Montag, 20. April 2015

Im Griff greiser Geiselnehmer

Vor kurzem hat der Vorsitzende des Aufsichtsrates des Konzerns, Ferdinand Piëch, kurz und knapp geäußert, er sei auf Distanz zum derzeitigen Vorsitzenden des Vorstands, Martin Winterkorn. In einer Sondersitzung des Präsidiums des Aufsichtsrates wurde diskutiert, wie es weitergehen könne mit Herrn Winterkorn. In einer kurzen Erklärung wurde er in seiner Position belassen und bereits frühzeitig eine Vertragsverlängerung in Aussicht gestellt.
Der Bundesfinanzminister wird nicht müde zu betonen, es gäbe keinen Spielraum für steuerliche Entlastungen. Dies obwohl die Einnahmen seit 2010 um knapp 20% gestiegen sind, wie das Statistische Jahrbuch 2014 des Statistischen Bundesamtes zeigt:
 

Bei beiden Männern sehe ich Gemeinsamkeiten:
  1. Sie sind alt. Das ist nicht vorwerfbar. Das könnte aber auf Grund der angesammelten Lebenserfahrung zu einem Gefühl der eigenen Unfehlbarkeit führen oder es zumindest schwieriger machen, sie von einer Meinung abzubringen.
  2. Sie sind gewohnt, sich durchzusetzen. Das allein ist nicht vorwerfbar. Zusammen mit dem ersten Punkt wird jedoch eine ungute Mischung entstehen: Die eigene Position für die einzig richtige annehmen und deshalb sich in einer Mission zu fühlen, die unbedingt durchgesetzt werden muss.
  3. Sie empfangen, halten Hof. Herr Piëch ließ fünf Mitglieder des Präsidiums in seine Wohnsitzstadt anreisen. Vielleicht wäre es kosten- und umweltgünstiger gewesen, er wäre nach Wolfsburg gereist. Beim Finanzminister ist es ähnlich, auch wenn sich hier in letzter Zeit keine so spektakulären Ereignisse wie bei Herrn Piëch finden lassen.
  4. Sie lassen sich nicht beirren. Herr Piëch wurde in der Präsidiumssitzung überstimmt (in der Erklärung fehlt das Wort "einstimmig"). Herr Schäuble hält an seiner Null fest, obwohl es bereits Haushaltsüberschüsse gibt. Argumente perlen ab. Sie lassen sich auch durch Tatsachen nicht beirren. Damit haben sie Ähnlichkeit mit einem viel jüngeren Mann, Sledge Hammer: "Verwirren Sie mich nicht mit Tatsachen, Doreau."
Damit sind wir alle Geiseln. Unternehmen, Unternehmensmitarbeiter, die Bevölkerung als ganzes sind einzelnen Personen ausgeliefert, bei denen der Eindruck entsteht, ihre Macht und das Durchsetzen dieser Macht sei oberste Prämisse ihres Handelns. So handeln Geiselnehmer. Es wird Zeit, diese Greise in den verdienten Ruhestand zu setzen, damit wieder Bewegung möglich wird.

Donnerstag, 16. April 2015

Diffamierende Argumente zum Betreuungsgeld

Am 13. April berichtete die Augsburger Allgemeine über eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht. Strittiger Punkt ist nicht eine politische oder gesellschaftliche Bewertung, sondern eine Formalie: Darf der Bund ein Konstrukt wie das Betreuungsgeld überhaupt beschließen, da er damit in die Rechte der Bundesländer eingreift?
Josef Grandy nimmt die Berichterstattung zum Anlass für einen Leserbrief:
Er zitiert den Bericht der Zeitung, in dem von bildungsfernen Familien und solchen mit Migrationshintergrund die Rede ist. Es wird behauptet, vor allem solche Familien würden das Betreuungsgeld bekommen. Herr Grandy findet das "eine pauschale Diffamierung von Ausländerfamilien" und zieht die Bilanz, dass man sich nicht wundern müsse, wenn "bei dieser anmaßenden Haltung die Integration von Ausländern nur teilweise gelingt". Er schlägt statt dessen vor, "die Sprachförderung für diese Kinder gemeinsam mit den Eltern durchzuführen und sie nicht allein in eine Kita zu stecken".
An dieser Argumentationslinie finde ich zwei Punkte sehr interessant:
 

