Mittwoch, 27. Juli 2016

Demokratie trotz Hysterie

Die Augsburger Allgemeine berichtet am 27.07. über die Klausurtagung der CSU in St. Quirin:



Die AZ schreibt:
"So soll auf der einen Seite deutlich mehr Geld für zusätzliches Personal und eine bessere Sicherheitsausstattung der Polizei bereitgestellt werden."
Der Bayerische Rundfunk konkretisiert:
"Innenminister Joachim Herrmann (CSU) forderte bereits deutlich mehr Personal. So sollen neben den 300 neuen Polizeistellen, die nach den Anschlägen in Paris beschlossen wurden, noch einmal mehrere Hundert hinzukommen. Die Rede ist von mindestens 500 zusätzlichen Polizei- und 2.000 neuen Ausbildungsstellen. Auch der Verfassungsschutz soll aufgestockt werden. Der Innenminister forderte außerdem mehr Schutzkleidung mit ballistischen Helmen und einer Panzerung, die auch Maschinengewehren standhält, sowie Panzerfahrzeuge."
Es ist richtig, die Sicherheitsbehörden ausreichend zu dimensionieren und ihnen auch die notwendige Ausrüstung zur Verfügung zu stellen. Wenn mit schwer bewaffneten Aggressoren zu rechnen ist, ist eine martialisch anmutende Ausrüstung notwendig. Andererseits: Sind das nicht die Polizeistellen, die vor Jahren von der CSU eingespart wurden?
Nach dem Amoklauf in München hat Bundesinnenminister de Maizière zu "Achtsamkeit und Besonnenheit aufgerufen", wie beispielsweise Wallstreet:online berichtet. Gegen diesen richtigen Aufruf richtet sich Seehofer, wie die AZ schreibt:
"Besonnenheit und Ruhe seien in schwierigen Situationen zwar wichtig. 'Mit Zuversicht allein stellen sie aber den inneren Frieden nicht her', warnte er. 'Die Menschen sind aufgewühlt und brauchen eine befriedigende Antwort der Politik.'"
Aus der CSU kommen weiterreichende Forderungen:
"Dabei dürfe auch 'eine Abschiebung in Krisengebiete kein Tabu sein', findet Herrmann. 'Es ist den Menschen nicht zuzumuten, mit ihren Steuergeldern solchen Straftätern den Aufenthalt zu finanzieren.'"
"Justizminister Bausback verlangte vom Bund zudem eine Verlängerung der Vorratsdatenspeicherung sowie eine verschärfte Verfolgung islamistischer Propaganda im Internet. Grundsätzlich müsse Kriminalität im Internet härter verfolgt werden, findet Bausback."
"Herrmann erneuerte auch die Forderung, unklare Identitäten von Flüchtlingen so schnell wie möglich zu klären. Er bekräftigte zudem seine Forderung, die Identität von Flüchtlingen künftig bereits an der Grenze festzustellen. Es sei schließlich geltendes Recht, dass der Asylbewerber seine Identität nachzuweisen habe, und nicht der Staat, erregte sich der Politiker. 'Wenn die Identität unklar bleibt, dann gibt es kein Asylrecht.'"
Als ob das Recht auf Asyl von der Vorlage eines Passes abhängig wäre. §13 III AslyG macht explizit eine Aussage zu Ausländern ohne erforderliche Einreisepapiere und wie sie Asyl beantragen können. Wo Handeln behauptet wird, wird an den Symptomen geschraubt. Abschiebedrohung für Selbstmordattentäter? Das bringt echt was. Islamistische Propaganda verfolgen? Ja, sicher, aber nur mit Löscherei von Videos ist man immer langsamer als die Veröffentlicher. Warum fordert die CSU nicht etwas, um Menschen im Selbstwert zu stabilisieren, damit sie nicht so anfällig sind für die Propaganda? Da klingt der Härte-Modus durch, der keine echte Lösung ist. Und leicht schimmert durch, was die Zeit als Zitat von Victor Orbán bringt:
"Jeder einzelne Migrant stellt eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit und ein Terrorrisiko dar."
Unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung gerät in Gefahr, was als demokratische Kultur hochgehalten werden sollte. Wenn Seehofer auf das Volk hört und seine Forderungen stellt, ist das demokratisch. Wenn Erdogan die Todesstrafe einführen will, weil es das Volk so wolle, ist es diktatorisch. Orban wähnt sich demokratisch, wenn er im Oktober fragen lässt:
"Wollen Sie, dass die Europäische Union ohne die Zustimmung des ungarischen Parlaments eine verpflichtende Ansiedlung nicht ungarischer Staatsbürger in Ungarn anordnen kann?"
Es wird Zeit, eine Debatte zu führen, was die demokratischen Werte sind, auf die die Europäer und die Deutschen so stolz sind. Nicht abstrakt, sondern genau. Wir halten das Demonstrationsrecht hoch und für eine notwendige Voraussetzung für Demokratie. Andreas Scheuer hingegen sagt im Spiegel Online zu den Pro-Erdogan-Demos:
"'Türkische Innenpolitik hat auf deutschem Boden nichts zu suchen', sagte CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer SPIEGEL ONLINE. 'Wer sich in der türkischen Innenpolitik engagieren will, kann gerne unser Land verlassen und zurück in die Türkei gehen.'"
Will er nur die Demos zulassen, die seiner Geisteshaltung zusprechen? Ein waschechter Demokrat. Warum ist er nicht gegen Demos, die sich beispielsweise gegen den Umgang der chinesischen Regierung mit Menschenrechtlern wenden? Das ist auch Innenpolitik. Widersprüchlich. Was genau sind die demokratischen Werte, auf die Europa stolz ist?

