Mittwoch, 22. April 2020

Coronatote vs. Hitzetote - Eine Streitschrift

Bundeskanzlerin Merkel hat ausgeführt, Deutschland dürfe sich nicht in Sicherheit wiegen. Das Coronavirus sei nicht besiegt.


Sie warnte schließlich vor "Öffnungsdiskussionsorgien". Dafür wurde sie scharf kritisiert. Ein Kommentar in der Tagesschau findet die Kritik von Merkel "anmaßend":

Das kann so gesehen werden. Sollte Merkel mit ihrer Äußerung gemeint haben, eine Diskussion über Lockerungen des Lockdown sei überhaupt unnötig, ist muss das als anmaßend gesehen werden.
Ein Kommentar in den Tagesthemen findet Merkels Kritik "unverschämt":


In einer Partei eine Diskussion abzuwürgen, mag im Sinne des Vereinswesens durchgehen. Ein gesellschaftliches Verbot einer Diskussion ist unverschämt. Auch wenn Krisen prädestiniert sind für die Exekutive, muss sie sich dennoch einer demokratischen Diskussion stellen. Diese zu unterbinden oder sogar zu verbieten, verdient schärfste Kritik. Zurecht.

Das sagt das Infektionsschutzgesetz

Zu Beginn der Coronakrise, die von großer Überraschung um das Ausmaß der Virusfolgen gekennzeichnet war, war das harte und schnelle Reagieren zu verstehen. Weder waren die Ansteckungswege noch die Konsequenzen für die Betroffenen klar, so dass in Anbetracht der Lebensgefahr für Erkrankte eine vehemente Maßnahme argumentierbar war.
In der Zwischenzeit hat die Wissenschaft über das Virus einiges gelernt. Es wurden Erfahrungen gesammelt im Umgang mit dem Virus und die Gesellschaft hat die Gefährdung ernst genommen. Doch es ist kaum erkennbar, wie diese Fortschritte bisher in Regierungshandeln ihren Niederschlag gefunden hätten. Weiterhin wird geredet, als ob jede Infektion zum Tode führen würde. Weiterhin wird gehandelt, als ob die gesamte Bevölkerung Träger des Virus und Ansteckungsverdächtig im Sinne §2 Nr. 7 IfSG wäre. Dabei hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Urteil zu Masern festgestellt:
"Beim Krankheitsverdächtigen sind die objektiven Anhaltspunkte angesichts einschlägiger Krankheitssymptome dichter als beim Ansteckungsverdächtigen, bei dem sich die Verdachtslage allein aus dem (möglichen) Kontakt mit infizierten Personen oder Gegenständen ergibt. Beim Kranken (§ 2 Nr. 4 IfSG) und beim Ausscheider (§ 2 Nr. 6 IfSG) besteht demgegenüber Gewissheit über die Aufnahme von Krankheitserregern und damit über das Vorliegen der Gefahr, dass der Erreger auf andere Menschen weiter übertragen werden kann. Das Oberverwaltungsgericht spricht daher zutreffend von einem Stufenverhältnis innerhalb der Legaldefinitionen in § 2 Nr. 4 ff. IfSG. Hierbei stellt der Ansteckungsverdacht im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG die geringsten Anforderungen an den Gefahrensachverhalt."
Das Gericht unterscheidet also zwischen verschiedenen Graden, verschiedenen Stufen der Gefährlichkeit von Personen für Ansteckung anderer. Um als Ansteckungsverdächtiger zu gelten, reichen bereits geringere Anforderungen als z.B. bei Krankheitsverdächtigen - hier müssen beispielsweise Symptome erkennbar sein, die ein Ansteckungsverdächtiger noch nicht zu zeigen braucht (v.a. Inkubationszeit).
Weiter führt das Urteil aus:
"Die Aufnahme von Krankheitserregern ist im Sinne von § 2 Nr. 7 IfSG 'anzunehmen', wenn der Betroffene mit hinreichender Wahrscheinlichkeit Kontakt zu einer infizierten Person oder einem infizierten Gegenstand hatte (Bales/Baumann, a.a.O. § 2 Rn. 13; Schumacher/Meyn, Bundes-Seuchengesetz, 2. Aufl., 1982, § 2 S. 10). Die Vermutung, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, muss naheliegen. Eine bloß entfernte Wahrscheinlichkeit genügt nicht. Demzufolge ist die Feststellung eines Ansteckungsverdachts nicht schon gerechtfertigt, wenn die Aufnahme von Krankheitserregern nicht auszuschließen ist (anders die abweichende Formulierung in § 1 Abs. 2 Nr. 7 des Tierseuchengesetzes - TierSG - zur Legaldefinition des ansteckungsverdächtigen Tieres). Andererseits ist auch nicht zu verlangen, dass sich die Annahme 'geradezu aufdrängt'. Erforderlich und ausreichend ist, dass die Annahme, der Betroffene habe Krankheitserreger aufgenommen, wahrscheinlicher ist als das Gegenteil."
Um als Ansteckungsverdächtiger zu gelten, reicht nicht die Behauptung, wegen einer langen Inkubationszeit und unklaren Kontakten könne nicht ausgeschlossen werden, die Person sei noch nicht angesteckt. Es muss zumindest die Annahme, jemand habe sich bereits angesteckt, wahrscheinlicher sein als das Gegenteil. In der derzeitigen Situation mit dem Conoravirus und dem derzeitigen Handeln der Regierung findet eine solche Abwägung nicht mehr statt. Die weitreichende Kontaktsperre, das Schließen von Geschäften, das Verbot von Besuchen in Heimen und Krankenhäusern stellt einen Generalverdacht dar, dass jeder jeden anstecken könnte.

