Montag, 15. Juli 2019

Dekadenz aus Sicht der AfD

Wolfgang Schütz hat in der Augsburger Allgemeinen vom 13.7. einen gelungenen Kommentar veröffentlicht, warum Heterosexualität nicht normal sei. Er schrieb zu den Entwicklungen der letzten Jahre, die unter Anderem eine Abkehr von Homosexualität als Krankheit oder Straftat sowie die Ehe für alle brachten:
"Sind Masse und Heftigkeit der Intoleranz auch weniger geworden – entschiedene Ablehnung wird spätestens dann laut, wenn vermeintlich die Grenzen verwischt werden zu dem, was doch normal sei und als solches auch hervorgehoben bleiben müsse: die Beziehung zwischen Mann und Frau mit der Perspektive auf Vater, Mutter, Kind – 'Keimzelle der Gesellschaft', die traditionelle Familie."
Weiter schreibt er:
"Denn vor alle Erwägungen, was durch die kulturelle Prägung in unserem Alltag als Normalität erscheint, und vor allem vor alles Abwägen, was die Mehrheit in unserer Gesellschaft als Normalität empfindet, hat schon das Grundgesetz das höchste Prinzip gestellt: die Würde des Menschen. Und das meint gerade auch hier das Ideal: die Freiheit des Einzelnen in seinem Leben und Lieben – insofern er oder sie damit nicht die Würde eines anderen verletzt. Übersetzt heißt das: Nein, nicht Heterosexualität ist in dieser Gesellschaft normal – aber freilich auch nicht Homosexualität. Normal soll die Freiheit des Einzelnen, sollen die unterschiedlichen Lebensentwürfe und Liebesmodelle sein. Insofern also muss die Absage gegen eine verbreitete Stammtischparole deutlich ausfallen: Nein, es ist nicht genug mit der Gleichberechtigung, solange sich Homosexuelle nicht genauso 'normal' fühlen wie Heterosexuelle."
Richtig, normal ist nicht, was die Mehrheit so empfindet, sondern Normalität aus gesellschaftlicher Sicht ist ein viel höheres Gut. An diesen höchsten Maßstäben muss sich Politik orientieren. Diese höchsten Maßstäbe muss sich jeder Einzelne vergegenwärtigen.

Der Leserbrief von Wolfgang Kahl

Wolfgang Kahl hat den Artikel von Wolfgang Schütz zum Anlass genommen, einen Leserbrief zu schreiben:


Nach Wolfgang Kahl sei normal, "was über Jahrtausende in der Menschheitsgeschichte - von kirchlichen bzw. religiösen Institutionen getragen und manifestiert und nicht zu vergessen auch im Tierreich - Bestand hat". Was zähle, sei dass es "für den Fortbestand der Art unerlässlich war und ist". Er hält die "von der Natur erschaffene Form von Homo- und Transsexualität" für "nicht weniger normal". Für nicht normal hält er die "von Politikern und Medien vor allem linksgrüner Couleur" hochgespielte Zuspitzung, "wer heterosexuell ist, ist nicht normal bzw. sozusagen nicht 'in'". Er sieht "spätrömische Dekadenz" heraufziehen ob der "Agonie", mit der "dieses 'normale' Thema ständig 'beschworen' wird".
Interessant, dass Wolfgang Kahl kirchliche und religiöse Institutionen als das Normale definierende benennt. Denn Wolfgang Kahl ist 2. stellvertretender Vorsitzender des AfD-Kreisverbandes Augsburg Land. Die AfD behauptet an anderer Stelle, die Kirche stelle sich auf die Seite der Mächtigen:
"Der organisierte Protestantismus sei zum politischen Akteur verkommen und stelle sich bewusst auf die Seite der Mächtigen. Das zeige sich an deren Einsatz für die Klimarettung, am Umgang mit der AfD, an der Flüchtlingshilfe und an der Befürwortung der 'Homo-Ehe'."
Interessant, dass Wolfgang Kahl ein hochgespieltes Thema sieht. #Gendergaga sozusagen. Wo man doch sagen müsse, was nicht mehr gesagt werden dürfe, will er bei diesem Thema ein Rede-, wenn nicht gar ein Behandlungs- oder Bearbeitungsverbot erteilen.
Dabei übersieht er, dass Homo- und Transsexuelle eben noch nicht normal leben können. Sie sind Widerständen ausgesetzt, Ablehnung. Es ist für viele noch nicht normal, wenn zwei Männer oder zwei Frauen sich lieben und dies in der Öffentlichkeit zeigen. So viel ist noch nicht normal, dass wir als Gesellschaft weiter darüber sprechen müssen. Auch wenn die AfD das anders sieht.