Bezieher von Betreuungsgeld

Es wird behauptet, das Betreuungsgeld fließe an die bildungsferne und Ausländerfamilien. Herr Grandy zieht diese Behauptung nicht in Zweifel, sondern findet sie nur diffamierend. Das Statistische Bundesamt bietet Statistiken auch zum Betreuungsgeld. Bei der Darstellung lassen sich die Empfänger nach Nationalität gruppieren:
Überschlägig sind im Jahr 2014 in allen Quartalen die Empfänger des Betreuungsgeldes zu 80% Deutsche, nur zu 20% Ausländer. Es sind also nicht überwiegend Ausländer, die das Betreuungsgeld beziehen.
Diesem Anteil ließe sich der Ausländeranteil in der Bevölkerung gegenüberstellen:
Hier zeigt sich, dass der Ausländeranteil in der Altersgruppe "typischer" Eltern deutlich geringer ist als der Anteil der Bezieher von Betreuungsgeld. Nur ist das leider eine Milchmädchenrechnung: Wir wissen hieraus nichts über Elternschaft, Familien mit oder ohne Kindern, Kinderanzahl etc. Jedenfalls lese ich nicht hieraus, dass vor allem Ausländer diese Staatsleistung beanspruchen. Und schon gar nicht eine bei solchen Aussagen mitschwingende Konnotation, dieser Anspruch wäre irgendwie anrüchig.
Leider findet sich in den Statistiken kein Bezug zu Bildungsabschlüssen der Bezieher. Die Behauptung, bildungsferne Familien wären Bezieher, lässt sich mit den öffentlich zugänglichen Daten des Statistischen Bundesamtes leider nicht verifizieren oder falsifizieren.
 

Pauschale Diffamierung von Ausländerfamilien

Herr Grandy erregt sich jedoch nicht wegen der Richtigkeit oder Falschheit der Behauptung. Er erregt sich an der pauschalen Diffamierung, hauptsächlich Ausländer würden das Betreuungsgeld in Anspruch nehmen. Meine Ausführungen weiter oben lassen zumindest am sachlichen Gehalt der Pauschalierung zweifeln. So weit, so zutreffend der Vorwurf von Herrn Grandy.
Im letzten Absatz seines Leserbriefes schreibt Herr Grandy, "diese Kinder" sollten gemeinsam mit ihren Eltern in Kitas Sprachförderung erhalten. Bei soviel pauschaler Diffamierung über notwendige Sprachförderung sollte der Kreis der zu Fördernden vergrößert werden. Nicht wahr, Herr Grandy? 

Sonntag, 12. April 2015

Rudi Wais blickt nur mit einem Auge auf den Mindestlohn



Rudi Wais nimmt die ersten 100 Tage zum Anlass, um einen Blick auf den Mindestlohn zu werfen:
Er beschreibt, wie sich Hans-Werner Sinn getäuscht hat, als dieser eine Million Arbeitsplätze gefährdet sah. Dennoch reiht er sich ein in die Reihe der einäugigen Kritiker.
  • Er bezeichnet die mit der Lohnerhöhung einhergehende Kostensteigerung in Unternehmen als "Kollateralschäden". Diese Vokabel ist völlig falsch, denn als Kollateralschäden werden unbeabsichtigte Schäden bezeichnet. Als die Regierung den Mindestlohn eingeführt hat, waren ihr die Kostensteigerungen bestimmt bewusst und damit nicht kollateral.
  • Er behauptet, die im Gesetz verankerten Dokumentationspflichten würden "nur Unternehmer, Manager und Personalchefs [verärgern]". Er führt ein Beispiel an, das tatsächlich zumindest kritikwürdig ist. Nur sollte er auch wissen, dass in manchen Branchen eine erhebliche Kreativität herrscht, um Vorgaben zu umgehen. Insbesondere die Auftraggeberhaftung scheint mir notwendig, um den Mindestlohn auch faktisch durchzusetzen. Es soll ja abenteuerliche Konstruktionen mit Unternehmern, Subunternehmern, Sub-Subunternehmern etc. geben, die so lange geführt werden, bis es zur Verantwortlichkeitsdiffusion kommt. Alle schieben die Schuld auf den nächsten, bis das letzte Glied in der Kette nicht mehr greifbar ist.
Für einen Leitartikel würde ich mir einen stärker ausgewogenen Blick wünschen. Herr Wais stellt es so dar, als ob alle Chefs und Unternehmer sich lediglich in ihr Schicksal ergeben würden, da "[d]ie Regierung, die den gesetzlichen Mindestlohn abschafft, [...] erst noch gewählt werden [muss]". Und er vermittelt den Eindruck, die Dokumentationspflichten seien überzogen.
Herr Wais sollte auch beleuchten, warum die Regierung die Dokumentationspflichten eingeführt hat. Von dieser Position aus kann er auf manch überschießende Regelung kritisch verweisen. Absolut zu kurz kommt die Gegenposition zum Kostenargument: das wirtschaftliche Verhalten der Nutznießer des Mindestlohns. Aufschlussreich ist ein Blick auf die Sparquote in Abhängigkeit vom Einkommen:
Infografik: Reiche legen Mehr Geld zurück | Statista
Der Mindestlohn kommt den Geringverdienern zu Gute. Sie haben eine geringe Sparquote, zusätzliches Geld gelangt primär in den Konsum.
Die Wirtschaftswoche berichtete am 26. Februar 2015, die Deutschen seien im Kaufrausch: das Geld sitze locker, die Aussichten seien rosig und die "Neigung der Bürger, sich Teures wie Autos oder Möbel zu gönnen, wächst". Der starke Konsum wird als der Antrieb der aktuellen deutschen Konjunktur gesehen. Die Konsumneigung der Bevölkerung beschert den Unternehmen und Händlern gute Umsätze. Es gibt also nicht nur dunkle Kostenprobleme, wie sie Herr Wais darstellt. Es hätte seinem Leitartikel gut getan, auch die helle Seite der Medaille zu beleuchten.

