Mittwoch, 24. Mai 2017

Warum Manchester

Zum Terroranschlag in Manchester fragt Holger Sabinsky-Wolf in der Augsburger Allgemeinen vom 24.5. nach dem Warum:


Holger Sabinsky-Wolf schreibt:
"Haben die Terroristen ganz bewusst dieses Ziel gewählt, um möglichst viele junge Opfer zu töten?. Terror-Experten wie Malte Roschinski halten das durchaus für möglich. 'Der Schock ist größer, wenn es Kinder und Teenager trifft', sagt er."
Der Anschlag drehe "die Schraube der Perfidie noch eine Umdrehung weiter", die Terroristen würden  "eine immer höhere Stufe des Horrors" zünden:
"Der Islamwissenschaftler Navid Kermani spricht mit Blick auf die Serie von Attentaten der vergangenen Jahre von einem eiskalten Kalkül: Es sei die 'propagandistische Logik' des Täters, 'dass er mit seinen Bildern eine immer höhere Stufe des Horrors zündet, um in unser Bewusstsein zu dringen'."
Die Frage, warum es Kinder traf, ist auch vor dem Hintergrund interessant, als der IS selbst in Ausgabe 5 seiner Zeitschrift Rumiyah schreibt:
"Like many other rulings in the Shari'ah, this general obligation to kill the mushrikin has its specific exceptions, among which is women and children."
Weiter heißt es:
"'Our opinion regarding this is - and Allah knows best - that the restriction exists so that they can become slaves, which is more beneficial than killing them' [...] 'Allah dislikes that you do three things: gossiping, excessive questioning, and wasting wealth' [...] and women and children of the uncovenanted kuffar are wealth - and wasted if killed."
Die Perfidie dieses Weltbildes ist kaum zu übertreffen. Bernhard Junginger nennt in seinem Leitartikel nennt den Anschlag niederträchtig in einer neuen Dimension:


Bernhard Junginger schreibt:
"Barbarischer, sinnloser Terror, der mitten ins Herz der freien westlichen Gesellschaft zielt."
Er stellt klar:
"Jedes dieser Attentate ist eines zu viel. Jedes Todesopfer mahnt dazu, die ideologischen Urheber und die Finanziers des Terrors ohne Nachsicht zu bekämpfen."
Und er weist richtigerweise hin:
"Doch Sicherheitsmaßnahmen dürfen die Freiheit nicht abschaffen. Sie müssen Freiheit ermöglichen."
Deshalb:
"Absolute Sicherheit kann es nicht geben. Nicht jeder öffentliche Platz, an dem sich Menschen treffen, kann mit Zugangskontrollen und Videoüberwachung gesichert werden."
Was Bernhard Junginger als barbarisch und sinnlos bezeichnet, macht Jürgen Marks sprachlos:


Jürgen Marks schreibt:
"Im ersten Moment macht ein geplanter Anschlag auf Kinder sprachlos. Geht es noch schlimmer? Aber wir dürfen nicht sprachlos sein. Wir müssen den Tätern und potenziellen Nachahmern den Spiegel vor die Fratze halten. In der Hoffnung, dass sie doch irgendwo Menschen mit Gefühlen sind."
Ein Funke der Hoffnung, der Spiegel könnte seine Wirkung entfalten und dem Terror Einhalt gebieten. Doch wie berechtigt ist diese Hoffnung? Einige Hinweise finden sich in der bereits angesprochenen Ausgabe 5 der Rumiyah. Die Passagen sind dem selben Artikel entnommen und finden sich in dieser Reihenfolge im Originaltext:
"However, this principle (Frauen und Kinder nicht zu töten, Anm.) also has its exceptions. There is no disagreement amongst Muslims that women are eligible to be killed for crimes like murder and adultery. Likewise, both women and children who participate in the war against Muslims are exempted from this prohibition. That is, killing those women and children who participate in the war agains Muslims is not forbidden - but rather even necessary."
"As for kafir women and children who do not fight or otherwise partake in hostilities, then the principle stands that they should not be deliberately killed, meaning that one should not single them out for targeting. However, wehen tehy are not distinctly isolated from the kafir men or when they are not easily distinguishable from them, the their collateral killing is a justified part of the jihad against the kuffar [...]"
"With this in mind, the best practice when conducting raids is to start during the night or at the break of dawn, before the sun rises, while the enemy is asleep. At such a time, it is very likely to enter buildings where no lights shines and an adult male is not easily distinguishalbe from women and children."
"So the son of a kafir is ruled as being a kafir as well. [...] But if they (die Kinder, Anm.) are killed or wounded due to them being intermingled with the men, then there is nothing wrong with killing them."
"Certainly, catapults - much like most missiles and explosives of today - do not distinguish between those whom they maim. Even though the intended target might be the enemy's men, cities, or barracks walls, the undeniably known result of using a catapult is destruction over a particular radius. All those who happen to be in that radius are not spared the effects of this weapon's impact."
"Accordingly, one should not avoid targeting gatherings of the kuffar - whether military or civilian - in which kafir women and children outnumber the karif men. Rather, the mujahid must strive his utmost to do whatever is permissibly possible to further Allah's cause, irrespective of the collateral carnage produced thereby amid the kafir masses."
Diese Passagen machen keine Hoffnung. Kategorien wie sinnloser Tod finden keinen Platz. Mitleid mit Verletzten kann nicht empfunden werden. Menschlichkeit gibt es nicht. Wer dieser Ideologie nachhängt, der hat keine menschlichen Gefühle. Vielmehr nicht mehr. Der Spiegel kann eher wirken bei denen, die noch nicht verblendet sind. Der Kampf gegen den Terror kann nicht allein mit Waffen gewonnen werden. Es müssen auch Wege gefunden werden, potentielle Nachahmer vom Absinken in diesen Geistessumpf abzuhalten. Sonst hilft nur noch - ohne Erfolgsgarantie - der Griff in die große Kiste der Sicherheitsmaßnahmen. Ein Griff, der die westliche, freiheitliche Lebensweise schützen soll und doch nur das Gegenteil erreichen kann, wie auch Bernhard Junginger festgestellt hat.

Montag, 15. Mai 2017

Wenn Computer weinen wollen

Sarah Schierack hat in der Augsburger Allgemeinen am 15.5. das Phänomen des Schadprogramms "Wanna cry" kommentiert:


Sarah Schierack führt aus, es würde "schon jetzt eine große Menge Geld in IT-Sicherheit investiert", Firmen und Einrichtungen müssten sich aber "noch besser aufstellen". Es seien Profis nötig. Das ist richtig und auch wieder nicht.
Nicht nur Profis sind für die Sicherheit von Computersystemen zuständig. Es sind alle, die an und mit Computern arbeiten. Es lässt sich nicht oft genug wiederholen: Sichere Passwörter verwenden, verschiedene Passwörter für verschiedene Dienste verwenden, Vorsicht, wenn Mails locken, man solle auf einen Link klicken oder einen Dateianhang öffnen, Vorsicht, wenn Datenträger eingelegt oder angeschlossen werden wollen. Diese und weitere Hinweise sind zuhauf verbreitet worden.
Vieles im Zusammenhang mit Sicherheit von Computersystemen erfordert Profis. Das trifft die Seite der Anwender und die Seite der Produzenten. Auf der Seite der Anwender müssen Systeme so konfiguriert werden, dass sie möglichst sicher sind. Betriebssysteme, Anwendungen und Sicherheitsanwendungen müssen aktuell sein und gehalten werden. Wer ein Uralt-Betriebssystem einsetzt in einem vermeintlich wenig wichtigen Teilbereich eines Unternehmens muss sich im Klaren sein, dass dies ein Einfallstor bedeuten kann.
Allerdings sind auch die Hersteller von Software gefordert: Anwender sagen, sie können kein aktuelles Betriebssystem verwenden, weil eine Spezialanwendung nur auf einem alten Betriebssystem läuft. Hier sind die Hersteller der Anwendungen gefordert. Es ist inakzeptabel, wenn eine Software über Jahre hinweg nicht aktualisiert wird. Ja, Zulassungsverfahren dauern z.B. im Medizinbereich lange und sind teuer. Noch teurer ist es, wenn wegen einer veralteten Anwendung ein altes Betriebssystem eingesetzt werden muss und über dieses Schadsoftware in ein Unternehmen eindringen kann. Der Gesetzgeber sollte überlegen, wie er hier zu einem moderneren Haftungsrecht kommt.
Apropos Gesetzgeber: Sarah Schierack schreibt weiter:
"Vor allem aber darf es nicht sein, dass Geheimdienste ihr Wissen über Sicherheitslücken für sich behalten, um sie für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Eine Organisation, die so handelt, gefährdet Menschen auf der ganzen Welt."
Das ist dick zu unterstreichen. Es muss aber weitergedacht werden. In Abwandlung des Gesetzes von Murphy steht zu befürchten:
"Alle Sicherheitslücken werden auch ausgenutzt."
Das sollten sich all diejenigen zu Herzen nehmen, die Staatstrojanern, staatlich initiierten Hintertüren etc. mit dem Argument der Sicherheitspolitik das Wort reden. Es wird sich nicht garantieren lassen, dass solche Sicherheitslücken nur von vertrauenswürdigen staatlichen Stellen genutzt werden. Dann sind es nicht nur Geheimdienste, die "Menschen auf der ganzen Welt" gefährden, sondern dann ist es die Politik. Deshalb: Nein, keine staatlich verordneten Sicherheitslücken in Software. Der behauptete Sicherheitsgewinn rechtfertigt nicht das einhergehende Risiko.

