Sonntag, 23. Oktober 2016

Walter Rollers direktdemokratische Fragen

In der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen vom 22.10. hat Walter Roller einen Leitartikel zu Volksabstimmungen auf Bundesebene veröffentlicht:


Walter Roller beschreibt die Situation korrekt:
"Das Volk ist schlecht auf die Politiker zu sprechen. Regierungen und Abgeordnete sind abgehoben, entscheiden über die Köpfe der Menschen hinweg und lassen die Bürger nicht wirklich mitreden: So lauten die gängigen Vorwürfe, die sich im Vertrauensverlust der politischen Klasse widerspiegeln. [...] Doch sie haben noch keine Mittel gefunden, um ihren Ruf wieder aufzupolieren und den Bürger das Gefühl zu nehmen, dass 'die da oben' vor allem an sich und an ihre Parteien denken."
Als gängige Antwort wird die Forderung nach mehr direkter Demokratie gegeben. Walter Roller listet einen guten Überblick über die Einwände auf:
"Komplexe Sachverhalte wie die Euro-, Renten- oder Flüchtlingspolitik lassen sich schwer auf ein simples Ja oder Nein reduzieren. Die Volksabstimmung bietet Populisten, Interessengruppen und Verhinderern ein ideales Instrument, um ihren Willen durchzusetzen. Die Abwägung zwischen Partikularinteressen und dem Wohl des Ganzen, die in Parlamenten erfolgt, bleibt auf der Strecke. Einen über jeden Streit der Interessen erhabenen Volkswillen gibt es ja nicht. Auch ist dem Volk nicht nach ständigen Abstimmungen zumute, wie es der idealisierte Mythos von der direkten Demokratie suggeriert.
Walter Roller bietet Aspekte für den Lösungsweg:
"Natürlich muss über Quoten und mögliche Themen geredet werden. Wer Volksentscheide will, darf das Volk allerdings nicht mit harmlosen Fragen abspeisen [...] Sinnvoll sind Volksentscheide nur, wenn auch Fragen von europäischer und nationaler Tragweite auf den Tisch kommen oder die Chance besteht, ein Gesetz zu kippen."
Walter Roller meint, dass "sich erst im Streit um das 'Wie' von Volksentscheiden erweisen [wird], wie ernst es die Parteien mit der direkten Volksbefragung meinen." Hier ist einzuhaken und dem zu Recht aufgeworfenen "Wie" mehr Präzision zu geben.

Wie durchführen: Volksbefragung oder Volksentscheid?

Walter Roller schreibt durchgängig von Entscheiden, am Schluss von Befragung. Eine Volksbefragung ist nur eine Abfrage der Meinung des Volkes, ein Volksentscheid hingegen ist eine tatsächliche Annahme oder Ablehnung der zur Wahl gestellten Entscheidung. Wenn es nicht darum geht, das Volk mit harmlosen Fragen abzuspeisen, können nur Entscheide das Mittel der Wahl sein. Für eine Abfrage der Meinung würden es auch Instrumente der Marktforschung oder der Demoskopie tun, die mit wesentlich weniger Aufwand zu realisieren sind.

Wie das Volk definieren?

Wer soll an einem solchen Entscheid teilnehmen dürfen? Die Wahlberechtigten? Hier wird es schnell widersprüchlich. Auf Gemeindeebene sind mehr Personen wahlberechtigt als auf Bundesebene. So definiert §12 BWahlG, dass das Wahlrecht allen Deutschen über 18 Jahren mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt zusteht, sofern es ihnen nicht aberkannt wurde. Bei einer Europawahl hingegen wären auch EU-Ausländer an ihrem Wohnsitzland wahlberechtigt. Und auf Gemeindeebene sind ebenfalls EU-Bürger wahlberechtigt, wie Art. 1 GLKrWG beschreibt. Wenn es um "Fragen von europäischer und nationaler Tragweite" geht, ist die Gruppe der Wahlberechtigten einer Bundestagswahl zu eng gefasst. EU-Mitbürger dürfen nicht ausgeschlossen werden.

Wie die Themen bestimmen?

Es dürfen keine harmlosen Fragen sein, es müssen Fragen mit Tragweite sein. Andererseits muss eine Abwägung von Partikular- mit Gemeinwohlinteressen erfolgen. Das ist eine spannende Frage, denn sie steht im Zusammenhang mit der Definition des Volkes. Leicht lassen sich Themen finden, bei denen eine relativ kleine Gruppe von Menschen betroffen wäre, die aber nicht oder nur teilweise mit abstimmen dürfte. Ein plastischen Beispiel wäre die Frage nach einem Minarettverbot. Es dürfte nur ein Teil der betroffenen abstimmen, nach dem BWahlG nur Muslime mit deutscher Staatsangehörigkeit. Andere Muslime nicht, obwohl sie von einem Minarettverbot ebenso betroffen wären. Sind solche Themen dann auszuschließen und falls Ja, wie kann erreicht werden, dass nicht nur harmlose Fragen übrig bleiben? Hier kommt ein Volksentscheid schnell in den Ruch, diskriminierend zu sein, wenn er systematisch Gruppen ausschließt von Entscheidungen, die deren Lebenswirklichkeit unmittelbar betreffen. Art. 14 der Menschenrechtskonvention verbietet jedoch eine Diskriminierung:
"Der Genuß der in dieser Konvention anerkannten Rechte und Freiheiten ist ohne Diskriminierung insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der Sprache, der Religion, der politischen oder sonstigen Anschauung, der nationalen oder sozialen Herkunft, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt oder eines sonstigen Status zu gewährleisten."
Außerdem würden alle Fragen auszuscheiden sein, die an den Grundfesten des Grundgesetzes rütteln würden. Ferner muss sich der Aufwand für einen Entscheid in Relation zur Fragestellung lohnen.