Montag, 6. April 2015

Jürgen Marks stellt die falschen Fragen

Jürgen Marks kommentiert in der Augsburger Allgemeinen vom 4.4.2015 die neuesten Erkenntnisse zum Absturz einer Germanwings-Maschine in den Alpen:
Die Hinweise lassen inzwischen wenig Zweifel, dass der Absturz vom Piloten absichtlich herbeigeführt wurde. Die Zeitung schreibt, der Autopilot wäre auf einen Sinkflug eingestellt und beschleunigt worden, bevor sie an einem Bergmassiv zerschellte.
Jürgen Marks fragt nun:
  1. Warum ließ die Lufthansa den Piloten fliegen, wenn sie von seiner Depression wusste?
    Warum nicht, halte ich dagegen. Soweit bekannt ist, war die letzte Untersuchung des Piloten positiv, es gab keinen Anhaltspunkt für eine Erkrankung, die die Flugtauglichkeit beeinträchtigt hätte. Wie lange möchte Herr Marks eine laut Diagnose geheilte oder zumindest überwundene Krankheit als Argument verwenden, um die Berufstätigkeit von Menschen einzuschränken?
  2. Wie ist die ärztliche Schweigepflicht zu bewerten, die ja Ausnahmen zulässt, "wenn es um die Abwendung schwerer Verbrechen geht"?
    Wie kommt Herr Marks darauf, bei dem Selbstmord handelt es sich um ein schweres Verbrechen? Gesetzt den Fall, der Pilot war depressiv und hegte Selbstmordpläne. Ein solches "schweres Verbrechen" würde nur dann vorliegen, wenn der Kranke nicht nur den Selbstmord generell plant, sondern sich gegenüber den Ärzten konkret äußert. Er hätte auch die Art der Tat ankündigen müssen. Woher weiß Herr Marks das? Allgemeine Auslassungen zum Todeswunsch eines Depressiven rechtfertigen sicherlich nicht, dass der Arbeitgeber en Detail über die Diagnose informiert wird.
Ich behaupte, aus dem Kommentar von Jürgen Marks spricht genau jener Geist, der den Absturz erst möglich gemacht hat. Bei den Anschlägen vom 11.9.2001 hatten Terroristen Flugzeuge entführt, in dem sie sich Zutritt zum Cockpit verschafft und die Kontrolle über die Maschinen übernommen hatten. Als Reaktion darauf wurden die Cockpittüren gesichert. Es sollte nicht mehr möglich sein, von außen in das Cockpit einzudringen. Der aktuelle Absturz im Jahr 2015 zeigt, dass die Technologie funktioniert. Es war nicht möglich, den Selbstmörder von seiner Tat abzuhalten. In diese fatale Kerbe schlägt Herr Marks unverdrossen weiter: Immer mehr vermeintliche Sicherheit durch einzelne Maßnahmen.
Aufheben der ärztlichen Schweigepflicht, wenn ein Pilot depressiv ist. Das kommt einem Berufsverbot gleich. Was will Herr Marks tun, wenn der Pilot sich nicht an einen Arzt wendet? Pflichttermine? Was will er tun, um spontane Selbstmordabsichten zu erwischen? Vor jedem Abflug eine Sitzung beim Arzt? Was will er tun, wenn der Patient zwar seine Depression offenbart, nicht aber seine Selbstmordabsicht? Ein peinliches Verhör wie zu Zeiten der Hexenverbrennungen und der Inquisition?
Nicht von Herr Marks genannt, aber in die gleiche Richtung zielt der Plan, dass sich zukünftig immer mindestens zwei Personen im Cockpit aufhalten müssen. Ich hoffe bloß, es handelt sich nicht um Olli Rellonen, die Hauptfigur aus Arto Paasilinnas Roman "Der wunderbare Massenselbstmord". Diese Hauptfigur wollte sich in einer Scheune erhängen und traf dort auf eine andere Person, die just den selben Gedanken hatte.
Es wird Jürgen Marks nicht gelingen, ein Szenario zu entwerfen, in dem alle Risiken ausgeschlossen werden können. Und dennoch glaubt er, unter Hinweis auf Risiken nach Belieben jedwede Maßnahme argumentieren zu können. Er irrt.