Der Kreisverband der AfD wurde zur Stellungnahme zu diesem Beitrag aufgefordert.

Samstag, 13. Juli 2019

Orbans Ungarn, der Exoplanet

Wikipedia definiert einen Exoplaneten so:
"Ein Exoplanet, auch extrasolarer Planet, ist ein planetarer Himmelskörper außerhalb (griechisch ἔξω) des vorherrschenden gravitativen Einflusses der Sonne, aber innerhalb des gravitativen Einflusses eines anderen Sterns oder Braunen Zwergs."
Das Interview von Margit Hufnagel in der Augsburger Allgemeinen vom 13.07. mit dem ungarischen Außenminister Peter Szijjarto gibt die Referenz dazu:


Szijjarto zu Migration

Bereits zu Beginn des Interviews wird klar:
"Das einzige, was für uns wichtig ist, ist der Rückhalt der ungarischen Bevölkerung. […] Politik ist dafür da, den Bedürfnissen des Volkes gerecht zu werden. Und die Ungarn haben eine ganz klare Meinung: Illegale Migranten dürfen das Land nicht betreten."
Rückhalt ist wichtig, sofern er seinen Ausdruck in Wählerstimmen findet. Migranten sind der Sündenbock, den Orbán schießt, um dem Volk, den wahren Ungarn zu gefallen. Dabei setzt Ungarn auf ein einziges Pferd:
"Klar ist: Wir werden die EU künftig noch stärker dazu drängen, die Migration in die EU zu stoppen. Wir dürfen die Zuwanderung nicht länger managen, sondern müssen sie beenden."
Selbst auf Rückfrage, ob dies ernst gemeint sei, bekräftigt Szijjarto:
"Ja, wir wollen sie stoppen. Denn sie ist nicht nur ein Sicherheitsrisiko für unsere Länder, sondern auch ein Risiko für die europäische Kultur."
Ohne selbst zu bemerken, dass er sich mit einer solchen und in weiteren Passagen ausgedrückten Haltung bereits abseits der europäischen Kultur befindet. Es ist ohnehin unklar, ob er überhaupt in der Lage wäre, eine solche zu definieren. Denn das rechte Narrativ der europäischen Kultur, die verteidigt werden müsse, ist angesichts der Unterschiedlichkeiten innerhalb Europas eine Chimäre. Eine solche europäische und damit christliche Kultur will er jedoch nicht, wie er selbst beweist:
"Ja, natürlich müssen wir denen helfen, die in Not sind. Aber wir schaffen uns keine Probleme, wo eigentlich keine sind. Das heißt, die Hilfe muss dort stattfinden, wo die Menschen leben: in den christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten und im Osten."
Hilfe will er nur denen angedeihen lassen, die in christlichen Gemeinschaften im Nahen Osten und im Osten leben. Keine Hilfe für Afrika, das liegt im Süden. Keine Hilfe sonstwo. Zu den Menschen, die aus Afrika kommen wollen, aber von Salvini nicht an Land gelassen werden, meint Szijjarto:
"Das ist eine sehr gute Entscheidung von Herrn Salvini. Er hat meinen vollen Respekt. Wir haben dafür gesorgt, dass die EU-Außengrenze mit einem Zaun geschützt wird. Herr Salvini tut sein Bestes, das Gleiche auf dem Meer zu tun. Und ausgerechnet dafür wird er angegriffen. Das ist doch heuchlerisch. Es darf den Booten der Hilfsorganisationen nicht erlaubt werden, einen europäischen Hafen anzufahren. Das sind Schlepper."
Die unsägliche Gleichsetzung von Hilfsorganisationen mit Schleppern wird wenig überraschend auch von Szijjarto geteilt. Ebenso wenig überrascht seine Verbundenheit mit Salvini, mit dem er sich Seit an Seit gegen Feinde kämpfen sieht. Dabei könne er sich auf das Volk stützen:
"In Ungarn haben die Menschen sehr deutlich gemacht: Wir wollen bei der Verteilung von Flüchtlingen nicht mitmachen. Und das werden wir auch nicht. Verpflichtende Quoten für die Aufnahme von Migranten sind für uns nicht hinnehmbar, das werden wir niemals akzeptieren."
Selbst auf den Hinweis von Margit Hufnagel hin, dass damit die Anlandeländer wie Griechenland im Stich gelassen werden, beharrt Szijjarto auf seiner nationalistischen Position:
"Es ist das Recht unseres Landes, dass wir selbst entscheiden, wen wir in unser Land lassen und wen nicht, mit wem wir zusammenleben möchten und mit wem nicht."
Und bestärkt auf die Frage, ob er mit einer solchen Haltung überhaupt noch europäische Werte teile:
"Noch einmal: Wir sehen es als unsere Pflicht, die Sicherheit unserer Bevölkerung zu garantieren."
Dabei hätte er die Frage einfach beantworten können: Nein! Nein! Nein! Das wäre ehrlich. Doch damit hat es Szijjarto nicht. Er bringt zudem Sicherheit der Bevölkerung als den europäischen Wert. Einen klareren Beweis der Engführung rechter Politik und damit der Unehrlichkeit gegenüber den existenten Problemen hätte Szijjarto nicht geben können. Um sich selbst vor einem Vorwurf, er sei rechts, ins Konservative retten zu können, führt er aus:
"Wenn Sie sich den Ausgang der Europawahl anschauen, dann sehen Sie: Viele Parteien, die Zuspruch vom Wähler erfahren, befürworten eine strikte Flüchtlingspolitik: Fidesz hat in Ungarn 53 Prozent der Stimmen erhalten, die polnische 'Recht und Gerechtigkeit' (PiS) 45 Prozent, die Österreichische Volkspartei 34 Prozent und die Lega in Italien kam auf 34 Prozent. Das sollte die EU berücksichtigen. Und übrigens sollte da auch der Europäischen Volkspartei (EVP) zu denken geben. Die hat sich meiner Meinung nach zu weit nach links bewegt."
Vier Beispiele sind seiner Meinung nach ausreichend, um die EU zu verändern. Dass er dabei die ÖVP vereinnahmt und sie, nicht die FPÖ, auf eine Linie stellt mit Salvinis Lega, ist mindestens grenzwertig, wenn nicht eine Unverschämtheit - selbst wenn sich die ÖVP unter Sebastian Kurz gewandelt hat und Verteilungsquoten ebenfalls ablehnt.

