Sonntag, 4. März 2018

Volksparteien - gebraucht oder doch nicht?

Walter Roller hat in der Augsburger Allgemeinen am 3.3. einen Leitartikel veröffentlicht, in dem er die Lage und Zukunftsaussichten der Volksparteien analysiert:


Walter Roller schreibt:
"Die große Volkspartei, die möglichst viele Teile und Interessengruppen der Gesellschaft unter ihrem Dach versammeln kann, ist Geschichte. Die klassischen Milieus erodieren – der SPD laufen die Arbeiter, der 'modernisierten' Union konservativ denkende Bürger davon. Die Individualisierung der Gesellschaft geht mit der Auflösung tradierter Parteienstrukturen einher und schwächt die Bindekraft von SPD und Union. Mit den 'Großen' geht es bergab, mit den kleinen, vielfach nur partiellen Interessen verpflichteten Parteien bergauf."
Postengeschacher und stellenweise Abgehobenheit könnte man noch hinzufügen. Für die SPD analysiert Walter Roller:
"Der Niedergang der SPD hat etliche hausgemachte Ursachen. Sie hat seit langem ein Führungsproblem und kein klares Profil. Sie setzt häufig auf falsche Themen und redet ihre Erfolge selber klein."
Und für die Union:
"Doch auch sie ist vor einem Absturz in die Regionen unterhalb der 30 Prozent nicht mehr gefeit. Was der SPD schon vor vielen Jahren durch Grüne und Linkspartei widerfahren ist, bekommt nun die Union an ihrem rechten Rand in Gestalt der konkurrierenden AfD zu spüren."
Eine Volkspartei in Sinne der deutschen Politik versucht, "möglichst viele Teile und Interessengruppen der Gesellschaft unter ihrem Dach [zu] versammeln". Entstanden sind sie im Nachkriegsdeutschland, Wikipedia nennt diese Beispiele:
"Beispiele hierfür sind in Deutschland die CDU/CSU, die sich von Anfang an als überkonfessionelle Volkspartei verstand (im Unterschied zum katholischen Zentrum), sowie die SPD, die sich durch das Godesberger Programm von der Interessenpartei der Arbeiterschaft zur Volkspartei wandelte, indem sie sich z. B. erstmals ausdrücklich auch an Christen und Kleinunternehmer wandte."
Das Konzept der Volkspartei ging auf. Zum Einen war die Auswahl an politischen Parteien eingeschränkt, zum Anderen trafen die Volksparteien mit ihren Angeboten ihre Zielgruppen. Das resultierte in Wahlergebnissen mit 40% bis sogar über 50% für die Volksparteien:


Der Niedergang der Volksparteien ist kein neues Phänomen. Die Grafik zeigt, wie seit den 1970er Jahren ein steter Abwärtstrend der Wahlergebnisse bei Bundestagswahlen zu erkennen ist. Im gleichen Zeitraum kam es zu einem Rückgang der Wahlbeteiligung von über 90% auf unter 80%. Walter Roller nennt "Individualisierung der Gesellschaft" als einen wesentlichen Grund. Dem kann nicht widersprochen werden. Emanzipation von den Eltern, zunehmendes Selbstbewusstsein und damit einher gehend Erosion der "klassischen Milieus" führen zu einer größeren Meinungsvielfalt, zu einem höheren Anspruch an eine Interessensvertretung - wie sie Parteien sein sollen - und damit zu der grundsätzlichen Frage, wie eine Interessensvertretung, eine Volkspartei diese Vielfalt noch einfangen soll.
In der Marktforschung wurde vor Jahren schon das frühere Konzept der "Zielgruppe" aufgegeben. Im Laufe der Zeit konnten die Segmentierungen nach Alter, Familienstand, verfügbarem Haushaltseinkommen, geografischem Gebiet etc. immer weniger Erklärungen liefern. Deshalb wurde das Konzept der Zielgruppe abgelöst durch das Konzept der "Lebensstile". Andreas Steinle gibt in seinem Artikel "Die Zielgruppe ist tot – es lebe der Lebensstil" ein plakatives Beispiel:
"Sie sind im selben Jahr in England geboren, sind geschieden, haben wieder geheiratet. Ihre Kinder sind erwachsen und ihr Vermögen ist beträchtlich. Beide sind sehr populär. Die soziodemografischen Charakteristika könnten nicht ähnlicher sein. Sie bilden eine 'Zielgruppe' – und könnten dennoch nicht verschiedener sein. Es handelt sich um Prinz Charles und den Rockmusiker Ozzy Osbourne. Schwer vorstellbar, sie gemeinsam in einer Bar anzutreffen, wo sie über den letzten Urlaub reden."
Walter Roller stellt fest, dass die Milieus erodieren. Dazu erneut Andreas Steinle:
"Die Milieuzugehörigkeit verliert jedoch vor dem Hintergrund des Megatrends Individualisierung an Bedeutung. Was sagt die Kategorie Einkommen aus, wenn beispielsweise der 'Performer' (Sinus-Milieus) beschließt, für ein Jahr auszusteigen, um in Afrika ein Hilfsprojekt zu unterstützen oder ein Start-up zu gründen? Was bedeutet Bildung, wenn Schul- oder Studienabbrecher wie Mark Zuckerberg in kürzester Zeit Milliardäre werden können? Sicher sind solche exponierten Persönlichkeiten die Ausnahme, doch in abgeschwächter Form werden eben überall die Ausnahmen zur Regel."
Waren Milieus etwas, in das man hineingeboren wurde, sind Lebensstile etwas Selbstgewähltes. Sie sind deshalb potentiell vielfältiger. Sie sind im Zeitablauf variabel, die Stilzugehörigkeit Einzelner kann sich ändern, mitunter kurzfristig. Und: eine heute akzeptierte Einteilung unterschiedlicher Lebensstile kann morgen als nicht mehr zutreffend verworfen werden.
Schaut man sich die Äußerungen in der Politik an, herrscht noch die Idee der Milieus vor. Der sprichwörtliche "kleine Mann" ist Angestellter oder Arbeiter mit einem nicht hohen Einkommen. Er wohnt in durchschnittlichen Gegenden. Oder die Leistungsträger, eher Akademiker, meist selbständig oder Unternehmer. Wenn die Marktforschung von solchen Gruppierungen abgerückt ist, weil sie nicht mehr funktionierten, warum hält die Politik an ihnen fest?
Walter Roller bietet vier Punkte an, die die Volksparteien bearbeiten müssten, um "Stützpfeiler unserer Ordnung [zu] bleiben und mit ihrer noch immer breiten Verankerung im Volk mehr als andere zum (gefährdeten) Zusammenhalt der Gesellschaft" beizutragen:
"Erstens die Bereitschaft zur inhaltlichen und personellen Erneuerung, die für frischen Wind und klarere Konturen sorgt. Zweitens: Eine Politik des sozialen Ausgleichs, die nicht nur Not lindert, sondern Aufstiegschancen gewährleistet und auch die hart arbeitende Mitte im Auge hat. Drittens: die Wiederherstellung des Vertrauens in den Sicherheit bietenden Rechtsstaat. Viertens: eine Migrationspolitik mit Herz und Verstand, die das Land nicht überfordert und die Probleme konsequent anpackt. Im Umgang mit dieser zentralen Herausforderung wird sich das Schicksal der Volksparteien letztlich entscheiden."
Etwas umformuliert: Walter Roller glaubt, alter Wein in neuen Schläuchen (inhaltliche und personelle Erneuerung) würde reichen. Er glaubt weiterhin an das Konzept der Milieus ("die hart arbeitende Mitte"). Und er glaubt, die Lösung liege in einer konservativen Politikorientierung (Rechtsstaat, Migrationspolitik).
In allen vier Punkten liegt Walter Roller falsch. Probleme mit dem "Sicherheit bietenden Rechtsstaat" sowie mit der Migrationspolitik sind aktuelle Zeitphänomene. Sie weisen auf Problemkerne hin, ohne jedoch die Größe zu erreichen, die lautstark propagiert wird. Man dürfe Probleme nicht kleinreden. Man muss sie aber auch nicht großreden. In einer vielfältigen Parteienlandschaft wird es immer Parteien (am Rand) geben, die jedes dieser Probleme mit mehr Härte, mit mehr Durchgreifen angehen wollen. Wenn die Volksparteien hier ihre Rettung suchen, werden sie zum Nachläufer, der nach der zufällig gerade lautesten Pfeife tanzt. Selbstverständlich muss Politik aktuelle Probleme lösen und darf nicht abwarten, bis sie sich von selbst lösen. Doch das ist kein Garant für den Bestand der Volksparteien.
Eine personelle und inhaltliche Erneuerung muss ins Leere laufen, wenn die Basis der Wähler, die eine milieuorientierte Partei suchen, immer kleiner wird. Die Erneuerungen mögen zu einer zeitweiligen Beruhigung der Situation beitragen können. Sie würden jedoch am strukturellen Problem der Volksparteien nichts ändern. Die Historie zeigt ja: nicht nur der Zuspruch zu den Volksparteien nahm ab und kleine Parteien waren die Gewinner. Der Anteil derer, die keiner Partei ihre Wählerstimme geben wollten, stieg.
Die Diskussion um Volksparteien wird nicht umhin kommen, sich von historischen Wahlergebnissen abzukoppeln. Sie wird eine neue Zielgröße für den Wählerzuspruch in der Mitte definieren müssen. Man wird sehen, ob er bei 20% oder vielleicht 30% liegen wird. Die Volksparteien werden nicht umhin kommen, sich zu fragen, wen sie ansprechen möchten mit ihrer Politik und wie sie dieses "Wen" definieren wollen. Alte Paradigmen - wie das der Union, rechts von ihr dürfe niemand existieren - müssen hinterfragt und gegebenenfalls über Bord geworfen werden. Sonst ziehen sie diejenigen mit in die Tiefe, die nicht loslassen können. Politische Inhalte, wie Walter Roller sie fordert, werden keine langfristige Lösung für die aktuellen Probleme der Volksparteien sein. Sie mögen für eine in die "gute alte Zeit" zurückblickende konservative Partei attraktiv sein. Für eine moderne weniger. Für eine "klassische" SPD sind sie ohnehin nicht kompatibel. Walter Roller erweist sich mit seinem Leitartikel nicht als Fürsprecher der Volksparteien, sondern als Proponent einer Hinwendung zum (rechten) Konservativismus.

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