Wie über die Frage aufklären?

Walter Roller nennt die Gefährder: Populisten, Interessengruppen, Verhinderer. Art. 21 GG definiert, dass Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken. So würde es auch vor Volksentscheiden zu umfangreichen Parteiaktivitäten kommen. Nur würden diese Parteien im Sinne ihrer eigenen Position tätig werden - dies ist ihnen nicht vorzuwerfen. Wer der SPD nahesteht, wird deren Ausführungen aufnehmen, wer der Union nahesteht, eben deren. Damit besteht die Gefahr, als Bürger in einer Filterblase zu sitzen und sich einseitig zu informieren.
Manche Interessengruppen sind offensiver, wenn sie ihre Anliegen vorbringen. Sie agieren vielleicht weniger sachlich, mehr emotional und erreichen dadurch ihre Zielgruppe besser. Sie agieren auf den verfügbaren Kanälen wirkungsstärker. Sie haben Kanäle wie soziale Medien, die bestimmte Wählergruppen leicht und schnell erreichen, an denen bestimmte Wählergruppen jedoch weniger partizipieren. Die Frage ist also, wie alle für die Entscheidungen notwendigen Informationen alle die erreichen können, die abstimmen sollen.
Es ist zu fragen, wie die Richtigkeit der Information gesichert werden kann. Der Brexit hat gezeigt, dass sich abseits von Wahrheiten und Richtigkeiten Menschen zu einem Kreuz an einer bestimmten Stelle bewegen lassen. Inzwischen ist der Begriff der "postfaktischen Politik" etabliert.
Und schließlich ist zu fragen, wie eine Information über einen komplexen Sachverhalt überhaupt aussehen kann. So berichtete der Spiegel über eine Umfrage zu TTIP in 2016, nach der nur etwa 17% der Bürger TTIP befürworten und etwa 50% weder dafür noch dagegen sind. Zudem fühlen sich 30% nicht ausreichend informiert. Nur wie könnte eine Information hier aussehen, um einen Volksentscheid über die Annahme oder Ablehnung von TTIP zu erreichen? Vor Chlorhühnern warnen? Darauf hinweisen, dass keiner Chlorhühner kaufen muss? Jedes einzelne Thema des Vertragswerkes beschreiben? Den Vertrag selbst zugänglich machen?

Wie Entscheidungsqualität sicherstellen?

Hierbei geht es abseits der notwendigen Informationen darum, das Kreuzchen auf dem Stimmzettel an - bezogen auf die Fragestellung - der richtigen Stelle zu machen. Es muss also ausgeschlossen werden, dass der Stimmzettel zu einem Strafzettel wird für eine bestimmte Partei, Person oder sonstige Gruppierung. Die AfD wird ja angeblich nicht wegen ihrer politischen Inhalte gewählt, sondern aus Protest gegen die sog. etablierten Parteien. Was bei einer Wahl zu einem Abgeordnetenhaus im politischen Alltag durch die Parlamentsarbeit weniger dramatisch ist, ist bei einem Volksentscheid mitunter direkt dramatisch. Eine falsche, eine ungewollte, eine so-habe-ich-das-nicht-gemeint-Entscheidung, eine Entscheidung aus Frust ist unmittelbar wirksam und wird nicht durch nachgelagerte Diskussionen zu einem vernünftigen Ergebnis gebracht.
Zur Entscheidungsqualität gehören Quoten, Mindestbeteiligungen etc. Sonst besteht die Gefahr, dass - wie in Kolumbien - eine Entscheidung von einem guten Drittel der Wahlberechtigten getroffen wird, wie Anfang Oktober beispielsweise die Zeit berichtet hat.

Wie den Ruf der politischen Eliten aufpolieren?

Unklar ist, wie der Ruf der politischen Eliten mit Volksentscheiden aufpoliert werden kann. Denn der Ruf wird ja nicht besser, wenn den Eliten manche Entscheidungen aus der Hand genommen werden. Im Gegenteil: Wenn die da oben so schlecht sind, dann muss es das Volk selbst richten. Damit würde der schlechte Eindruck derer da oben jedoch nicht verändert. Es gäbe vielleicht ein kurzes Aufflackern in dem Moment, wo sich die Eliten zu Volksentscheiden bekennen. Walter Roller schreibt, dass am Streit um das "Wie" die Ernsthaftigkeit der Parteien  erkannt werden könne. Wenn die Politik glaubt, sie könne mit der Einführung von Volksentscheiden vermeiden, ihre Politik besser zu erklären, sie könne weiterhin teilweise in einem Elfenbeinturm leben, sie könne sich weiterhin dem Verdacht von Lobby-Nähe aussetzen, dann irrt sie.

Fazit

Solange die Fragen des "Wie" nicht vollständig gelöst sind, sollte sich die Politik hüten, den Forderungen nach mehr direkter Demokratie nachzugeben. Volksentscheide sollen die Qualität der gefühlten Politik erhöhen. Dies darf jedoch nicht zu Lasten der Qualität der Politik gehen bzw. zu Lasten der Güte, der Nachhaltigkeit, der Gerechtigkeit von Entscheidungen. Sonst droht die Diktatur der Massen.

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