reims" stellt der Autor Didier Eribon einen anderen Wirkungszusammenhang her. Nach Eribon seien die Arbeiter früher den Linken, ja den Kommunisten gefolgt. Als es diesen zunehmend weniger gelang, den Arbeitern ein Klassenbewusstsein, mithin eine Identität zu vermitteln, seien die Arbeiter vom FN "abgeholt" worden. Der FN geriert sich als Versteher des kleinen Mannes. Marine Le Pen trat im Wahlkampf genau so auf, präsentierte sich als arbeiter- und volksnah. Sie umgab sich für einen Fototermin mit Arbeitern, während Macron mit Gewerkschaftern über die Arbeiter sprach. Ich halte diesen Erklärungsansatz für schlüssiger als den von Walter Roller. Auch in Deutschland haben Rechtspopulisten nicht erst seit 2015 Erfolg, ich erinnere an die Republikaner in den 1980er und -90er Jahren. Bereits damals mussten "die Ausländer" als Sündenböcke für alles mögliche herhalten.
Walter Roller schreibt weiter:
"Doch lehrt das französische Schauspiel, dass auch scheinbar gefestigte Demokratien unter populistischem Trommelfeuer in schwere Turbulenzen geraten können - wenn die Wirtschaft darniederliegt, viele Bürger und ganze Regionen 'abgehängt' sind, die Politik das Vertrauen der Menschen eingebüßt hat und die Sorgen vor einer kulturellen Überfremdung durch Massenzuwanderung nicht ernst genug genommen werden."
Er zeichnet hierbei mögliche Entwicklungen in Deutschland. Allerdings auch hier mit der Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die kulturelle Überfremdung ist ja nicht eine unmittelbar bevorstehende Entwicklung. Es ist trotz der vorhandenen Probleme wie mangelnder Integrations- und Aufnahmewille und der langen Zeit, die eine gelingende Integration benötigen wird, nicht zu befürchten, dass Deutschland nicht mehr Deutschland sei in den nächsten Jahren.

Zweifeln an der Demokratie

Doch zweifelsohne erleben wir ein Lehrstück. In einem am 5.5. abgedruckten Artikel wird über die Studie der TUI-Stiftung berichtet:


Im Artikel heißt es:
"Nur noch die Hälfte der jungen Menschen in den großen EU-Ländern hält die Demokratie für die beste Staatsform. [...] Die Europäische Union ist für die große Mehrheit der jungen Europäer kein historisches Friedensprojekt, sondern eine Gemeinschaft zur Durchsetzung ökonomischer Ziele. Nur 30 Prozent der Befragten in Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Polen und Griechenland sehen in ihr auch ein Bündnis mit gemeinsamen kulturellen Werten. 38 Prozent wünschen sich, dass Brüssel wieder mehr Macht an die nationalen Regierungen abgibt."
Die Einstellungen zur Demokratie waren nur ein Aspekt der Studie. Wesentlich mehr Raum haben Fragen zu Wertvorstellungen, Einfluss der EU etc. Die Studie selbst fasst auf fünf Seiten ihre Ergebnisse zusammen. Ein paar Auszüge:
"Im persönlichen Werteuniversum junger Europäer stehen Menschenrechte (54 Prozent), Frieden (53 Prozent) und Sicherheit (50 Prozent) an vorderster Stelle. [...] Toleranz (45 Prozent) und Freiheit des Einzelnen (40 Prozent) folgen auf den Rängen vier und fünf."
"Wenn junge Europäer nach den Werten gefragt werden, die sie der EU zuschreiben, dann steht Frieden im Vordergrund: 44 Prozent attribuieren dieses Merkmal zur EU. [...] Es folgen Menschenrechte (40 Prozent), Solidarität (33 Prozent), Demokratie (31 Prozent) und Völkerverständigung (30 Prozent)."
Menschenrechte stehen in diesem Werteuniversum weit vorne. Da verwundert es um so mehr, wie leicht es offenbar Populisten gelang, Flüchtlinge als Verursacher zu etablieren. Weiter heißt es in den Ergebnissen:
"Wenig überraschend sieht sich nach dem EU-Referendum und dem anstehenden EU-Austritt mehr als die Hälfte (55 Prozent) der jungen Briten ausschließlich als Bürger ihres Landes. Aber auch in Frankreich (47 Prozent), Polen (45 Prozent) und Italien (44 Prozent) sieht sich ein substantieller Teil der jungen Menschen ausschließlich als Bürger ihres Landes ohne europäische Identitätsanteile in ihr Selbstkonzept aufzunehmen."
Auf Seite 34 lautet die erste Zeile der Überschrift:
"Junge Europäer schreiben der EU keine christliche Kultur zu."
Die Überschrift der Seite 42 lautet:
"Die EU wird vorrangig als wirtschaftliches Bündnis wahrgenommen, weniger als Bündnis mit gemeinsamer Kultur."
Bei diesen Aussagen frage ich mich, wie weit es her ist mit der von der Politik beschworenen christlich-abendländischen Kultur, die es zu verteidigen gelte. Oder ist diese Diskrepanz bereits ein Ausfluss der von Walter Roller genannten "Abgehobenheit der Eliten"? Die Überschrift auf Seite 53 könnte letztere These stützen:
"Junge Europäer sind eher zufrieden mit der EU im Allgemeinen – und unzufrieden mit ihren Landesregierungen."
Auch hier verwundert es, wie leicht es manchen gelingt, die EU dennoch als Ursache vieler Übel zu positionieren.
Auf den Seiten 59 bis 64 finden sich weitere Hinweise:
"EU-Skeptiker fühlen sich (wirtschaftlich) stärker unter Druck als EU-Befürworter"
"EU-Skeptiker zeigen eine stärkere Orientierung hin zu traditionellen Werten und sind skeptischer gegenüber post-materiellen Werten als EU-Befürworter" (Anm.: gefragt wurde u.a. nach rechtlicher Gleichstellung Homosexueller, nach Asyl, nach Freizügigkeit)
"EU-Skeptiker fühlen sich durch Entwicklungen und Phänomene der Moderne stärker bedroht als EU-Befürworter"
"EU-Ablehner mit vergleichsweise negativem Zukunftsblick und stärkerer national-konservativen Wertorientierung"
"EU-Befürworter mit stärker post-materiellen Wertvorstellungen und höher Globalisierungs-Offenheit."
"EU-Befürworter mit stärkerer Demokratieüberzeugung und Chancenwahrnehmung bei Globalisierungsentwicklungen."
"Für EU-Ablehner sind Wohlstand und Stabilität wichtiger als für EU-Befürworter."
Die Studie beschreibt Zusammenhänge, die sich aus den Antworten der Befragten ablesen lassen. Sie gibt nicht Ursache-Wirkungsketten an. Beispielsweise sagt sie, dass an traditionellen Werten orientierte skeptischer gegenüber der EU sind. Sie sagt nicht, die Skepsis entstehe aus der Bedeutung der Tradition.
Zur im Titel des Artikels genannten Demokratie als Staatsform zeigt die Studie, dass in Frankreich 12%, in Deutschland 6% eine andere Staatsform bevorzugen. In beiden Ländern sind die Top 3, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge (vgl. Seite 71):
  • Regierung aus nicht gewählten Experten
  • Volksentscheide/direkte Demokratie
  • Person/Partei regiert ohne parlamentarische Kontrolle
Dies könnte Ausdruck sein einer Skepsis gegenüber Eliten nach dem Motto: "Die da oben diskutieren ewig und dann geht doch nix vorwärts." Dies könnte ein Hinweis sein, warum sich die Populisten als Anti-Elite erfolgreich präsentieren können. Zudem gelingt es ihnen, thematisch nahestehende Themen unterschiedlich darzustellen, wie die Gegenüberstellung von Globalisierung und Einwanderung/Migration zeigt:
"Trotz aller Kritik in der Vergangenheit sehen junge Europäer die Globalisierung und den grenzenlosen Verkehr von Personen und Güter eher als Chance denn als Bedrohung. Einzig in Griechenland wird die Globalisierung eher als Bedrohung (37 Prozent) denn als Chance (34 Prozent) eingestuft. Bei dem damit eng verknüpftem Thema Einwanderung und Migration fällt die Wahrnehmung gemischter aus. Durchaus überraschend wird dies einzig in Spanien und Großbritannien mit deutlicher Mehrheit als Chance gesehen. In Frankreich überwiegen die Jugendliche, die das Phänomen als Bedrohung wahrnehmen."