Kritik an der Regierung

Vor dem Hintergrund, dass die Regierung alle Bewohner des Landes unter einen Generalverdacht stellt, dass sie Maßnahmen setzt und berechtigte Fragen, ob die Maßnahmen so wie getroffen notwendig sind, als "Öffnungsdiskussionsorgien" bezeichnet, muss ihr klar "STOP" entgegen gehalten werden. Es kann nicht angehen, dass sich die Regierung dem Dialog oder der Diskussion verschließt, wie es weitergehen soll.
Zu aller erst ist die Zeitspanne zu berücksichtigen, um die es sich handeln wird. Das RKI stellt zu Recht fest, das Virus sei nicht weg, selbst wenn sich die Infektions- und Sterbezahlen positiv entwickeln:


Bei der Frage, wie lange Maßnahmen also notwendig sein werden, handelt es sich um einen Zeitraum, der mindestens in Monaten zu messen ist. Selbst wenn ein Impfstoff morgen gefunden würde, wäre er auf Grund des Zulassungsverfahrens erst Ende diesen oder Anfang nächsten Jahres verfügbar. Noch gibt es keinen Impfstoff, der in ein Zulassungsverfahren gehen könnte.
Selbst wenn sich die Regierung einer Diskussion über eine Lockerung verschließt, muss von ihr erwartet werden zu klären, wie sie einen Zeitraum von etwa einem Jahr gestalten will. Bisher kommt sie kaum über wenige Tage hinaus. Sie droht lediglich, Lockerungen müssen zurückgenommen werden, wenn sich die Viruslage verschlechtern würde. Gut. Aber sie ist nicht in der Lage oder nicht willens, ein Bild zu zeichnen, wie sie bei Fortschreibung der aktuellen Viruslage die nächsten zwölf Monate gestalten will. Statt dessen feiert sie sich und Merkel und Söder als Helden. Nein, es sind keine Helden. Sie sind Verwalter der Krise, aber keine Gestalter.
Zum anderen ist es so, dass die Lebensgefahr für Erkrankte eben nicht gleichmäßig in der Bevölkerung verteilt ist. Das RKI berichtet, ein Drittel der Toten durch oder mit Corona seien in Heimen gestorben:


Wenn es also Hinweise gibt, dass die Gefahr vom Virus für verschiedene - vielleicht derzeit noch nicht gut greifbare - Personengruppen unterschiedlich ist, muss von der Regierung eine gute Erklärung verlangt werden können, warum sie die gesamte Bevölkerung unter Generalverdacht des Ansteckens stellt.
Die Forderung muss viel stärker sein. Es geht nicht nur um eine Erklärung, warum die in dieser Breite Maßnahmen notwendig sind. Es geht vielmehr darum zu erklären, warum sie jeden weiteren Tag in gleichem Maße notwendig sind. Die Wissenschaft lernt jeden Tag das Virus besser kennen. Die Gesellschaft lernt jeden Tag den Umgang mit den Maßnahmen und wie zielführend die Maßnahmen sind. Nur die Regierung lernt nicht, wie diese Änderungen in politische Aktivitäten übersetzt werden können. Sie führt die selben Erklärungen an wie zu Beginn der Krise. Sie lobt die Bevölkerung inzwischen bis zum Erbrechen für die Disziplin. Doch eines tut sie nicht: sie erklärt nicht, warum die Maßnahmen so bleiben müssen, wie sie sind. Mit dem Lob der Bevölkerung will sie ablenken von ihrem Nichterklären. Mit jedem Tag, wo die Nebenwirkungen der Maßnahmen mehr sichtbar werden, mit jedem Tag, wo die Menschheit mehr über das Virus lernt, muss die Erklärung und Rechtfertigung der Regierung für ihr Handeln stärker, besser argumentiert werden.
Das leistet die Regierung nicht. Sie leistet sich dafür einen Flickenteppich der Maßnahmen. In einem Bundesland dürfen große Läden Teilbereiche abgrenzen, um innerhalb der 800-qm-Beschränkung zu öffnen, in anderen Bundesländern nicht. Gesichtsmasken sollen helfen, andere nicht anzustecken. Aber offenbar ist dies nur in manchen Bundesländern relevant. Dass alle Masken tragen müssen, ohne dass im Gegenzug Tests ausgeweitet werden, um zu ermitteln, wer die Masken überhaupt tragen sollte, setzt dem Flickenteppich nur eine weitere Ebene hinzu. Diesen Flickenteppich mit föderalen Zuständigkeiten zu "erklären", ist eine glatte Themenverfehlung. Sechs, setzen.
Derzeit ist das Argument der Regierung der Schutz von Gesundheit und Leben. Ein valides Argument. Zumindest wenn es um Spaßbäder, Fußballspiele oder das Oktoberfest geht. Es bleibt abzuwarten, wie viele Menschen im Sommer den Hitzetod sterben müssen, weil sie nicht in Schwimmbäder und an Seen dürfen, um sich abzukühlen, bevor die Regierung bessere Argumente für die Maßnahmen und deren Fortdauer liefert. Die Punsch- und Glühweinkocher braucht 2020 jedenfalls kein Wirt auszupacken. Auch hier können wir warten, bis der Beschluss gefällt wurde. Auch hier liefert die Regierung keine Perspektive. Dabei ist Perspektive - kein konkreter Stufenplan auf einem Lösungsweg! - mit das Wichtigste, was in einer Krise notwendig ist.

Freitag, 17. April 2020

Lockdown bis zum Sanktnimmerleinstag

Die Bundesregierung hat am 15.04.2020 Schritte beschlossen, um aus dem bis dahin geltenden Lockdown in langsamen Schritten auszusteigen. Obwohl es Beschlüsse auf Bundesebene gibt, können die Bundesländer von diesen Beschlüssen abweichen, um auf die jeweilige Situation besser eingehen zu können. Die Lockerungen umfassen, wie die AZ berichtet, beispielsweise Geschäfte bis 800 Quadratmetern oder Buchhändler, Fahrrad- und Autogeschäfte (unabhängig von der Größe), die demnächst wieder öffnen dürfen. Dazu hat Stefan Stahl einen Kommentar am 16.04. verfasst:


Stefan Stahl schreibt:
"Doch Deutschland steht vor einem langen Marsch zurück zur Normalität, ob im Handel oder an den Schulen."
Damit ist zu rechnen, auch wenn derzeit die Politik sich um klare Aussagen drückt. Sie gibt einen Ausblick immer nur für die nächsten Tage, vielleicht wenige Wochen. Was fehlt, ist eine klare Perspektive, die der Sehnsucht nach Normalität ein Gegengewicht geben könnte. Stefan Stahl schreibt:
"Die Sehnsucht nach einer raschen Rückkehr zur Normalität wirkt groß. Doch Sehnsucht ist in Corona-Zeiten kein guter Ratgeber. Seiner Sehnsucht nachzugeben, kann tödlich enden. Zur Sehnsucht müssen sich Geduld, Leidensfähigkeit und Umsicht gesellen."
Geduld und Umsicht, ja. Dabei wird als Gegenszenario immer ein überhasteter, übereilter, mithin unvernünftiger Ausstieg dargestellt, wie der Teaser eines Artikels vom 13.04. im Spiegel zeigt:
"Die Bundesregierung will in der kommenden Woche über mögliche Szenarien für den Exit aus dem Lockdown beraten. Schon jetzt warnen Politiker vor einem überhasteten Aussetzen der Maßnahmen."
Als ob es nur diese beiden Pole gäbe: lebensrettend geduldige Lockerungen vs. übereiltem, tödlichem Ausstieg.
Derzeit haben sich die Vorsichtigen durchgesetzt und lediglich kleine Maßnahmen wurden beschlossen. Es ist ja vernünftig, Festivals, Sportveranstaltungen und alle anderen Veranstaltungen zu untersagen, bei denen viele Menschen sich sehr nahe kommen werden. Allerdings bleibt unklar, warum manche Maßnahmen so wie beschlossen beschlossen wurden. Ein paar Beispiele:
  • Geschäfte bis 800 Quadratmetern dürfen öffnen. Die Grenze von 800 qm ist willkürlich. Es gibt kein valides Argument, das die Schließung eines Geschäfts mit 810 qm erklären könnte.
  • Bestimmte Geschäfte dürfen unabhängig von der Größe öffnen, wie Buch- oder Autohändler. Warum die Gefahr in einem 1.000 qm Buchladen eine andere sein sollte als in einem 1.000 qm Elektromarkt, ist nicht einsehbar.
  • Die besonderes strengen Maßnahmen in Bayern begründet Markus Söder mit der Nähe zu Italien. Österreich ist näher an Italien und hat die Geschäfte unter bestimmten Auflagen bereits geöffnet. 
  • In Österreich ist die Flächengrenze für Geschäftsöffnungen 400 qm, in Tschechien 200 qm und in Deutschland 800 qm.
  • In Österreich müssen die Autohändler geschlossen bleiben, in Deutschland dürfen sie öffnen.
  • In Dänemark öffnen die Schulen wieder, in Deutschland bleiben sie geschlossen bzw. es werden nur die Abschlussklassen wieder aktiviert.
Dies zeigt, dass es keine "Killerargumente" für oder gegen einzelne Maßnahmen gibt. Selbst am wissenschaftlichen Fundament entstehen Zweifel, denn was unterscheidet Geschäfte in Deutschland, Osterreich und Tschechien so sehr voneinander, dass Flächenbegrenzungen um den Faktor vier variieren. Dass Autohändler in Deutschland öffnen dürfen, hat eher mit der hiesigen Autoindustrie zu tun und nichts mit dem Virus und seiner Ansteckungs- und Erkrankungsgefahr.
Die Maßnahmen sind politische Maßnahmen. Je unterschiedlicher die Maßnahmen in Regionen und Ländern ausfallen, desto schwächer wird das Argument der Politik, die Maßnahmen müssten so und könnten nicht anders sein. Wenn dann willkürliche Grenzen gezogen werden wie die Größengrenzen, wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis sich Gerichte damit beschäftigen werden. Es wird sehr zweifelhaft sein, dass der Gleichheitsgrundsatz gewahrt wird, wenn ein Damenbekleidungsgeschäft mit 790 qm öffnen darf, das daneben liegende Herrengeschäft mit 810 qm jedoch geschlossen bleiben muss.
Gregor Peter Schmitz hat in der AZ vom 17.04. einen Kommentar veröffentlicht:



Gregor Peter Schmitz schreibt:
"Dennoch gibt es natürlich immer die Wahl, kleinere oder größere Schritte zu machen. Daher muss niemanden befremden, dass es unter den Bundesländern - und ihren Politikern - unterschiedliche Ansichten zum Tempo beim Ausstieg aus dem Stillstand gibt. Immerhin bewegen sich in dieser Krise alle im Neuland, sogar die Wissenschaft."
Das ist richtig. Weiter schreibt er:
"Aber Leben mit der Pandemie wird nicht nur aus Verordnen bestehen, auch aus Vermitteln: zwischen vielen Sorgen und Interessen."
Auch das ist richtig. Doch mit dem Vermitteln hapert es. So gibt die Politik keine wirkliche Perspektive. Wenn die Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung notwendig sind, bis Herdenimmunität erreicht oder ein Impfstoff verfügbar ist, geht es nicht um Wochen, sondern um Monate, vielleicht Jahre. Derzeit gehen Optimisten davon aus, dass ein Impfstoff im nächsten Jahr verfügbar sein könnte. Das wäre wahrscheinlich früher als die Herdenimmunität, die durch gebremste Ausbreitung des Virus erreicht werden kann. Die Politik sagt nicht, ob und wann große Kaufhäuser öffnen dürfen. Sie sagt nicht, wann Restaurants öffnen dürfen. Sie sagt nicht, wie der Sommerurlaub (veilleicht nur in Deutschland) möglich sein soll, wenn Hotels geschlossen bleiben. Es bleibt abzuwarten, wie im Sommer die Stimmung im Lande ist, wenn Badeseen gesperrt bleiben.
Das Bild, das die Politik derzeit vermittelt, ist das einer vorsichtigen und perspektivlosen Politik. Auch wenn Stefan Stahl schreibt, für die Vorsicht müssten wir uns mit Nachsicht bedanken, mag das heute und morgen zutreffen. Doch wenn die Politik zaudernd die Geduld über Gebühr strapaziert, wird die Nachsicht ein Ende finden. Denn weder eine fehlende Perspektive noch die teilweise schwach begründbaren Maßnahmen sind geeignet, die Nachsicht geduldig am Leben zu halten.

Samstag, 4. April 2020

Rechtsstaatspartei? Die Selbstentlarvung der AfD

Die AfD stellt sich selbst in vielerlei Hinsicht als besonders dar. Sie sei patriotisch. Sie sei konservativ. Sie sei Rechtsstaatspartei, wie Jörg Meuthen in einem Tweet darstellte:


Es gibt viele weitere Selbstdarstellungen, die die AfD als die Vertreterin der Rechtsstaatlichkeit behaupten. Ein Artikel der AfD Kompakt, dem Mitgliedermagazin der AfD, titelt am 16.01.2019:
„Wir sind eine Rechtsstaatspartei und stehen uneingeschränkt hinter der FDGO.“
Die Selbstdarstellung geht so weit, dass die AfD sogar eine eigene Seite eingerichtet hat mit dem Titel "Wir sind Grundgesetz". Allerdings widmet sie sich dort nicht dem Grundgesetz als solchem, sondern dem angeblichen Missbrauch, entstanden durch den Bericht des Verfassungsschutzes zur AfD und deren Beobachtung.
Wer sich so der Rechtsstaatlichkeit verschreibt, muss sich auch in ihr messen lassen. Das erfordert natürlich ein Verständnis für die Vorgänge im rechtsstaatlichen Kontext. Das jüngste Beispiel ist das Urteil des EuGH, in dem Polen, Tschechien und Ungarn ein Bruch des EU-Rechts bescheinigt wurde, weil sie nicht die getroffenen EU-Beschlüsse zu Verteilung von Flüchtlingen umgesetzt haben, wie beispielsweise die FAZ berichtet hat. Die Begründung einer Gefahr sei nicht ausreichend erfolgt, wie der EuGH schreibt:
"Er hat jedoch klargestellt, dass sich diese Behörden, um sich auf die vorgenannten Gründe berufen zu können, am Schluss einer Einzelfallprüfung auf übereinstimmende, objektive und eindeutige Indizien stützen müssen, die den Verdacht stützen, dass der betreffende Antragsteller eine solche gegenwärtige oder potenzielle Gefahr darstellt."
Die Rechtmäßigkeit der Weigerung der drei Staaten, den Beschluss umzusetzen, ist also an der nicht ausreichenden Begründung des vorgebrachten Arguments gescheitert.