Donnerstag, 11. Mai 2017

Eingebrochen

Holger Sabinsky-Wolf hat in der Augsburger Allgemeinen vom 11.5. einen Leitartikel veröffentlicht zur Verschärfung von Gesetzen im Zusammenhang mit Einbruchskriminalität:


Einbrüche sind Straftaten, die neben materiellen Schäden große psychische Schäden verursachen. Holger Sabinsky-Wolf beruft sich auf die Statistik und gibt für 2016 über 150.000 Einbrüche an und nennt eine Aufklärungsquote von knapp 19% für Bayern, "einer der bundesweiten Spitzenwerte". Holger Sabinsky-Wolf schreibt weiter:
"Die Strafverschärfung auf mindestens ein Jahr Gefängnis für einen Einbruch in eine Privatwohnung gehört in die Abteilung kostenfreie Symbolpolitik. Wer glaubt, dass Mitglieder einer osteuropäischen Bande sich davon abschrecken lassen, liegt daneben. Zum einen, weil es auch nach bisheriger Rechtslage möglich war, solche Täter für zehn Jahre ins Gefängnis zu schicken. Zum anderen wissen diese Profis, dass sie selten erwischt werden."
Das kann ich nur unterstreichen: Die Verschärfung kommt nicht über Symbolik hinaus, sie schreckt keine potentiellen Täter und hilft den Opfern nicht. Die Regierung meint, dieses Symbol für den Wahlkampf einsetzen zu können.
Ein anderes Element der Gesetzesänderung hält Holger Sabinsky-Wolf für relevanter:
"Für die praktische Arbeit der Polizei ist die andere Änderung wichtiger: Einbrüche in Wohnungen gehören nun zu jenen Delikten, bei denen die Ermittler unter bestimmten Bedingungen die Vorratsdatenspeicherung nutzen dürfen. Bislang ist dieser Zugriff nur bei schweren Straftaten wie Mord, Vergewaltigung oder Bildung einer Terrorgruppe möglich. Noch besser wäre es zwar gewesen, wenn sich die Große Koalition dazu durchringen hätte können, dass die Fahnder auch die Inhalte von Telefonaten und Mails Verdächtiger überwachen dürfen. Aber immerhin. Das Instrument könnte helfen, mehr Täter zu fassen und Hintermänner zu entlarven."
Holger Sabinsky-Wolf glaubt, die Vorratsdatenspeicherung sei hilfreich bei der Aufklärung der Einbrüche. Dem ist zu widersprechen:

  • Die Süddeutsche Zeitung hat im Oktober 2015 beschrieben, wie leicht sich umgehen lässt, dass die Vorratsdatenspeicherung zielführende Daten sammeln kann. 
  • Im gleichen Artikel wird erwähnt, dass die Abfrage von Verbindungsdaten (ohne Vorratsdatenspeicherung) in 96% erfolgreich war.
  • Im gleichen Artikel wird auf eine Studie des Bundeskriminalamtes verwiesen, nach der die Aufklärungsquote um 0,006% steigen würde durch die Vorratsdatenspeicherung.
  • Bayern hat mit die höchste Aufklärungsquote. Ohne Vorratsdatenauswertung. Andere Bundesländer haben eine geringere Quote.
  • Die Vorratsdatenspeicherung oder der Abgriff der Inhalte ist unnötig, um Verdächtige zu überwachen. Das ist bereits möglich. Bei Einbrüchen hat die Polizei meist keine Verdächtigen, siehe Aufklärungsquote. Welche Inhalte und von welchen Beteiligten will Holger Sabinsky-Wolf auswerten, wenn er "die Inhalte von Telefonaten und Mails [...] überwachen" will?
Die unterschiedlichen Aufklärungsquoten in den Bundesländern legen die Vermutung nahe, dass es andere Faktoren sind, die die Aufklärungsquote beeinflussen als die Vorratsdatenspeicherung. Das könnte an mehr Polizisten gelegen haben. Oder an besseren Polizisten und besserer Polizeiarbeit. Oder an dümmeren Einbrechern. Ohne konkret benannt zu haben, was die unterschiedlichen Aufklärungsquoten in den Ländern verursacht, wird die Vorratsdatenspeicherung als vermeintliche Wunderwaffe propagiert. Es ist kaum mehr zu fassen, wie schnell und leichtfertig freiheitliche Bürgerrechte geopfert werden für ein Sicherheitsversprechen, das mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht gehalten wird. Doch bis das klar wird, sind die Bürgerrechte sind bereits verkauft. Dass eine Regierung im Wahlkampfmodus darauf keine Rücksicht nimmt, mag verständlich sein. Dass Holger Sabinsky-Wolf sich dem anschließt, finde ich schade, zumal er ja die Strafverschärfung bereits als Symbol enttarnt hat.
Holger Sabinsky-Wolf schreibt:
"Doch diese Investitionen im Kampf gegen Einbruchskriminalität sollte sich der Staat leisten. Erst dann zeigt sich nämlich, ob die innere Sicherheit nur ein billiger Wahlkampfschlager oder ein echtes Anliegen ist. Die Politiker sollten eines bedenken: Wenn das Gefühl der Bedrohung durch ausländische Banden steigt, wenn das Sicherheitsgefühl leidet und gleichzeitig der Staat hilflos und schwach wirkt, dann treibt das die Menschen zu populistischen und extremen Parteien."
Ja, der Staat sollte sich wirksame Investitionen leisten. Vorratsdatenspeicherung ist "nur ein billiger Wahlkampfschlager". Den können populistische und extreme Parteien besser singen.
In einem weiteren Punkt irrt Holger Sabinsky-Wolf:
"Es spricht für die Kompetenz der bayerischen Staatsregierung in puncto innere Sicherheit, dass die Initiative vom Freistaat ausging."
Nein, die Initiative für ein solches Symbolgesetz spricht für keinerlei sicherheitspolitische Kompetenz. Die Initiative zeigt bestenfalls das - leicht durchschaubare - wahlkämpferische Geschick der CSU.