Conclusio

Walter Roller schreibt den Erfolg des Front National der wirtschaftlichen Situation in Frankreich sowie der Angst vor Überfremdung zu. Die TUI-Studie, in der Menschen zwischen 16 und 26 Jahren befragt wurden, zeigt Anhaltspunkte, dass es nicht allein äußere Umstände sind. Vieles hängt an der Wahrnehmung von Situationen wie:
  • Wie stark ist jemand an Traditionen orientiert?
  • Wie positiv oder negativ ist der Zukunftsblick?
  • Wie stark wird wirtschaftlicher Druck empfunden?
Walter Roller ist deshalb zu widersprechen bei seiner Behauptung, die misslungene Integration sei Ursache für den Erfolg der Rechtspopulisten. Den Rechtspopulisten ist es gelungen, sich einer Zielgruppe anzunehmen, die sich im politischen System nicht mehr ausreichend gehört fühlte. Es ist ihnen ferner gelungen, dieses Nicht-mehr-gehört-werden umzudeuten in eine neue Identität, eine neue Gemeinsamkeit. Abgrenzend ist es den Populisten gelungen, Migration als vermeintliche Ursache und Abschottung und Rückzug auf ein Früher-war-alles-besser als vermeintliche Lösung zu propagieren.
Zu Marine Le Pen schreibt Walter Roller:
"Sie ist ja schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen - als Profiteurin jenes Überdrusses, den eine selbstverliebte, reformunfähige, auf das Volk herabblickende Führungselite erzeugt hat."
Ja, es gibt Eliten, die sich für besser halten. Deshalb funktioniert auch das Argument der Abgehobenheit der Eliten, die nicht mehr die Stimme des Volkes hören würden. Andererseits sind Parlamentarier eine gewählte Elite, die mit der Lösung von Problemen betraut wurde. In Teilen ist es ihnen nicht gelungen, die richtigen Probleme zu lösen, die Lösungen als gute Lösungen darzustellen. Manche schlagen aus ihrem Status persönliche Verteile bis hin zur Bereicherung. Eine "Gemengelage" ist es. Allerdings halte ich die Migrationsprobleme nicht für ursächlich für das Erstarken der Populisten. Sie sind jedoch Öl in diverse Feuer der Populisten.

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