Wie reagiert die Rechtsstaatspartei?

Eine Reaktion von Beatrix von Storch, der stellvertretenden Bundessprecherin der AfD, ist auf der Website der AfD veröffentlicht. Darin heißt es:
„Tschechien, Ungarn und Polen haben sich geweigert, den Beschluss der EU umzusetzen und für die gescheiterte EU-Asylpolitik in ihren Ländern die Folgen zu tragen.
Das EuGH-Urteil greift in unerträglicher Weise in die Souveränitätsrechte dieser Länder ein und macht die AfD-Forderung nach Reform der EU an Haupt und Gliedern noch dringlicher.
Solch unangemessene Eingriffe in die nationale Souveränität der EU-Mitgliedsstaaten lehnen wir vehement ab. Das Asylrecht gehört in die Hand der Nationalstaaten und nicht nach Brüssel.“
Mitglieder der EU, die die entsprechenden Verträge unterzeichnet haben, um überhaupt Mitglied sein zu können, würden nun ungerecht behandelt, weil ihre "Souveränitätsrechte" beschädigt seien. Es handele sich um "unangemessene Eingriffe in die nationale Souveränität". Es offenbart sich an der Parteispitze ein grundlegendes Unverständnis für die Bindungswirkung von Verträgen. "Pacta sunt servanda" (lat.; dt. Verträge sind einzuhalten) ist Stoff für jede Grundlagenveranstaltung, die rechtlichen Inhalt behandelt, ob an der Schule oder der Universität.
Beatrix von Storch wird auch von der Fraktion der AfD im Bundestag zitiert:


Hierbei wird überhaupt verzichtet, auf das Urteil inhaltlich einzugehen, es wird die bekannte Linie gefahren, Asylrecht sei in nationalen Händen besser aufgehoben als auf Ebene der EU.
Malte Kaufmann greift zu gröberen Worten, als er in seinem Tweet das Urteil als "Irrsinns-Urteil" bezeichnet:


Gottfried Curio, Sprecher der Fraktion im Bundestag, erklärt über die Website der AfD im Bundestag:
"Die Weigerung Ungarns, Polens und Tschechiens, Migranten per Umverteilungsschlüssel aus Griechenland und Italien zu übernehmen, war gedeckt von den klar umrissenen Dublin-Regeln, wonach das Erstzutrittsland in die EU bei einem Asylverfahren zuständig ist. Die Ablehnung der Umverteilung geschah zudem im Interesse und mit dem Willen der jeweiligen Bevölkerung."
Und weiter führt er aus, die "rechtliche Bevormundung von Staaten durch eine EU" sei abzulehnen. Ferner nehme die Demokratie "Schaden, wenn nicht mehr der Willen des Volkes, sondern der ideologische Standpunkt von Institutionen zum Maßstab des Handelns genommen" werde.

Conclusio

Nun sei es der AfD und allen anderen Personen oder Institutionen unbenommen, Vorkommnisse wie solche Urteile des EuGH politisch zu bewerten. Allerdings handelt es sich bei den Äußerungen der AfD um Bewertungen, die gar nicht auf den Gehalt des Urteils eingehen, sondern lediglich die daraus entstehenden Folgen und Eindrücke diskutieren. Die AfD offenbart damit unwillentlich und vielleicht aus unwissentlich, wie wenig sie von Rechtsstaatlichkeit versteht. Sie ist bestenfalls im Kindergarten der Rechtsstaatlichkeit angekommen.