Mittwoch, 10. Mai 2017

Der Geist in der Bundeswehr

Rudi Wais hat am 10.5. in der Augsburger Allgemeinen einen Leitartikel veröffentlicht über Vorkommnisse bei der Bundeswehr und der Behauptung der Bundesverteidigungsministerin, es gäbe ein Führungsproblem:


Rudi Wais schreibt von einem falsch verstandenen Korpsgeist, der Franco A. und "einen weiteren Verbündeten in der Truppe viel zu lange" schützte. Er beschreibt Vorgänge als skandalös, "in denen Soldaten Opfer von sexuellen Übergriffen wurden oder entwürdigende Initiationsriten für Neulinge" durchlitten werden mussten. Er lehnt es ab, Franco A. als "Kronzeuge für eine rechtsextreme Unterwanderung der Truppe" zu benennen. Alles richtig, und deshalb ist seine Forderung zu unterstreichen:
"Mit einer Kultur der Offenheit, einem besseren Beschwerdemanagement, einer besseren Ausbildung der Ausbilder und einem zeitgemäßen Verständnis von Führung und Verantwortung. Ein Kommandeur, der Missstände in seiner Einheit unter den Teppich kehrt oder eine gewisse Härte im Umgang für eine militärische Notwendigkeit hält, ist nicht Teil der Lösung, sondern selbst Teil des Problems."
Zu Zeiten der Wehrpflicht war die Behauptung populär, die Bundeswehr sei ein Abbild der Bevölkerung. Wenn diese Hypothese weiter aufrecht gehalten wird, braucht sich niemand wundern, wenn auch in der Bundeswehr rechtes Gedankengut vorkommt. Immerhin bekommt eine AfD in Umfragen zur Sonntagsfrage derzeit etwa 10%. Nach Wegfall der Wehrpflicht könnte sich die Bundeswehr von einem Abbild der Bevölkerung entfernt haben und vor allem für solche Personen interessant geworden sein, die Gewalt als Lösungsoption bestimmter Probleme sehen und einer strikten Befehlshierarchie positiv gegenüberstehen. Rechtes Gedankengut steht nicht weit entfernt von einer solchen Sicht. Dies ist ohne genaue Untersuchung jedoch Kaffeesatzleserei. Eine pauschale Unterstellung, die Bundeswehr sei rechts, muss daneben gehen.
Genauso daneben geht jedoch die Entrüstung, mit der auf die pauschale Unterstellung reagiert wird. Denn es ist kaum plausibel, dass nur die öffentlich gewordenen Vorkommnisse stattgefunden haben sollen. Man darf eine Dunkelziffer unterstellen. Statt sich lautstark zu entrüsten, sollte die Bundeswehr ernsthaft die Hinweise aus den Vorkommnissen aufnehmen und sich ihrem internen Kulturverständnis zuwenden. Es geht nicht nur um ein zeitgemäßes "Verständnis von Führung und Verantwortung", nicht nur um ein besseres Beschwerdemanagement oder Ausbildung der Ausbilder. Es geht um Kameradschaft, um den Group Spirit. Team Building in der freien Wirtschaft kommt auch ohne Übergriffe und Erniedrigungen aus. Den Einstand feiert man ohne Schadenfreude. Das Bewusstsein, sich auf andere verlassen können, fußt nicht auf der Angst der anderen vor der Strafe, falls sie unzuverlässig sein sollten. Das Bewusstsein erwächst aus der Gewissheit des gegenseitigen Beistandes.
Allein der Verdacht, der Beruf des Soldaten könnte für Personen mit einem bestimmten Weltbild besonders attraktiv sein, sollte für die Bundeswehr der Auftrag sein, besonders genau hinzusehen und besonders empfänglich zu sein für Hinweise auf mögliche Verfehlungen einzelner. Wenn die Bundeswehr die Einzelfälle als Singularitäten abtut und nicht glaubwürdig vermittelt, in der Breite und Tiefe gegen Extremismus, Sexismus und entwürdigendes Dominanzgehabe vorzugehen, sind nicht nur einzelne Kommandeure Teil des Problems. Dann ist es der unselige Geist, der die Bundeswehr durchweht.

Sonntag, 7. Mai 2017

Politische Lehrstücke

In der Printausgabe der Augsburger Allgemeinen hat Walter Roller einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Präsidentenwahl in Frankreich als ein Lehrstück über das Versagen der politischen Klasse beschreibt:


Ursache oder Wirkung?