Szijjarto zu Wirtschaft

Szijjartos Weisheiten reichen über die Flüchtlings-, Migrations- und Asylthematik hinaus. Für ihn ist Ungarn der Quell von Wohlstand:
"Die zentraleuropäischen Länder werden mehr und mehr zum Kraftzentrum der EU. Das hat schon alleine ökonomische Gründe: Ungarn überflügelt den europäischen Durchschnitt, was das Wirtschaftswachstum angeht. Uns ist es gelungen, den Strukturwandel so zu gestalten, dass er unsere Wirtschaft angekurbelt hat. Das macht uns stark. Im vergangenen Jahr war das Handelsvolumen zwischen Deutschland und den vier Visegrad-Ländern 74 Prozent höher als das Handelsvolumen zwischen Deutschland und Frankreich. Wir tragen zum Erfolg Europas bei. Das zeigt doch deutlich, dass sich die Achsen verschieben."
Dabei übersieht er, worüber beispielsweise Heise berichtet hat:
"Interessant ist nicht nur, dass Ungarn ebenso wie andere europäische Länder Auswanderungsland ist, also darauf angewiesen ist, dass andere Länder ihre Grenzen nicht verschließen. Gleichzeitig findet dadurch eine Abwanderung von Menschen mit hoher Bildung, aber auch von nicht gut ausgebildeten Niedriglöhnern statt, die anderswo hoffen, besser verdienen, mehr erreichen oder überhaupt angenehmer leben zu können. Über 5 Prozent der Ungarn im arbeitsfähigen Alter leben im EU-Ausland."
Wobei die Auswanderer nicht Migranten genannt werden dürften, weil sie ja keine illegalen Migranten seien und als Arbeitskräfte in anderen europäischen Ländern zum Erfolg beitrügen.
"Die Wirtschaft brummt, die Arbeitslosigkeit ist auf 3,6 Prozent gesunken. Die ausgewanderten Arbeitsmigranten wollen aber (noch) nicht zurück, gleichzeitig vergreist auch Ungarn, es gibt weniger Kinder und mehr alte Menschen. Ungarn hat wie Polen eine der niedrigsten Fertilitätsraten. Die EU-Kommission warnte letztes Jahr, dass das Wirtschaftswachstum bei geringer Produktivität zwar zu höheren Löhnen, aber auch zu einem Fachkräftemangel führe, andererseits könnten höhere Löhne auch die Abwanderung reduzieren, aber wiederum den Wirtschaftsstandort gefährden.
Die ungarische Regierung versuchte, die Fertilität durch staatliche Maßnahmen anzuheben, was aber nicht gefruchtet hat. Um den Brain Drain einzudämmen, wurde versucht, Studierende nicht aus dem Land zu lassen, die gehen nun schon zum Studienbeginn ins Ausland, wenn sie können. Schließlich wurde versucht, durch vereinfachte Visa- und Passvergaben Angehörige der ungarischen Minderheiten aus den Nachbarländern anzulocken. Aber auch das brachte nicht viel."
Wirtschaftswachstum, Arbeitslosenquote, Exporterfolge sprächen für den Erfolg Ungarns. Das ist so kurzsichtig wie sich angesichts des Klimawandels über den sonnigen Sommer zu freuen. Ungarn hat ein Problem, das sich in den kommenden Jahren verschärfen wird. Junge gut ausgebildete oder Junge mit dem Potential für gute Ausbildung verlassen das Land: Brain Drain. Das beschleunigt Orbán noch mit der Vertreibung der Central European University, die von George Soros gegründet wurde.

Exoplanet Ungarn

Eingangs habe ich die Definition eines Exoplaneten dargestellt. Er müsse sich außerhalb des Einflusses einer Sonne und innerhalb des Einflusses eines braunen Zwerges aufhalten. Nach dem Interview mit Szijjarto wird klar, dass Ungarn ein solcher Exoplanet ist:
  • außerhalb des Einflusses europäischer Werte, wie sich an den menschenfeindlichen und nationalistischen Äußerungen zeigt,
  • aber innerhalb des Einflusses eines braunen Zwergs - in diesem Fall Orbán - der Kleptokratie und Rechtslastigkeit als politisches Mittel ansieht, und sich damit wiederum außerhalb europäischer Werte stellt.
Das Ungarn von Orbán ist damit ein Perpetuum-Mobile-Exoplanet. 

Respekt für Margit Hufnagel, dieses Interview mit Szijjarto ausgehalten zu haben.