Donnerstag, 2. April 2015

Martin Färber irrt im Kommentar zum Fracking-Gesetz

In der Augsburger Allgemeinen vom 2.4.2015 kommentiert Martin Ferber den Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Fracking:
Er schreibt, die Regierung wolle "Fracking zwar offiziell [zulassen], um es gleichzeitig durch die Hintertür zu verhindern". Er resümiert, "wegen des Preisverfalls rentiert sich die kostenintensive Methode nicht mehr. Ganz ohne Gesetz".
Das ist für einen Kommentar schwach. Denn:
  • Die Bundesregierung vertritt die Auffassung, ein Verbot ließe sich aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht grundsätzlich verbieten. Ein Verbot verstoße gegen die Gewerbe- und Forschungsfreiheit. So steht es im Bericht, zu dem der Kommentar gehört. Martin Ferber hätte dazu Stellung beziehen müssen und nicht nur das derzeitige Ergebnis schlechtreden dürfen.
    Ich maße mir kein juristisches Urteil an. Jedoch scheint mir ein Hinweis auf andere Rechtsgüter sinnvoll. Wenn sich Betreiber von Fracking-Anlagen auf Gewerbe- und Forschungsfreiheit berufen können, stehen dem Rechte von Anwohnern und anderen Betroffenen gegenüber. Ich denke hierbei an Eigentumsrechte: Durch die Arbeiten in der Erde können Häuser und andere Bauwerke beschädigt werden. Ich denke an körperliche Unversehrtheit: Durch die Arbeiten können gesundheitsgefährdende Umweltschäden auftreten oder zumindest Beeinträchtigungen durch Lärm und Schmutz. Einseitig nur die Rechte der Industrie als im Verfassungsrang stehend zu berücksichtigen verdient Kritik.
  • Die Behauptung, die Methode rentiere sich nicht mehr, ist kurzsichtig. Gegenwärtig ist der Ölpreis so niedrig, dass die Produktionskosten tatsächlich höher liegen und die Förderung nicht oder kaum rentabel ist. Dies war vor einem Jahr anders.
    Von einem Kommentator darf man mehr Weitblick erwarten. Herr Ferber kann sich nicht auf den aktuellen Ölpreis zurückziehen, er muss mögliche Entwicklungen aufzeigen. Und es ist möglich - von vielen wird es sogar erwartet - dass der Ölpreis wieder für das Fracking lukrative Höhen erreicht. Unternehmen werden nicht erst dann mit Fracking beginnen, wenn der Preis hoch genug ist, sondern bereits, wenn sie in absehbarer Zeit einen höheren Preis erwarten.
Herr Ferber hätte das Gesetz nicht als unnötig bewerten dürfen, weil sich die Methode für alle Zukunft selbst erledigt hätte.
Ich finde den Zeitpunkt des Gesetzes passend gewählt. Denn gerade weil sich das Fracking derzeit nicht oder kaum rechnet, ist es günstig, genau jetzt eine fehlende Regelung zu definieren. Ob mit dem Gesetz die Belange aller Betroffenen ausreichend gewürdigt sind, steht auf einem anderen Blatt.