Dienstag, 18. Juni 2019

Gauck im Interview

Michael Stifter hat in der Augsburger Allgemeinen vom 18.6. einen Beitrag geliefert zur Debatte, die das Interview mit Joachim Gauck im Spiegel ausgelöst hatte:


Die Überschrift drückt bereits aus, welche Vorwürfe gegen Gauck erhoben wurden. Und das, wo er doch lediglich "für 'erweiterte Toleranz in Richtung rechts'" wirbt. Michael Stifter bringt ein plakatives Beispiel der Reaktionen:
"'Ey Gauck, mit Nazis regiert man nicht.' Besser als mit diesem kurzen Satz kann man kaum beschreiben, wie es um die Debattenkultur in unserem Land bestellt ist. Geschrieben hat ihn nicht irgendein anonymer Internet-Troll, sondern Tiemo Wölken, Europa-Abgeordneter der SPD."
Zur von Gauck geforderten erweiterten Toleranz schreibt er weiter:
"Das tut er tatsächlich und darüber kann, darüber muss man streiten."
Und er nähert sich der Debatte mit der Frage, was Gauck tatsächlich gemeint habe:
"'Wir müssen zwischen rechts – im Sinne von konservativ – und rechtsextremistisch oder rechtsradikal unterscheiden', stellt der 79-Jährige klar. Das kann nun nur missverstehen, wer es missverstehen will. Und genau da liegt das Problem. Es gibt heute in allen Lagern zu viele Leute, die nur darauf lauern, Zitate des politischen Gegners für ihre Zwecke zu missbrauchen."
Ein guter Zugang. Letztendlich dreht sich die Debatte um die Frage, was unter dem von Gauck verwendeten Begriff der Toleranz zu verstehen sei. Der im Beitrag zitierte Satz, "'Toleranz enthält das Gebot zur Intoleranz gegenüber Intoleranten'" ist nicht nur schwurbelig. Er fällt zudem in den Erzählbereich der AfD, die gern davor warnt, der Tolerante (im Sinne Gutmensch) werde gegen den Intoleranten (im Sinne Islamisierer) letztendlich unterliegen.
Der verkrampfte Umgang mit den Verlautbarungen und dem Gebaren der AfD, die "Hilflosigkeit der etablierten Parteien im Umgang mit der AfD" ist nicht nur "das Ergebnis der eingangs erwähnten kaputten Diskussionskultur". Es ist umgekehrt: Weil die etablierten Parteien kein Mittel finden, den flachen Lösungen, dem populistischen Auftreten, dem schlagkräftigen Auftritten in sozialen Medien, den behaupteten Zusammenhängen, Verschwörungen etc. der AfD etwas wirksames entgegen zu setzen, entstand eine Debattenunkultur, in der sich Nazis mit linksgrünversifften Gutmenschen um die Deutungshoheit keilen und dabei lediglich einen Keil zwischen sich treiben.
Manche Punkte, die der AfD zu Gute kommen und die sie selbst anspricht, sind tatsächliche Probleme bzw. ungelöste oder nicht gut gelöste politische Aufgaben. Die AfD spricht sie an und verbindet das mit einem Hinweis auf die systematische Unfähigkeit oder Unwilligkeit der etablierten Parteien. Letzteres ist Quatsch. Das macht aber den Hinweis auf bestimmte Probleme nicht ebenfalls zum Quatsch. Die AfD braucht diese Verbindung, um ihrer Geschichte treu bleiben zu können, sie sei die einzige Alternative aus dem Gestrüpp arrivierter Politik. Der erwartbare Aufschrei der Etablierten öffnet der AfD die Tür zu einer weiteren Geschichte: dass man nicht mehr sagen dürfe, was doch gesagt werden müsse.
Michael Stifter dazu:
"Wenn der Altbundespräsident sagt, man müsse 'darüber sprechen können, dass Zuwanderung in diesem Maße nicht nur Bereicherung ist', stimmt das ja. Aber er unterstellt damit eben in AfD-Manier, dass man das bislang nicht darf. Und das ist Unsinn. Politiker aller Parteien haben es schließlich in den Wahlkämpfen der vergangenen Jahre getan."
Und wieder der AfD auf den Leim gegangen. Hätte Gauck doch bloß gesagt, man müsse darüber sprechen oder man solle darüber sprechen. Michael Stifter weiter:
"Und doch macht Gauck einen entscheidenden Fehler, indem er teilweise die Märtyrer-Erzählung der Rechtspopulisten übernimmt. Wenn er beispielsweise appelliert, 'nicht jeden, der schwer konservativ ist, für eine Gefahr für die Demokratie zu halten und aus dem demokratischen Spiel herauszudrängen', dann stimmt das natürlich. Aber einige AfD-Leute sind eben nicht 'schwer konservativ', sondern rechtsradikal. Wenn Abgeordnete Hitler-Bilder herumschicken oder den Holocaust verharmlosen, ist dann halt Schluss mit Toleranz."
Die Bandbreite der AfD-Wähler oder -Versteher ist vermutlich so breit wie die anderer Parteien auch. Sie deshalb alle als Nazis zu bezeichnen, deshalb schlichtweg falsch. Und ebenso falsch ist es - wie die AfD es tut - alle als Nicht-Nazis zu bezeichnen. Die Ich-Erzählung der AfD beschreibt die Partei als konservativ, patriotisch, national. Die Grenzen zu einem ins Rechtsextreme reichenden Verständnis von konservativ, patriotisch, national sind nicht klar zu ziehen. Immerhin haben auch andere Parteien inzwischen Heimat als Politikfeld entdeckt - und sind damit der AfD und ihrer Themensetzung hinterher gelaufen.
"Toleranz in Richtung rechts" kann nur heißen:

  • anerkennen, dass es solche rechten Ansichten gibt
  • anerkennen, dass teilweise aggressive Äußerungen der Rechten vorkommen
  • anerkennen, dass rechte Politikvorschlägen nur demokratisch begegnet werden kann

Was jedoch aus Toleranz gegenüber Rechten nicht passieren darf:

  • rechte Äußerungen unwidersprochen stehen lassen
  • rechte Lösungsvorschläge für zielführend zu halten, selbst wenn man der Problemdarstellung noch folgt
  • die Erwartung, sachliche Gespräche mit Rechten würden diese zum Umdenken bewegen 
Fehlgeleitete Intoleranz gegenüber Rechten ist es, wenn dadurch die Märtyrer-Erzählung der Rechten neue Nahrung erhält. Wird ein Bewerber um den Bundestagsvizeposten nicht gewählt, weil er von den Rechten ist, bedient das die Erzählung. Wird er nicht gewählt, weil er selbst in seinen Ansichten und Handlungen so rechts ist, dass das mit dem Wesen und Geist der Parlaments nicht verträglich ist, muss sich die AfD das gefallen lassen - auch wenn sie sich daraufhin als Märtyrer stilisiert. Oder wenn parlamentarische Anträge der AfD abgelehnt, inhaltlich gleiche anderer Parteien anschließend angenommen werden.
Man darf in Deutschland über alles reden. Über den Quatsch rechter Politiker und über missverständliche Aussagen ehemaliger Präsidenten. Das sollte in unserer demokratischen DNA sein und kein Akt der Toleranz.

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