Samstag, 23. Juli 2016

Der Schock setzt sich

Jürgen Marks hat in der Augsburger Allgemeinen vom 23.7. einen Leitartikel veröffentlicht zum Attentat in München:


Ein wohltuend umsichtiger Leitartikel, der die Gefühlslage vieler treffend beschreibt:
"München, Würzburg und zuvor Nizza führen uns vor Augen: Jeder kann Opfer eines Terroranschlags werden. Immer und überall. Und das verbreitet das Gefühl von Machtlosigkeit und Angst. Das Gefühl der Sicherheit ist für viele Menschen dahin."
Auch das Besondere am "neuen Style" von Attentaten beschreibt Jürgen Marks im Zusammenhang mit der schwindenden Sicherheit:
"Früher brauchte der Terror eine Organisation. Die Mörder schmiedeten sorgfältig Pläne. Wer ein Attentat beabsichtigte, musste einen Aufwand betreiben."
Die Methode hat sich geändert:
"Das Kalifat radikalisiert Männer in aller Welt mit Hassbotschaften und Lügen, die es über das Internet verbreitet. Sogenannte einsame Wölfe können überall vor Computern sitzen und in die Falle der skrupellosen Terror-Anstifter tappen.
Unter ihrer schwarzen Fahne führen die Fundamentalisten einen Cyber-Dschihad, der überall zuschlagen kann, wenn er zufällig auf einen Menschen trifft, der das Gleichgewicht verloren hat. Das kann ein tunesischer Lieferfahrer in Nizza sein oder ein afghanischer Bäckerpraktikant in Ochsenfurt. Statt aufwendiger Planung brauchen sie nicht mehr als ein Messer, ein Beil oder einen gemieteten Lastwagen."
Es ist zu erwarten, dass mit steigendem Druck auf den IS in seinem "Staatsgebiet" die Aktivitäten außerhalb davon zunehmen werden. Wenn man sieht, wie schnell sich manche radikalisieren können, zeigt dies, wie gut der IS die Sprache der "einsamen Wölfe" spricht. Er besetzt die Themen und trifft den Ton, der in offene Ohren rinnt. Jürgen Marks fasst die Wirkung zusammen:
"Diese islamistischen Amokläufer sind kaum zu stoppen. Gegen sie hilft in unserer freien Gesellschaft keine Flüchtlings-Obergrenze, keine noch so genaue Registrierung an den Grenzen. Theoretisch kann sich jeder Biedermann in wenigen Tagen radikalisieren und zuschlagen. So bitter es ist: Gegen diese Bedrohung haben wir derzeit kein Mittel."
Ja. So ist es. Da hilft kein Grenzen-Dicht-Ruf, wie ihn die AfD wiederholt ausstößt. Eine genaue Registrierung an den Grenzen kann den Verfahrensweg vereinfachen, schützt aber genauso wenig. Brüssel hat gezeigt, dass Attentäter nicht einmal selbst eingewandert sein müssen, um in die IS-Falle zu tappen. Birgit Holzer beschrieb in ihrem Leitartikel die Empfänglichen als "nicht in der Gesellschaft angekommen". Jürgen Marks und Birgit Holzer zeigen, dass es mit Sicherheitsapparatur keine Sicherheit geben kann. Recht haben sie. Es wird kaum gelingen, ein Feuer zu löschen, wenn ständig Benzin zufließt.