Walter Roller schreibt:
"Frankreich ist ein tief gespaltenes Land, von ökonomischem Niedergang und hoher Arbeitslosigkeit geplagt, das die nötigen Reformen versäumt hat und heute der kranke Mann Europas ist. Der Aufstieg des ausländer- und islamfeindlichen Front National hat mit diesen Problemen, dem Versagen der Volksparteien, der Abgehobenheit der Eliten, der misslungenen Integration vieler muslimischer Einwanderer und den terroristischen Attacken zu tun. Es ist diese Gemengelage, die der Rechtspopulistin Millionen von Menschen in die Arme getrieben und auf der anderen Seite des Spektrums zugleich die extreme Linke gestärkt hat."
Walter Roller beschreibt den Zustand Frankreichs Wirtschaft recht zutreffend. Reformunwille oder -unfähigkeit haben zu Niedergang geführt, der Frankreich heute eine hohe Arbeitslosigkeit beschert. Allerdings ist die Frage, wie die misslungene Integration vieler muslimischer Einwanderer einzuordnen ist. Ist sie wirklich die Ursache für den Zuspruch des Front National? Oder ist der Zuspruch lediglich Ausfluss des Erklärungsmodells, das der FN anbietet?
In seinem Buch "Rückkehr nach Reims" stellt der Autor Didier Eribon einen anderen Wirkungszusammenhang her. Nach Eribon seien die Arbeiter früher den Linken, ja den Kommunisten gefolgt. Als es diesen zunehmend weniger gelang, den Arbeitern ein Klassenbewusstsein, mithin eine Identität zu vermitteln, seien die Arbeiter vom FN "abgeholt" worden. Der FN geriert sich als Versteher des kleinen Mannes. Marine Le Pen trat im Wahlkampf genau so auf, präsentierte sich als arbeiter- und volksnah. Sie umgab sich für einen Fototermin mit Arbeitern, während Macron mit Gewerkschaftern über die Arbeiter sprach. Ich halte diesen Erklärungsansatz für schlüssiger als den von Walter Roller. Auch in Deutschland haben Rechtspopulisten nicht erst seit 2015 Erfolg, ich erinnere an die Republikaner in den 1980er und -90er Jahren. Bereits damals mussten "die Ausländer" als Sündenböcke für alles mögliche herhalten.
Walter Roller schreibt weiter:
"Doch lehrt das französische Schauspiel, dass auch scheinbar gefestigte Demokratien unter populistischem Trommelfeuer in schwere Turbulenzen geraten können - wenn die Wirtschaft darniederliegt, viele Bürger und ganze Regionen 'abgehängt' sind, die Politik das Vertrauen der Menschen eingebüßt hat und die Sorgen vor einer kulturellen Überfremdung durch Massenzuwanderung nicht ernst genug genommen werden."
Er zeichnet hierbei mögliche Entwicklungen in Deutschland. Allerdings auch hier mit der Verwechslung von Ursache und Wirkung. Die kulturelle Überfremdung ist ja nicht eine unmittelbar bevorstehende Entwicklung. Es ist trotz der vorhandenen Probleme wie mangelnder Integrations- und Aufnahmewille und der langen Zeit, die eine gelingende Integration benötigen wird, nicht zu befürchten, dass Deutschland nicht mehr Deutschland sei in den nächsten Jahren.

Zweifeln an der Demokratie

Doch zweifelsohne erleben wir ein Lehrstück. In einem am 5.5. abgedruckten Artikel wird über die Studie der TUI-Stiftung berichtet:


Im Artikel heißt es:
"Nur noch die Hälfte der jungen Menschen in den großen EU-Ländern hält die Demokratie für die beste Staatsform. [...] Die Europäische Union ist für die große Mehrheit der jungen Europäer kein historisches Friedensprojekt, sondern eine Gemeinschaft zur Durchsetzung ökonomischer Ziele. Nur 30 Prozent der Befragten in Deutschland, Frankreich, Spanien, Großbritannien, Polen und Griechenland sehen in ihr auch ein Bündnis mit gemeinsamen kulturellen Werten. 38 Prozent wünschen sich, dass Brüssel wieder mehr Macht an die nationalen Regierungen abgibt."
Die Einstellungen zur Demokratie waren nur ein Aspekt der Studie. Wesentlich mehr Raum haben Fragen zu Wertvorstellungen, Einfluss der EU etc. Die Studie selbst fasst auf fünf Seiten ihre Ergebnisse zusammen. Ein paar Auszüge:
"Im persönlichen Werteuniversum junger Europäer stehen Menschenrechte (54 Prozent), Frieden (53 Prozent) und Sicherheit (50 Prozent) an vorderster Stelle. [...] Toleranz (45 Prozent) und Freiheit des Einzelnen (40 Prozent) folgen auf den Rängen vier und fünf."
"Wenn junge Europäer nach den Werten gefragt werden, die sie der EU zuschreiben, dann steht Frieden im Vordergrund: 44 Prozent attribuieren dieses Merkmal zur EU. [...] Es folgen Menschenrechte (40 Prozent), Solidarität (33 Prozent), Demokratie (31 Prozent) und Völkerverständigung (30 Prozent)."
Menschenrechte stehen in diesem Werteuniversum weit vorne. Da verwundert es um so mehr, wie leicht es offenbar Populisten gelang, Flüchtlinge als Verursacher zu etablieren. Weiter heißt es in den Ergebnissen:
"Wenig überraschend sieht sich nach dem EU-Referendum und dem anstehenden EU-Austritt mehr als die Hälfte (55 Prozent) der jungen Briten ausschließlich als Bürger ihres Landes. Aber auch in Frankreich (47 Prozent), Polen (45 Prozent) und Italien (44 Prozent) sieht sich ein substantieller Teil der jungen Menschen ausschließlich als Bürger ihres Landes ohne europäische Identitätsanteile in ihr Selbstkonzept aufzunehmen."
Auf Seite 34 lautet die erste Zeile der Überschrift:
"Junge Europäer schreiben der EU keine christliche Kultur zu."
Die Überschrift der Seite 42 lautet:
"Die EU wird vorrangig als wirtschaftliches Bündnis wahrgenommen, weniger als Bündnis mit gemeinsamer Kultur."
Bei diesen Aussagen frage ich mich, wie weit es her ist mit der von der Politik beschworenen christlich-abendländischen Kultur, die es zu verteidigen gelte. Oder ist diese Diskrepanz bereits ein Ausfluss der von Walter Roller genannten "Abgehobenheit der Eliten"? Die Überschrift auf Seite 53 könnte letztere These stützen:
"Junge Europäer sind eher zufrieden mit der EU im Allgemeinen – und unzufrieden mit ihren Landesregierungen."
Auch hier verwundert es, wie leicht es manchen gelingt, die EU dennoch als Ursache vieler Übel zu positionieren.
Auf den Seiten 59 bis 64 finden sich weitere Hinweise:
"EU-Skeptiker fühlen sich (wirtschaftlich) stärker unter Druck als EU-Befürworter"
"EU-Skeptiker zeigen eine stärkere Orientierung hin zu traditionellen Werten und sind skeptischer gegenüber post-materiellen Werten als EU-Befürworter" (Anm.: gefragt wurde u.a. nach rechtlicher Gleichstellung Homosexueller, nach Asyl, nach Freizügigkeit)
"EU-Skeptiker fühlen sich durch Entwicklungen und Phänomene der Moderne stärker bedroht als EU-Befürworter"
"EU-Ablehner mit vergleichsweise negativem Zukunftsblick und stärkerer national-konservativen Wertorientierung"
"EU-Befürworter mit stärker post-materiellen Wertvorstellungen und höher Globalisierungs-Offenheit."
"EU-Befürworter mit stärkerer Demokratieüberzeugung und Chancenwahrnehmung bei Globalisierungsentwicklungen."
"Für EU-Ablehner sind Wohlstand und Stabilität wichtiger als für EU-Befürworter."
Die Studie beschreibt Zusammenhänge, die sich aus den Antworten der Befragten ablesen lassen. Sie gibt nicht Ursache-Wirkungsketten an. Beispielsweise sagt sie, dass an traditionellen Werten orientierte skeptischer gegenüber der EU sind. Sie sagt nicht, die Skepsis entstehe aus der Bedeutung der Tradition.
Zur im Titel des Artikels genannten Demokratie als Staatsform zeigt die Studie, dass in Frankreich 12%, in Deutschland 6% eine andere Staatsform bevorzugen. In beiden Ländern sind die Top 3, wenn auch in unterschiedlicher Reihenfolge (vgl. Seite 71):
  • Regierung aus nicht gewählten Experten
  • Volksentscheide/direkte Demokratie
  • Person/Partei regiert ohne parlamentarische Kontrolle
Dies könnte Ausdruck sein einer Skepsis gegenüber Eliten nach dem Motto: "Die da oben diskutieren ewig und dann geht doch nix vorwärts." Dies könnte ein Hinweis sein, warum sich die Populisten als Anti-Elite erfolgreich präsentieren können. Zudem gelingt es ihnen, thematisch nahestehende Themen unterschiedlich darzustellen, wie die Gegenüberstellung von Globalisierung und Einwanderung/Migration zeigt:
"Trotz aller Kritik in der Vergangenheit sehen junge Europäer die Globalisierung und den grenzenlosen Verkehr von Personen und Güter eher als Chance denn als Bedrohung. Einzig in Griechenland wird die Globalisierung eher als Bedrohung (37 Prozent) denn als Chance (34 Prozent) eingestuft. Bei dem damit eng verknüpftem Thema Einwanderung und Migration fällt die Wahrnehmung gemischter aus. Durchaus überraschend wird dies einzig in Spanien und Großbritannien mit deutlicher Mehrheit als Chance gesehen. In Frankreich überwiegen die Jugendliche, die das Phänomen als Bedrohung wahrnehmen."