Auch wenn wir derzeit kein Mittel haben, die Bedrohung durch den Terror sicher zu bekämpfen, lohnt ein Blick auf die Mechanismen, die zur Radikalisierung führen. Die folgende Beschreibung stellt keinen Vergleich an zwischen dem Terror und Populisten, sie zeigt lediglich Parallelitäten in den Mechanismen.
  1. Beide beschreiben ein Feindbild, auf das sich die Anhänger einigen können. Beim IS sind es Ungläubige, selbst wenn diese auch Moslems sind. Bei der AfD sind es Ausländer, bei Donald Trump Latinos, Mexikaner etc. und bei Erdogan die Kurden.
  2. Beide definieren sich selbst in der Abgrenzung zum Feindbild. Beim IS sind es die wahren Gläubigen, bei der AfD die Deutschen, Donald Trump weiß es selbst nicht so genau und Erdogan nennt die wahren Türken. Dabei spielt es keine Rolle, dass die eigene Gruppe nicht scharf abgegrenzt werden kann an Hand echter Kriterien. Es reicht, wenn die eigene Gruppe "gefühlt" werden kann.
  3. Beide behaupten, die eigene Gruppe dürfe bestimmte Ansprüche haben und diese Ansprüche würden von den Feinden abgelehnt bzw. deren Befriedigung bekämpft. Es kann sogar reichen, dass die eigene Gruppe nichts verliert, sondern nur nicht mehr von etwas Zustehendem bekommt, wie die AfD mit Verweis auf die Zuwendungen an Asylbewerber behauptet. Der IS behauptet, der (amerikanische/westliche) Imperialismus wolle den Islam zerstören. Bei Donald Trump wird Amerika zerstört, bei Erdogan die Türkei.
Wird der Feind als ausreichend böse, die eigene Gruppe als ausreichend beeinträchtigt und die Beeinträchtigung als ausreichend schwerwiegend dargestellt, kann dies zu Handlungen führen: Trump oder AfD wählen, gegen Kurden demonstrieren oder sie willkürlichen Gerichtsverfahren zuführen, Feinde töten.
Daraus lässt sich ein mögliches Mittel ableiten: Es müsste der Beweis erbracht werden, dass die unter 3. genannte Gefährdung der eigenen Gruppe nicht das Ziel der Feinde ist. Das wird nur niemand glauben wollen. Welcher IS-Anhänger hört schon die Beteuerungen der Ungläubigen, welcher überzeugte AfD-Wähler glaubt schon den Beweisen in Fakten-Checks, die AfD-Aussagen widersprechen. Wie lange sich ein solcher Überzeugungs-, nein Annäherungsprozess hinziehen kann, zeigt beispielsweise der Konflikt in Nordirland. Wie wackelig eine Annäherung sein kann, zeigt das Aufkeimen des Kalten Krieges mit Russland. Deshalb können wir nur versuchen, es im Rahmen unseres freiheitlichen Systems möglichst schwer zu machen, Attentate zu realisieren. Dennoch bleiben die Worte von Jürgen Marks gültig:
"So bitter es ist: Gegen diese Bedrohung haben wir derzeit kein Mittel."

Sonntag, 17. Juli 2016

Härte reicht nicht

Birgit Holzer hat in der Augsburger Allgemeinen am 16.7. einen Leitartikel veröffentlicht zum Terroranschlag in Nizza:


Sie fordert zu Recht einen schonungslosen "Blick auf die Hintergründe [...]. Eine Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen alleine reicht nicht".
Birgit Holzer schreibt:
"Mit der Strandpromenade von Nizza, einem der glamourösesten Orte Frankreichs, suchte sich der Attentäter am Donnerstag erneut ein symbolträchtiges Ziel aus. Kinder, Frauen, Männer – wer seine Opfer waren, muss ihm in seiner totalen Verblendung gleichgültig gewesen sein. Aber möglichst viele wollte er treffen. Auch den 14. Juli als Datum wählte er nicht zufällig: Frankreichs Nationalfeiertag, an dem das Land mit pompösen Paraden sich selbst, seine Geschichte und prunkvolle Armee feiert."
Der Attentäter wollte Schaden anrichten, großen Schaden. Er wählte ein symbolträchtiges Datum. Wie die Attentate von Brüssel zeigen, ist der Schädigungswille größer als der Wille zur Symbolik: Für Frankreich geplante Attentate wurden nach Belgien "umgelenkt".
Birgit Holzer weist diejenigen in die Schranken, die glauben, mir schierer Dosis des Sicherheitsapparates Sicherheit garantieren zu können:
"Nur die Sicherheitsmaßnahmen immer noch zu verstärken, weitere Soldaten und Polizisten zu mobilisieren und die geheimdienstliche Überwachung auszubauen, wird nicht reichen, um künftige Gräueltaten zu verhindern.
Seit Monaten herrscht der Ausnahmezustand, die Sicherheitskräfte erreichen längst ihr Limit. Präsident und Premierminister treten erneut standfest und entschlossen auf, um den verunsicherten Menschen zu vermitteln, dass dieser Krieg, wie sie ihn nennen, gewonnen wird. Doch was Frankreich braucht, ist keine martialische Rhetorik, sondern Geschlossenheit."
Denn worauf sollten sich die Sicherheitskräfte vorbereiten? So schreibt DEBKAfile, das auf Sicherheits- und Geheimdienstnachrichten spezialisiert ist:
"[..] it is clear that the large truck used to run down dozens of people on the promenade was carefully prepared for the attack, debkafile's counterterrorism sources report.
The windshield and apparently the side windows of the cab were made of bulletproof glass. In other words, the driver carried out the attack while sitting in the protected cab that he had built for himself. It was the first time for this method to be used by terrorists."
Zum anderen reicht es nicht, sich auf sogenannte islamistische Gefährder zu konzentrieren. Burkhard Körner, seit 2008 Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz, sagte in einem Interview, das die Augsburger Allgemeine ebenfalls am 16.7. druckte:
"Ein Beispiel sind die Gewalttaten gegen Flüchtlinge und Asylbewerberheime. In Bayern kam ein Großteil der Täter nicht aus dem klassischen rechtsextremen Spektrum. Die meisten waren Nachbarn oder aber gewalttätige Personen, die bisher mit Rechtsextremismus nichts zu tun hatten, etwa Hooligans."
Es handelt sich offenbar nicht nur um Personen, mit einer längeren extremistischen Biografie. Ebenso wenig können alle Attentäter, die islamistisch geprägte Verbrechen begehen, einfach als Islamisten gestempelt werden. In beiden Fällen hat ein Prozess aus bisher unauffälligen Personen Gewalttäter gemacht. Birgit Holzer zeigt auf, wo für Frankreich ein gewichtiger Teil der Lösung zu suchen ist:
"Viele Menschen mit Wurzeln in Nord- und Westafrika sind nicht in der Gesellschaft angekommen, gelten höchstens als Franzosen zweiter Klasse, obwohl sie oft hier geboren wurden. Ausgegrenzt in den verwahrlosten Vorstädten entwickeln viele von ihnen einen explosiven Hass gegen Frankreich, wo der Rechtsnationalismus stetig ansteigt. Ohne Perspektive und mit gebrochener Identität scheinen sie besonders anfällig für extremistische Botschaften."
Wieviel Frust und Perspektivlosigkeit muss sich anhäufen, bis jemand über 80 Menschen totfährt? Es macht keinerlei Sinn, solche "Karrieren" gedeihen zu lassen, um dann einen Amok-LKW beim Attentat zu stoppen.
Aus dem Qualitätsmanagement in Unternehmen kennt man Korrektur- und Vorbeugemaßnahmen: Korrekturen beheben einen akuten Fehler, Vorbeugemaßnahmen verhindern ein erneutes Auftreten des Fehlers. Der Ruf nach mehr Sicherheitsapparaturen ist nur die Korrektur, um zu verhindern, dass ein geplantes Attentat realisiert wird. Nötig - und nicht kurzfristig zum Erfolg führend - sind Vorbeugemaßnahmen. Würde es am Beispiel Frankreichs gelingen, die Menschen mit Wurzeln in Nord- und Westafrika ankommen zu lassen, sie sich als Franzosen erster Klasse fühlen zu lassen, es wäre nicht so leicht, sie für extremistische Botschaften zu gewinnen. Die Hemmschwelle zur Tötung wäre höher, weil es "die eigenen Leute" träfe, nicht unwerte Wesen.
Derzeit entsteht ein Kreislauf: Die Gewalt der Ausgeschlossenen führt dazu, dass sie als "die Anderen" in einen Topf geworfen werden, zum Beispiel nach ihrer Herkunft und so ganze Gruppen zum Sündenbock werden. Der Graben vertieft sich, jeder fühlt sich mehr und mehr legitimiert, "Wir" und "die Anderen" zu separieren. Das ist keine Lösung, wie ein Blick in die Türkei (Kurden), Israel (Palästinenser), Nordirland etc. zeigt. Erst wenn eine Partei mutig genug ist, sich in die vermeintlich schwächere, weil gewaltlose Position zu begeben, leuchtet das Licht der Hoffnung am Horizont.

Donnerstag, 7. Juli 2016

Walter Boris Nigel Roller

Nicht dass Walter Roller, Boris Johnson und Michael Farage sich nun zu einem Wesen vereinigt hätten. Aber sie teilen einen gewissen Arbeitsstil. Walter Roller hat in der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen am 7.7. einen Leitartikel veröffentlicht:


Zu dem Leitartikel kann viel gesagt werden, zu Nationalstaaten beispielsweise, zur Forderung nach Abbau von Jugendarbeitslosigkeit in Südeuropa bei gleichzeitiger Forderung nach möglichst strikter Budgetdisziplin - merkt Walter Roller hier seine Widersprüchlichkeit? -, Vertiefung und Ausbau der EU. Ich will mich auf eine Passage konzentrieren. Walter Roller schreibt:
"Es war der erklärte Wille der Eliten Europas, die Bande zwischen den Ländern immer enger zu knüpfen und eines fernen Tages eine Art von europäischem Superstaat zu gründen. Die Rechnung wurde ohne den Wirt gemacht, die Umsetzung des kühnen Plans von oben herab und ohne hinreichende demokratische Beteiligung verordnet."
Die Vokabel "Superstaat" kennt auch die AfD und schreibt in einer Pressemitteilung am 15.08.2013:
"Alexander Gauland, stellvertretender Sprecher der Alternative für Deutschland, begrüßt es grundsätzlich, dass eine solche Diskussion offen stattfindet und die unterschiedlichen Positionen klar zu Tage treten. 'Das von Harpprecht geforderte Aufgehen der Nationalstaaten im Einheitsbrei eines bürokratischen Superstaates lehnen wir ab. Freiheit und Rechtsstaatlichkeit brauchen den Nationalstaat.'"
Die Vokabel "verordnet" wird von der AfD oft verwendet und zu vielen Themen in Stellung gebracht. Da wird bzgl. der Flüchtlinge ein politisch verordneter Kontrollverlust behauptet, https://www.alternativefuer.de/tag/slowakei/ verordnet, oder eine Erhöhung der Akademikerquote in der EU verordnet.
Die Vokabel "Eliten" benutzt auch stellvertretende AfD-Vorsitzende Albrecht Glaser am 30.06. 2016:
"Die europäische politische Elite verweigert sich hartnäckig der Lektion aus England. Die EU wird delegitimiert, weil sie in allen Belangen versagt hat."
Bei so viel Gewäsch geht unter, dass einzelne Kritikpunkte berechtigt sind. Eine Wüste bleibt eine Wüste, auch wenn sich hie und da Oasen finden.
Walter Roller kritisiert laufend, die EU würde nichts lernen aus der Brexit-Lektion. Im Glashaus sollte er vorsichtiger sein, welche Steine er wirft. Er bedient sich des Vokabulars rechter Populisten und er stellt unwahre Behauptungen auf, wenn er die Umsetzung Europas "ohne hinreichende demokratische Beteiligung verordnet" sieht. Er zeigt sich von Argumenten unbeeindruckt, er kann oder will nicht lernen und hat einen Geheimplan. Ich gebe nicht auf und bringe als leicht verständliche Lektion für Hr. Roller einen Auszug aus Wikipedia zur EU-Kommission:
"Im politischen System der EU nimmt sie vor allem Aufgaben der Exekutive wahr und entspricht damit ungefähr der Regierung in einem staatlichen System."
"Die Mitglieder der Kommission der Europäischen Union, die 'EU-Kommissare', werden von den Regierungen der EU-Staaten nominiert und vom Europäischen Parlament bestätigt."
Ergänzend zum EU-Parlament:
"Das Europäische Parlament (auch Europaparlament oder EU-Parlament; kurz EP) mit offiziellem Sitz in Straßburg [...] ist das Parlament der Europäischen Union (Art. 14 EU-Vertrag). Seit 1979 wird es alle fünf Jahre in allgemeinen, unmittelbaren, freien, geheimen, aber nicht gleichen Europawahlen von den Bürgern der EU gewählt."
Wo genau das demokratische Defizit sein soll, lässt Walter Roller offen. Gewählte Regierungen bestimmen gemeinsam mit einem gewählten Parlament die Organe der EU. Die EU-Entscheidungen sind somit demokratisch. Niemand hat Zweifel an der demokratischen Legitimation deutscher Gesetze oder politischer Entscheidungen. Angriffe auf Entscheidungen kommen von denen, die inhaltlich anderer Meinung sind. Eine fehlende Volksabstimmung wird da gleich zum Demokratiedefizit hochstilisiert. Das ist Populismus pur. Denn dort herrscht die Ansicht, Volksabstimmungen seien der Gipfel der Demokratie. Was sie nicht sagen ist, dass sie hierfür die leichte Lenkbarkeit der Massen im Auge haben.
Doch zurück zu Walter, Boris und Nigel: Die Saboteure Boris Johnson und Nigel Farage sind zurückgetreten, nachdem sie Schaden angerichtet haben mit fragwürdigem Verhalten und teilweise unwahren Behauptungen. Walter Roller sollte es ihnen gleichtun und nicht länger die überparteiliche Zeitung zum getarnten AfD-Sprachrohr machen. Zur Inspiration für eine neue Aufgabe: Frauke Petry arbeitet nicht mehr mit dem Parteipressesprecher Christian Lüth zusammen, wie beispielsweise der Spiegel berichtet hat. Walter Roller hat Presseerfahrung, trägt Anzug über der Uniform und zeigt in vielen seiner Leitartikeln inhaltliche Nähe zur Partei.