Conclusio

Walter Roller schreibt den Erfolg des Front National der wirtschaftlichen Situation in Frankreich sowie der Angst vor Überfremdung zu. Die TUI-Studie, in der Menschen zwischen 16 und 26 Jahren befragt wurden, zeigt Anhaltspunkte, dass es nicht allein äußere Umstände sind. Vieles hängt an der Wahrnehmung von Situationen wie:
  • Wie stark ist jemand an Traditionen orientiert?
  • Wie positiv oder negativ ist der Zukunftsblick?
  • Wie stark wird wirtschaftlicher Druck empfunden?
Walter Roller ist deshalb zu widersprechen bei seiner Behauptung, die misslungene Integration sei Ursache für den Erfolg der Rechtspopulisten. Den Rechtspopulisten ist es gelungen, sich einer Zielgruppe anzunehmen, die sich im politischen System nicht mehr ausreichend gehört fühlte. Es ist ihnen ferner gelungen, dieses Nicht-mehr-gehört-werden umzudeuten in eine neue Identität, eine neue Gemeinsamkeit. Abgrenzend ist es den Populisten gelungen, Migration als vermeintliche Ursache und Abschottung und Rückzug auf ein Früher-war-alles-besser als vermeintliche Lösung zu propagieren.
Zu Marine Le Pen schreibt Walter Roller:
"Sie ist ja schon in der Mitte der Gesellschaft angekommen - als Profiteurin jenes Überdrusses, den eine selbstverliebte, reformunfähige, auf das Volk herabblickende Führungselite erzeugt hat."
Ja, es gibt Eliten, die sich für besser halten. Deshalb funktioniert auch das Argument der Abgehobenheit der Eliten, die nicht mehr die Stimme des Volkes hören würden. Andererseits sind Parlamentarier eine gewählte Elite, die mit der Lösung von Problemen betraut wurde. In Teilen ist es ihnen nicht gelungen, die richtigen Probleme zu lösen, die Lösungen als gute Lösungen darzustellen. Manche schlagen aus ihrem Status persönliche Verteile bis hin zur Bereicherung. Eine "Gemengelage" ist es. Allerdings halte ich die Migrationsprobleme nicht für ursächlich für das Erstarken der Populisten. Sie sind jedoch Öl in diverse Feuer der Populisten.