Dienstag, 5. Juli 2016

Fast alle gegen VW

Stefan Stahl kommentiert in der Augsburger Allgemeinen am 4.7. einen Bericht, nach dem die EU-Kommissarin Elzbieta Bienkowska auch für europäische Autofahrer einen Schadenersatz nach amerikanischem Vorbild fordert:


Stefan Stahl vergleicht die Forderung mit dem Treten eines am Boden liegenden. Ein drastisches Bild, aber ein passendes. Denn würde VW weltweit eine Belastung auferlegt wie in den USA, könnte dies zum Untergang von VW führen. Daran kann niemand interessiert sein. Manche Leserbriefschreiber sehen dies offenbar anders:


Gerhard J. Hempfer lehnt Nachsicht gegenüber dem entdeckten Betrüger ab, Paul Herrmann möchte Gesellschaftsorgane persönlich haftbar machen. Letzterer hält noch nicht einmal eine nachgewiesene persönliche Mitschuld für nötig. 
Was in der Diskussion übersehen wird sind zwei Punkte:
  • Es wird nicht unterschieden in Schadenersatz und Strafe. Eine Strafe soll schmerzhaft sein, sonst wirkt sie nicht. Aber sie soll nicht zerstören. Sie soll zukünftiges Verhalten in bessere Bahnen lenken. Ein Schadenersatz soll hingegen den verursachten Schaden ausgleichen. Falls der Schaden höher als das Vermögen des Schädigers ist, kann dennoch eine möglichst hohe Wiedergutmachung zugemutet werden, bishin zur Insolvenz. Bei VW kann eventuell ein Softwareupdate die Schädigung beenden. Zudem muss die Frage geklärt werden, wer tatsächlich welchen Schaden hat. Der Fahrzeughalter jedenfalls hat kaum einen persönlichen Schaden, wenn mehr mehr Abgase aus dem Auspuff kommen. Noch nicht einmal ein möglicher Mehrverbrauch ist glaubhaft nach einem Softwareupdate, da die Differenz zwischen Norm- und Echtverbrauch sicher höher ist und akzeptiert wurde.
  • Der zweite Punkt ist der Vergleich der Höhe möglicher Schadenersatzforderungen in den USA und Europa und der Anspruch, in Europa müsste eine gleiche Höhe möglich sein. Nein, denn die Rechtssysteme in den USA und Europa sind unterschiedlich. Das betrifft beispielsweise den Verbraucherschutz, Schadenersatz als Abschreckung und die Honorierung von Anwälten. 
Die von Stefan Stahl geforderte Zurückhaltung ist also keine ungerechtfertigte Milde, sondern Ausdruck unserer Rechtsordnung, unserer Kultur.